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Audrey
Ich atme die warme herbstliche Stadtluft ein und spüre, wie mich neue Energie durchströmt. Bäume in allen warmen rötlichen Farben umringen mich, die Sonne wärmt meinen Körper und die immer kälter werdende Luft peitscht mir ins Gesicht.
Chicago ist mein zweites Zuhause. In den zwei Jahren, die ich nun hier bin, ist mir die Stadt ans Herz gewachsen und ich fühle mich hier wohl. Manchmal mehr als zuhause in den Hamptons. Und in den letzten Tagen sehnte ich mich nach hier her immer mehr. Aber kein Wunder. Mir ist immer noch nicht klar, was zuhause alles passiert ist. Ich schüttle den Kopf und verbanne die Gedanken in mein hinterstes Bewusstsein. Ich brauche Abstand von dem, von Kaden, von Dad und von dieser Geheimnistuerei. Egal was zuhause wirklich los ist, ich will nichts mehr davon hören. Denn das neue Semester startet und ich brauche meine Energie dafür. Ich habe mir eisern vorgenommen von Anfang an dabei zu sein, keinen Kurs schleifen zu lassen, denn das letzte Semester war eine Ausnahme.
Während dem Flug über hatte ich mir erlaubt, Gedanken an Kaden zu zulassen. Mir kullerten die ganze Zeit Tränen hinab, aber ich wischte sie hastig weg, dass die Oma auf dem Nebensitz nicht nachfragen konnte was los sei.
Die Gedanken an Kaden schmerzen, aber ich muss nach vorne sehen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, auch wenn es schwer ist.
Ich schultere meine Tasche und ziehe den Koffer über den Campus. Einige Studenten eilen quer über den Campus, treffen sich und tauschen sich über ihren Sommer aus. In den nächsten Tagen wird es noch um einiges voller hier, da das neue Semester erst in ein paar Tage beginnt. Ich freue mich auf das bevorstehende Wochenende. Mich in meinem Zimmer einzurichten, mit meinen Freunden hier zu plaudern, durch die Stadt zu laufen und in meinem Lieblingscoffeshop einen Kaffee zu holen.
Oh ja, ich hatte Chicago vermisst.
Mein Wohnheim, in dem ich seit dem ersten Semester eine kleine Wohnung mit Judy Westbrock teile, liegt gut gelegen und sehr zentral. Judy und ich hatten nur ein paar Mal über den Sommer geschrieben und dass wir uns freuen, wenn wir uns wiederhaben und Filmabende in unserer kleinen heimeligen Wohnung veranstalten konnten. In den Jahren ist Judy zu einer wirklich guten Freundin geworden, da wir auf einer Wellenlänge unterwegs sind.
Judy ist ein aufgewecktes Mädchen aus Tennessee, das Politikwissenschaften studiert und die Welt verändern will. Sie ist die typische Studentin. Bei jeder Demo vorne mit dabei, auf Partys fehlt sie so gut wie nie und angelt sich so ziemlich jeden süßen Sportler an dieser Uni. Und jeder der sie aufgrund ihrem beachtlichen Männerverschleiß eine Schlampe oder Hure nennt, zeigt sie prompt den Mittelfinger. Sie schert sich nicht was andere über sie denken. Sie ... macht ihr eigenes Ding. Manchmal frage ich mich was das auch immer sein mag aber liebe ihre humorvolle Art. Und ich freue mich wenn ich sie wieder um mich hab.
Ich zerre den Koffer durch den Flur und komme vor unsere Wohnungstür an. Ein vertrauter Geruch schlägt mir ins Gesicht und weckt sofort Erinnerungen an mir. Auch wenn ich es immer gewohnt war, viel Natur um mich zu haben, liebe ich diese Wohnung hier. Sie ist geräumig. Wir haben eine überschaubare Kochnische, einen kleinen Rundentisch, den Judy vom Flohmarkt geholt hatte mit zwei Stühlen und eine einladende Couch mit einem winzigen Tischchen davor. Überall liegt Kram von uns herum, der Kühlschrank ist mit Magneten voll und der Blumenstock im Fenster lässt alles hängen.
Ich schließe hinter mir dir Tür, zerre den Koffer herein, stelle die Tasche ab und gieße Wasser in den zu bemitleidenden Blumenstock. Vielleicht ist er ja noch zu retten.
Die Zimmer von Judy und mir gehen von dem Wohnraum ab, in der Mitte befindet sich das Bad. Ich gehe in meines und öffne das Fenster um frische Luft hereinzulassen. In den nächsten Stunden packe ich meine Sachen aus, verstaue alles und lasse mich dann auf die Couch fallen. Erst jetzt hole ich mein Handy hervor und schreibe Mom, dass ich wieder gut angekommen bin.
