Kapitel 16
Wir saßen auf der Picknickdecke und starrten die Sonnenblumen an. Die Stimmung war ein wenig betrübt, dennoch wollte keiner die Worte aussprechen.
»Vielleicht sollten wir zurückgehen?« schlug ich vor.
»Ja vielleicht.«
Wir falteten die Decke zusammen und legten sie sorgfältig in die Truhe und spazierten zurück. Der Tag hatte wundervoll begonnen und nun schien es so als hinge über uns eine fiese, dunkle Wolke, die darauf aus war jegliche gute Laune zu vernichten. Und wer war Schuld an diesen Bedrübnis? Ich. Ich allein. Immer musste ich die Schuldige sein.
Innerlich klatschte ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn. Warum musste ich so dumm sein? Ich hatte diesen traumhaften Moment zerstört.
»Wie kommst du damit klar, dass deine Eltern nicht mehr da sind? Vermisst du sie nie?« unterbrach Jeremy meinen Gedankengang. Er hatte seinen Kopf gesenkt und blickte starr in den Boden. Bei meiner Antwort hob er ihn jedoch.
»Um ehrlich zu sein. Seit Jahren versuche ich nicht mehr an sie denken zu müssen.«
»Weil es zu sehr weh tut?«
»Ja. Es ist schon acht Jahre her. Ich war noch keine zehn da wollten wir einen Familienausflug machen. Meine Eltern wollten unbedingt mit mir diesen neuen Wasserpark erkunden. Es kam nur leider nie dazu. Ein LKW-Fahrer war eingeschlafen und hatte uns gerammt. Mein Dad bremste ab, doch es war schon zu spät. Der vordere Teil vom Wagen war total zerstört. Ich saß auf der Rückbank und war am Leben.«
»Du warst dabei als es passierte?«
Er blieb stehen und blickte mich fassungslos an.
»Ja, das war ich.«
»Du warst gerade mal neun! Wie bist du damals damit klargekommen?«
»Anfangs war ich wie eine leblose Hülle. Ich machte weiter mit allem aber ich empfand nichts außer Trauer. Meine Eltern waren alles für mich. Sie waren so perfekt und liebevoll. Jede Sekunde lang vermisste ich sie. Man sah monatelang kein Lächeln in meinem Gesicht, kein Strahlen in den Augen. So wie man es von mir kannte. Dann lernte ich Clara kennen. Wir freundeten uns an und sie half mir aus der Trauer. Wir sind heute noch beste Freunde und ich denke wir werden es auch immer sein.«
»Während ich gerade eben einen Heulkrampf hatte, vergießt du keine Träne. Warum?«
»Ich glaube ich besitze keine mehr.«
Wir gingen weiter. Unsere Blicke auf den Boden gerichtet. Doch dann flüsterte Jeremy eine Frage in die warme Frühlingsluft: »War das der Grund weshalb du gestern geweint hast?«
»Nein.«
»Willst du darüber reden?«
»Nicht jetzt. Vielleicht irgendwann.«
Schließlich erreichten wir sein Zuhause. Eigentlich wollte ich mich verabschieden aber er bot mir ein spätes Mittagessen oder besser gesagt ein frühes Abendessen an. Da konnte ich nun wirklich nicht ablehnen.
Inzwischen durfte ich mich im Bad ein wenig frisch machen. Ich hüpfte unter die Dusche und nahm das Duschgel, jenes nach Limetten duftete. Geschmeidig reinigte es meinen Körper. Bei meinen Füßen musste ich kräftig schrubben. So dreckig waren die zuletzt als ich noch ein Kind war.
Eine kleine Erinnerung kam in mir hoch.
Es war ein Sommertag. Meine Eltern saßen mit mir in unserem Garten und genossen mein Lieblingseis. Dad vollendete diesen Tag mit einer Wasserschlacht. Aus dem Hinterhalt griff er uns mit dem Gartenschlauch an. Mom kreischte und rannte ins Haus während ich begeistert den Kampf aufnahm und versuchte ihm den Schlauch wegzunehmen. Ich war ihm eindeutig unterlegen aber ich bekam Unterstützung. Meine wunderbare Mom kam angerannt mit zwei Wasserpistolen. Sie feuerte sofort auf ihn los und schon bald hatten Mom und ich ihn zum Aufgeben gebracht.
An diesem Abend waren meine Füße genau so dreckig wie heute.
