Kapitel 6
Stella Wittmann
„Sei nicht so schüchtern, Stella. Setze dich zu uns, wir werden dich schon nicht beißen",
fordert Liam mich auf. Wieder fallen alle ins Gelächter ein. Lachen Sie über mich oder über etwas anderes?
Natürlich lachen sie über mich. Höchstwahrscheinlich finden sie mein Hellokitty Hemd zutiefst berührend. Am liebsten würde ich nach oben rennen und mir etwas Erwachsenes anziehen, aber das würde noch viel mehr auffallen.
Zögernd setzte ich mich neben Ella und dem Chinesen namens Charlie hin.
„Na, Charlie, was treibst du so, wenn du alleine bist?" Bringt Ella das Gespräch freudig ins Rollen und klopft ihm dabei freundschaftlich auf die Schulter. „Wieso willst du das wissen?" „Na ja, du bist ziemlich oft alleine, deswegen will ich wissen, was Sache ist", meint sie. „Na ja. Ganz alleine bin ich nicht immer. Da ist noch jemand anderes."
„Wer würde denn, mit dir freiwillig Zeit verbringen wollen?", neckt Liam ihn. „Wenn du wüsstest", antwortet er mit einem Kopfschütteln. „Nun sag schon. Was treibst du die ganze Zeit?", bohrt Ella weiter. „Das habe ich noch nie jemandem erzählt",
fängt Charlie an. Seine Stimme ist zu einem angespannten Flüstern geworden.
„Ich und Frau Walker haben nie ein enges Verhältnis gehabt. Immer gab es Streit wegen Kleinigkeiten oder wir haben uns gegenseitig angeschissen." Er stockt und scheint zu überlegen, ob er mehr erzählen soll. Doch nun scheint er seinen innerlichen Schweinehund zu überwinden. Denn diese Geschichte, die er mit uns teilt, fesselt mich so sehr, dass ich das Gefühl habe, noch nie so etwas Bizarres erzählt bekommen zu haben.
Ashley Cameron
Nach dem Abendessen bleibe ich für einen kurzen Augenblick sitzen. Ich erinnere mich daran, was Baihu gerade eben erzählt hat, aber Kraft habe ich nicht, das Gesagte wiederzugeben. Plötzlich steigt vor meinem geistigen Auge die Erinnerung an Frau Walker auf. Ich erinnere mich daran, dass sie mich unbedingt sprechen wollte. Wenn ich ehrlich bin, habe ich gar keinen Bock auf sie, dennoch habe ich keine andere Wahl als an diesem Gespräch teilzunehmen. Ich verstehe nicht, warum sie immer das kriegt, was sie möchte.
Wenige Minuten später stehe ich vor Frau Walkers Büro. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich habe das Gefühl, dass meine Klamotten von meiner Körperwärme voll geschwitzt werden. Zwar könnte man denken, dass ich in sie verknallt sei, so wie ich mich gerade fühle, aber das ist nicht der Fall. Aus irgendeinem Grund habe ich nämlich großen Respekt vor ihr, was niemand außer mir weiß.
Ich hebe meine Hand und ich merke, wie sehr diese zittert. Doch dann klopfe ich entschlossen gegen die altmodische Tür.
Überraschenderweise wird mir die Tür geöffnet und Frau Walker lässt mich eintreten. Schauspielerisch selbstbewusst trete ich in ihr Reich und ich fühle mich, als würde ich mich in meiner eigenen, persönlichen Hölle befinden.
Frau Walker bittet mich freundlich, ihr gegenüber Platz zu nehmen, nachdem sie sich selbst hingesetzt hat. Ich spüre, wie mein Körper sich versteift und alle Muskeln vor Spannung zittern. Doch äußerlich setze ich einen kühlen Blick auf und mein Lächeln strahlt wie die Sonne am Himmel.
„Die Direktorin und ich haben uns überlegt, mit den Schülern dieser Schule heute Abend einen Ausflug in den Wald zu machen. Ich habe dich zu diesem Gespräch gerufen, da ich weiß, dass es dir zurzeit nicht so gut geht. Deshalb haben wir vereinbart, dass du während der Nachtwanderung an meiner Seite bleibst."
Spöttisch schaue ich sie an. „Aber Händchen halten werden wir wohl nicht, oder?"
„Natürlich müssen wir das", grinst Frau Walker.
Ich kreische verstört auf, doch Frau Walker gluckst nur in sich hinein. Ich kann sehen, dass sie sich zusammenreißt, um nicht laut loszuprusten.
„Keine Sorge", lächelt sie besänftigend. „Natürlich werden wir uns nicht wie ein... lesbisches Pärchen an den Händen halten. Außerdem bin ich viel zu alt für dich. Mein Mann würde mir an die Gurgel gehen." Dabei spuckt sie das Wort „lesbisches Pärchen" wie ein dreckiges Wort aus, das nicht zu dieser Welt gehört. Verärgert verziehe ich das Gesicht und mein Lächeln versteinert schlagartig.
„Gleich wird eine Durchsage ertönen und unseren Spaziergang ankündigen", fährt sie ungerührt fort. „ Da nicht genau beschrieben wird, welchen Weg wir einschlagen werden, erzähle ich es dir."
Stella Wittmann
Nach der Durchsage von vorhin befand ich mich draußen auf dem großen Parkplatz. Überall sind Schüler zu sehen. Lehrer sind auch mit am Start. Suchend halte ich nach Frau Walker Ausschau, ich frage mich, wo sie ist und was sie gerade treibt, denn egal wie sehr ich mich anstrenge, ich kann sie in der Menschenmenge nicht entziffern. Die Tatsache, dass ich sie nicht finden kann, verunsichert mich, weil alleine unter Fremden zu stehen, ist nicht meine Stärke. Zu schnell werde ich verunsichert, wenn ich das Gefühl habe, niemanden so richtig zu kennen, klar läuft man sie über den Weg, aber das ist nicht das gleiche, als wenn man sich mit ihnen unterhält und sie kennengelernt hat.
Außerdem sehen alle Leute aus ein Meter Entfernung gleich für mich aus, die Taschenlampen in deren Händen
beleuchten den steinigen Weg des Waldes.
Während ich nur da stehe, zucke ich innerlich zusammen, denn ganz plötzlich werde ich von zwei Händen an den Schultern gepackt.
„Frau Walker?", flüstere ich.
„Nicht ganz", raunt die Stimme von Liam Kühn in mein Ohr hinein. Meine leichte Verunsicherung den anderen Schülern gegenüber fällt von mir ab und ich wirbele herum. Durch meine Bewegung fallen Liams Hände gewollt von meiner Schulter herunter.
„Hat deine Mutter dir nicht Benehmen beigebracht?", knurre ich mit finsterer Miene.
„Was hast du denn, Süße? Magst du es nicht, heiß berührt zu werden?"
„Wenn, dann würde ich lieber von einem Mädchen heiß berührt werden, als von dir."
Überrascht von meiner Aussage zieht er eine Augenbraue hoch.
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