Ich scrolle durch Instagram, doch nach wenigen Minuten wird die Wohnungstür aufgerissen und ein blonder Wirbelsturm fegt herein.
Hastig springe ich auf und werde in eine stürmische Umarmung gerissen. Judy drückt mich an sich und ihr süßliches blumiges Parfüm umgibt mich.
„Endlich sind wir wieder vereint.", ruft sie aus.
„Du bist schon hier? Ich dachte du kommst Samstag?", frage ich sie überrascht und mustere sie, als sie sich wieder von mir löst. Ihr blondes Haar ist etwas länger als meines und heute trägt sie es offen. Ihr zierlicher Körper ist von einer Jeansjacke bedeckt, darunter lugt ein weißes Shirt hervor.
„Ja, wollte ich. Aber als du mir geschrieben hast, dass du heute schon hier auftauchst, musste ich daran denken, wie du alleine hier sitzt. Also tada, hier bin ich.", erklärt sie und grinst breit über ihr schönes Gesicht, während sie die Hände zur Seite austreckt.
„Das freut mich.", sage ich. „Aber wegen mir musstest du nicht früher von zuhause verschwinden. Ich wäre schon alleine klargekommen."
Sie zuckt mit den Schultern. „Mach dir keinen Kopf.", meint sie. Plötzlich ist ihr freudiges Lachen weg und sie zieht eine Grimasse. „Meine Eltern lassen sie scheiden und meine Schwester hat ihnen erklärt, dass sie lesbisch ist."
Ich ziehe die Brauen hoch. „Oh, okay. Das tut mir leid ... das mit deinen Eltern.", murmle ich und verschränke die Arme vor der Brust.
Judy sieht aus wie diese typischen Südstaatenschönheiten, die an Schönheitswettbewerben teilnehmen und sich nur dafür interessieren, wie der perfekte Eyeliner gezogen wird. Aber das trügt. Sie hat zwar das Aussehen einer Südstaatenschönheit, aber dahinter verbirgt sich noch so viel mehr. Ich kenne sie jetzt nun genau zwei Jahre und immer wieder überrascht sie mich mit einer neuen Seite an ihr.
Sie winkt ab und schält sich aus ihrer Jacke, die sie über den Hacken neben der Tür hängt. „Nein ist okay. Sie haben nur mehr gestritten, so dass Tate und ich froh waren, dass die Scheidung nun endlich durch ist."
„Hm.", ich nicke verständnisvoll und lasse mich wieder auf die Couch fallen. „Und wie haben sie das von Tate aufgenommen?"
Ich muss an ihre kleine Schwester denken, als sie Judy im zweiten Semester besucht hatte. Sie war voller Energie und strahlte die ganze Zeit über. Sie war so ein kleiner Engel, den man einfach beschützen wollte. Dass sie lesbisch ist ... kommt überraschend. Zumal sie den Jungs hier nachgeschmachtet hatte als gebe es kein morgen.
„Na ja, überraschend gut. Meine Eltern sind ja sehr konservativ, aber mich überraschte ihre lockere Reaktion.", meint sie und verschwindet mit dem großen Koffer in ihrem Zimmer. Ich höre sie leise vor sich hin murmeln, dann kommt sie zurück. Bevor sie sich neben mich auf die Couch fallen lässt streift sie die Schuhe von den Füßen und nimmt sich die Cola Dose, die ich noch im Kühlschrank gefunden hatte.
„Was war bei dir los?", fragt sie mich und wirft mir einen erwartungsvollen Blick zu.
Ich weiche ihrem Blick aus und hebe unschuldig die Schultern. „Nicht viel. Mit meinen Freunden Zeit verbracht, Partys gefeiert und in der Sonne gechillt."
Wow, kann ich meinen Sommer noch mehr untertrieben darstellen?
„Hm.", macht Judy und sieht mich kritisch an. „Mehr nicht? Keine gute Story, die zu erzählen wäre?"
Ich ziehe eine Schnute und schüttle langsam den Kopf. „Nein."
Vielleicht würde es guttun, Judy alle zu erzählen was passiert war. Aber im Moment habe ich keine Lust über Kaden zu reden und an unsere Zeit zu denken. Denn ich weiß, Kaden ist Geschichte und ich werde ihn nicht wiedersehen. Er hat den Job bei meinem Dad gekündigt und ich bin hier in Chicago. Ich frage mich, was er wohl jetzt gerademacht. Nein, stopp. Ich denke nicht an ihn. Ich muss diesen Mann in meine hinterste Schublade schieben mit der Aufschrift scheiße gelaufen.
Wenn das nur so einfach wäre. Denn tief in mir, wünschte ich mir er wäre hier. Würde neben mir sitzen, den Arm um mich legen und mich an sich ziehen, damit ich seinen Geruch einatmen kann.
Ach scheiße verdammt, ich vermisse ihn.
„Wow, und ich dachte ihr reichen Leute aus den Hamptons erleben was, so wie in den Filmen und Serien, wo jeder seine Machtspielchen gegen den anderen spielt und mindesten jeden Sommer eine Leiche gefunden wird und plötzlich jeder verdächtigt wird. Aber da gab es ja bei mir mehr Action.", sagt sie. „Sorry, nichts für ungut."
„Schon okay.", sage ich lächelnd. „Und nur fürs Protokoll. Dein Bild von Hamptons ist total daneben. Wir sind keine Leute, die sich gegenseitig umbringen und Machtspielchen spielen. Ja manchmal ist es sogar ziemlich langweilig."
Gespielt empört schlägt sie sich die Hand auf den Mund und reißt ihre grünen Augen auf. „Nicht? Ich dachte, dein Leben wäre aufregender. Du enttäuschst mich, Audrey Baker."
Ich lache und kuschle mich tiefer in die Couch hinein. Der Tag war lang und ich freue mich schon auf die heiße Dusche und auf mein Bett.
„Was machen wir heute Abend? Es ist noch so gut wie niemand hier und die Studentenpartys fangen erst Samstag an.", fragt mich Judy und zieht die Füße an sich.
Ich schüttle lachend den Kopf. Typisch Judy. Es muss sich immer was tun. „Pack doch mal deine Sachen aus und ich gehe inzwischen einkaufen, dass wir nicht nur Wasser in dieser Wohnung haben. Und danach werde ich duschen gehen und dann können wir einen Ryan Gosling Filmabend machen. Abgemacht?"
Judys Augen leuchten auf und sie schlägt euphorisch in die Hände. „Gib mir Popcorn und eine ordentliche Dosis Ryan Gosling und ich liege dir zu Füßen, Baby.", ruft sie aus. „Abgemacht."
Ich lache und freue mich gleichzeitig auf dieses Semester. Denn ich werde das Gefühl nicht los, dass es ein ausgesprochen gutes Semester wird. Und wie kann man das besser starten als mit Ryan Gosling und Popcorn.
„Und Samstag gehen wir auf die Studentenparty der Sportlers in ihrem Verbindungshaus.", ruft sie mir nach, als ich auf den Weg in mein Zimmer bin. „Ich will mir einen Sportler aufreißen, denn ich bin total untervögelt."
Sie erscheint im Türrahmen meines Zimmers und beobachtet mich, wie ich einen olivgrünen Over Size Pullover hervorhole und ihn mir überstreife. Draußen wird es immer kühler.
„Sag nicht, du hattest den ganzen Sommer keinen Sex?", frage ich irritiert und schiebe einen Blick in ihre Richtung.
Theatralisch seufzt sie und lehnt sich an den Türrahmen. „Doch, schon. Aber in unserem kleinen Kaff auf dem Land kennt doch jeder jeden und daher war die Auswahl etwas beschränkt.", erklärt sie und schüttelt verärgert den Kopf.
„Wen hast du dann vernascht?", frage ich stirnrunzelnd.
Sie weicht meinen Blicken aus und sieht etwas beschämt zu Boden. Doch bevor ich fragen kann, wirft sie die Hände in die Luft. „Mein Gott, ja. Ich hatte mit meinem Ex was am Laufen. Aber es war nur einmal."
Gekonnt verkneife ich mir das Lachen und ziehe eine Braue hoch, während ich sie kritisch beäuge. „Nur einmal?", frage ich sie, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
„Nein, es ging den ganzen Sommer so dahin.", gibt sie zu. „Ich verstehe das nicht, in manchen Momenten könnte ich den Kerl umbringen, weil er mich so zur Weißglut bringt und aber dann will ich ihm einfach nur die Klamotten vom Leib reißen."
Jetzt muss ich lachen. Von ihrem Ex Brody hatte ich schon einiges gehört. Aber nur Worte wie ich lasse mich nie wieder auf ihn ein und er kann mir gestohlen bleiben bis hin zu ich hasse ihn.
„Und seid ihr jetzt wieder zusammen?", frage ich zögerlich.
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Ich bin hier und er ist dort. Das funktioniert nicht.", meint sie und winkt ab. „Ich würde sagen uns war beiden langweilig und da dachten wir, komm tun wir es einfach."
„Und wie ist es, sich wieder auf den Ex einzulassen?", frage ich und folge ihr zurück in den Wohnbereich.
Judy wirft mir einen Blick über die Schulter. „Eigentlich einfach. Na ja er weiß, was er im Bett tun muss. Es ist nicht so wie bei One-Night-Stands, denen du zeigen musst, wie du es am liebsten hast. Von da her war es gut. Aber mehr als Sex funktioniert zwischen uns nicht mehr."
Ich nicke, denn irgendwo verstehe ich sie. Aber dann muss ich daran denken, wie aufregend und neu es mit Kaden war.
„Gab es bei dir einen heißen Kerl? Irgendeine Sommerromanze?", platzt es aus ihr heraus und trifft voll ins Schwarze.
Ich räuspere mich, da ich das Gefühl habe meine Stimme versagt sonst. Unschuldig hebe ich die Schultern und kehre ihr den Rücken zu, sonst verrate ich mich noch. „Nein, ich war brav."
„Stimmt, du hast es ja nicht so mit One-Night-Stands.", bemerkt sie. „Und auch niemanden kennen gelernt?"
„Nein. Wie gesagt ich habe die Zeit mit meinen Freunden verbracht.", wiederhole ich und ziehe mir die Schuhe an. „Also ich gehe jetzt. Soll ich was Bestimmtes mitbringen?"
„Uh ja. Nimm Popcorn und die gute Erdnussbutter mit, damit ich das Popcorn eintunken kann.", ruft sie euphorisch aus und schenkt mir ein freudiges Lachen.
Doch ich verzeihe angewidert das Gesicht. „Gott, du weißt wie ekelig das ist oder?"
„Schon mal probiert? Denn dann wüstest du wissen wie gut das schmeckt. Ich sag nur lecker AF.", kontert sie und steckt ihre kleine Stupsnase in die Höhe.
„Du weißt aber schon, dass du nichts sparst, wenn du as fuck abkürzt?", ziehe ich sie auf, lächle aber schwach.
„Ach sei still, heutzutage redet man so.", murrt sie. „Und vergiss das Bier nicht, damit ich mit Ryan Gosling auf das neue Semester anstoßen kann. Freust du dich auch so sehr wie ich? Ich sag's dir, das wird ein Semester voller wilden Partys und gutem wilden Sex mit heißen Sportlern."
„Das ist es doch jedes Semester oder nicht?", sage ich und ziehe meine Augenbrauen in die Höhe.
„Ja, aber dieses Semester wird noch besser. Und spiel hier nicht die Spaßbremse, so kenne ich dich gar nicht.", sagt sie und stupst mich sanft am Oberarm an.
„Wie du meinst.", murmle ich und öffne die Wohnungstür.
„Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden!", ruft sie mir nach, doch ich weiß genau was sie hören will. Also spiele ich mit.
„Ich freu mich AF!"
Nachdem ich ein paar Lebensmittel besorgt hatte und uns etwas zu Essen gemacht habe, haben wir uns auf die Couch gepflanzt und den Film Wie ein einziger Tag angesehen. Beide heulten wir fast, als Rachel McAdams klar wurde, zum wem sie wirklich gehört. Fast schon ironisch, dass wir uns einen der größten Liebesfilme ansehen. Danach kam Crazy Stupid Love und jetzt liege ich völlig erschöpft im Bett.
Der Tag war lang aber mein Körper wehrt sich regelrecht einzuschlafen. Genervt stöhne ich auf und schlage die Decke zurück. Ich knipse meine Lichterkette über dem Bett an, die das Zimmer in ein schwaches Licht hüllt. Ich lehne meinen Kopf an die Wand hinter mir an und starre zu dem Schreibtisch. Dort sammeln sich immer noch einige Sachen, die ich noch nicht verstaut habe.
Ich steige aus dem Bett und gehe darauf zu. Zögerlich ziehe ich Kadens Shirt hervor und ohne darüber nachzudenken streife ich das andere ab, und zieh Kadens an. Sein Geruch umhüllt mich und ich kuschle mich hinein. Darf sich das so gut anfühlen?
Damit bekleidet krieche ich wieder unter die Bettdecke und nehme mein Handy vom Nachttisch. Ich öffne meine Fotos, die ich mit dem Handy gemacht habe und bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten. Als ich es gefunden habe, schlägt mein Herz unwillkürlich schneller. Kaden lacht mir unbeschwert entgegen, während vor ihm ein fetter Burger auf dem Tisch steht. Es entstand im Diner am Leuchtturm, nachdem wir an einem Nachmittag hungrig aus seinem Bett gestiegen sind. Ich glaube ich hatte noch nie so viel gelacht, wie an diesem Tag.
Ich weiß nicht wie lange ich das Foto anstarre, aber irgendwann löst sich eine einzelne Träne aus meinem Auge. Ich schließe mein Handy wieder, lege es weg und rolle mich zur Seite. Während ich darauf warte, dass der Schlaf endlich über mich kommt, kullern Tränen über meine Wangen. Gott, warum schmerzt es so?
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