Eine Träne kullerte mir über die Wange. Ja, ich vermisse meine Eltern und ich werde nie damit aufhören.
Ich wischte mir mutig die Träne vom Gesicht und zog das übergroße graue T-Shirt an, dass Jeremy mir geliehen hatte. Meine Haare bürstete ich mit der Bürste, die ich heute morgen schon benutzt hatte, durch. Akzeptables Aussehen? Ganz bestimmt nicht, aber es war besser als ein verweintes und verschwitztes Kleid.
Barfüßig tappste ich in die Küche. Das ganze Haus war sehr natürlich eingerichtet. Die Möbel bestanden aus Holz und durch die vielen Fenster wirkte es hell und freundlich.
»Hi.« sagte Jeremy als er mich erblickte.
»Hi. Danke für die Dusche und das T-Shirt.«
»Gerne. Ich hab uns Chili gemacht.«
Er überreichte mir eine Schüssel.
»Mhmm. Es riecht definitiv schon mal echt gut!«
»Komm. Setzen wir uns ins Wohnzimmer.«
Ich folgte ihm und nahm neben ihm auf der grünen Couch Platz.
Ein paar Sekunden später steckte ich mir einen Löffel gefüllt mit dem dampfendem Essen in den Mund.
»Und?«
»Ist da jemand nervös?« neckte ich ihn.
»Überhaupt nicht! Es interessiert mich nur.«
»Klar.«
Ich ließ ihn noch ein wenig zappeln und dann beantwortete ich seine Frage schließlich: »Es ist gut aber das von Kim ist besser.«
»Mit ihr kann niemand mithalten!«
Wir kicherten und aßen weiter.
»Wie waren deine Eltern so?« fragte Jeremy mich.
»Ganz ehrlich, ich weiß fast nichts über sie. Ich habe meine Erinnerungen, ja aber seit sie tot sind habe ich so gut wie nie über sie sprechen wollen. Soph, also meine Tante, wollte mir immer was über die Beiden erzählen aber ich konnte das nicht ertragen.«
»Verstehe. Aber du kannst es noch immer ändern.«
»Könnte ich, ja.«
»Das ist deine Entscheidung. Du musst damit leben können.«
Ich nickte. Seine Antwort ging mir noch eine Weile durch den Kopf. Vielleicht sollte ich einmal mit Soph über meine Eltern reden. Sie waren so faszinierend in meinen Erinnerungen. Womöglich würde es noch viel mehr solcher Geschichten geben. Diesen Gedanken schob ich jetzt aber zur Seite. Nun wollte ich von ihm wissen: »Und deine Eltern? Wie waren die so?«
»Mein Dad hat mir sehr viel über meine Mom erzählt. Sie war bildschön und war immer am strahlen. Bevor sie mit mir schwanger war hat sie den Blumenladen eröffnet. Die ersten Blumen, die sie dort verkaufte waren Dad's Sonnenblumen. Mein Dad war hier aufgewachsen und hatte die Farm geerbt und meine Mom ist hergezogen für meinen Dad. Die Beiden haben sich an einer Uni kennengelernt. Meine Mom hat zwei Semester Medizin studiert. Es hat ihr so gar nicht gefallen also hat sie die Entscheidung getroffen und hat sich hier selbstständig gemacht.«
»Also war es die wahre Liebe?«
»Ja. Wenn man sich die Bilder ansieht von früher, dann spürt man die Funken zwischen den Beiden.«
»Ein märchenhafter Anfang mit tragischem Ende.«
»Nein, kein tragisches Ende. Jetzt sind sie vereint. Jetzt sind sie wieder zusammen und glücklich.«
Ich nickte. Die Worte und das Positive Denken von Jeremy berührten mich. Er vermisste seine Eltern sehr aber er sah das Gute und war dankbar dafür.
»Was ist das für eine Narbe an deiner Schläfe?«
Abrupt fuhren meine Finger an die Stelle. Ich fühlte die glatte Oberfläche meiner Haut und dann die leichte Wölbung.
»Die...ist vom Autounfall.«
»Von dem Autounfall?«
Ich nickte nur. In meinem Hals hatte sich soeben ein Kloß gebildet. Jeremy sah nicht die Perfektion. Er bekam die unvollkommene, menschliche Seite von mir mit. Dies wollte ich nie, doch wenn ich in seine Augen blickte dann spüre ich das er sie nicht ausnutzen würde. Seine leuchtend blaue Augen die mich mit diesem durchdringenden Blick ansahen, wie als würde er in mir meine Gedanken lesen können.
»Sie steht dir.« flüsterte er.
»Eh...Danke?« Sollte das ein Kompliment sein? Wenn ja dann war es ein sehr komisches.
»Das sollte sich jetzt nicht so blöd anhören.« erklärte er mir und überdrehte seine Augen. Dann sprach er weiter: »Es gibt Menschen, denen stehen Narben einfach nicht und ich finde zu dir passt sie.«
»Okay...ehm...Danke.«
Ich sah wie sich seine Miene verlegen zusammenzog. Seine Aussage war ihm peinlich. Dieses Bild, das sich vor meinen Augen abgab, brachte mich zum kichern. So wurde die Stimmung wieder ein wenig lockerer.
»Was willst du in deinem Leben alles tun?« wollte Jeremy wissen.
»Naja, ich will zuerst mal an die Uni und eine tolle Zeit haben mit Clara.«
»Ihr geht gemeinsam auf die Uni?«
»Ja, wir haben uns extra eine rausgesucht, die auf verschiedene Bereiche spezialisiert ist.«
»Und danach?«
»Danach würde ich mir gerne mein Leben aufbauen. Also ein eigenes Haus mit meinem Traummann bauen und mindestens zwei Kinder bekommen. «
»Und dann?«
»Glücklich sein.«
Er nickte und aß den letzten Rest seines Chilis.
»Und du?« fragte ich ihn.
Nachdenklich hob er seinen Blick und starrte durch das Fenster in die Ferne.
»Lieben und geliebt werden.«
Seine Worte machten mich sprachlos. In seiner Stimme klang so viel Melancholie und Einsamkeit mit, womit ich nicht gerechnet hätte.
»Ich denke du wirst geliebt.«
Er zuckte mit den Schultern. Zugegeben ich konnte ihn gut verstehen. Jeremy lebte alleine in diesem Haus und hatte keine Familie mehr.
Jeremy stand auf und räumte die Teller weg. Als er zurückkam setzte er sich wieder neben mich auf die Couch. Die Stimmung war heute wirklich ein Auf und Ab.
»Hast du vielleicht ein paar Spiele?« erkundigte ich mich. Dies würde die Laune wieder heben.
»Ja klar. Was willst du denn spielen?«
»Hast du Carcassonne?«
»Klar.«
Jeremy begab sich zu einem der Kommoden und öffnete eine Schublade. Nach kurzen kramen hielt er die Schachtel mit dem Spielinhalt in den Händen.
»Perfekt. Du kannst dich warm anziehen! Ich bin nähmlich unschlagbar!« forderte ich ihn heraus.
Nach drei Versuchen mich zum Verlierer zu deklarieren, gab er auf und sah ein das ich wirklich unbesiegbar war.
Es war ein wundervoller Tag gewesen und leider nahm er sein Ende sowie jeder andere Tag auch. Jeremy begleitete mich nach draußen auf die Veranda.
»Danke.« flüsterte er mir zu als wir uns umarmten.
»Ich danke dir.«
»Ich habe den Tag sehr genossen. Vielleicht können wir das einmal wiederholen.«
In seinen Augen sah ich wieder das Lichtlein der Hoffnung brennen und da war noch etwas...ein Feuer. Es brannte nur ganz klein und doch war es da.
»Gerne.«
Bei diesen Worten wuchs das Feuer ein kleines Stück. Unmerklich aber doch zu erkennen.
So drehte ich mich um und ging zu Kim. Mein Bett erwartete mich schon sehnsüchtig und zugegebenermaßen ich freute mich auch schon.
Im Haus liefen gerade die Vorbereitungen für den Filmabend und ich war auch dazu eingeladen. Dann würde sich mein Bettchen wohl noch ein wenig gedulden müssen.
Ich zog mir schnell etwas bequemes an und begab mich dann neben Rosie auf das Sofa.
»Wir kucken Liebe braucht keine Ferien.« flüsterte sie mir zu.
Ich nickte und dann spürte ich, das ich wirklich so etwas wie Familie vermisste. Die ganze Runde saß, eingekuschelt in Decken auf dem Sofa und naschten Süßigkeiten, knabberten an Chips oder ließen das Eis in ihrem Mund schmelzen. Das Schönste aber war, das sie alle beisammen waren.
Das war Familie.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro