Selbstheilungskräfte sind die stärksten
Sie überlegt, ob sie jetzt die ganze Packung Schokoeis isst und sich dabei vor eine Serie setzt und erst wieder aufsteht, wenn sie auf Toilette muss. "Aber wenn ich in diesem Maß weiterheule", denkt sie "muss ich erst mal eine ganze Weile nicht aufs Klo.". Sie lächelt schon fast, zufrieden über diese Berechnung.
Oder vielleicht sollte sie sich betrinken? Das hilft doch auch. Oder eine Rauchen? Sie hat noch nie geraucht und besitzt keine Zigaretten. Vielleicht sollte sie den Nachbar von der Wg obendrüber fragen. Vielleicht könnte sie dabei diese Jogginghose anhaben die so desineressiert messy und doch sexy aussieht. Sie könnte ein paar Strähnen aus ihrem Zopf fallen lassen und die hätten dann auch diese Wirkung wie die Hose, nur noch ein bisschen besser.
Der Nachbar von Obendrüber würde das bemerken. Das hatte sie nun nach dem Sommersemester und einigen Schrebergartenpartys verstanden. Du kannst schnell nur kurz jemanden zu denkend in die Augen sehen und schon ist da so eine komische intellektuelle Nähe. Eine merkwürdige hochtragende Seelenverwandtsschaft die vielleicht auch von beiden Seiten nur so tut, eine zu sein. Und man guckt nur kurz sehr geknickt, pustet sich vor lauter Kraftlosigkeit nicht einmal die Haarsträhne aus dem Gesicht und schon wird man gefragt ob "Alles okay?" ist, und dann hebt man kurz den Blick, stellt die Pupillen auf die Tiefenschärfe der Seele und ein paar Sekunden später ist man schon hinter der Haustür und noch weiter.
Oder? Sie hatte keine Ahnung. Sie hatte es noch nie so sehr provoziert. Nur bisher ab und zu beobachtet, was die bloße Andeutung eines solchen Anscheins auslösen konnte im Gesicht des Gegenübers. In der Grundschule und im Gymnasium hatten die Jungs nie etwas von ihr gewollt, weil es alles dumme Dorfjungs gewesen waren. Aber die Studenten waren anders. Glaubte sie. Und was war mit ihr? War sie nicht auch nur von einem Dorfmädchen zu einer Studentin geworden? Was waren das überhaubt für bekloppte bubbelige Schubladen.
Und... Er war anders gewesen als die dummen Dorfjungs. Doch er war nun auch Student. Nur in einer anderen Stadt. Wer hat sich Distanz bitte ausgedacht? So ein Scheiss. Kann nicht bitte alles aus Seelennähe bestehen und man jegliche Art von körperlicher Existenz einfach weglassen? Hmm... Körper. Zigaretten nach dem Sex. Rauch in Lungen. Schmerzen in der Brust, sich einbildend, es käme von der Verengung der Venen durch das Nikotin oder von dem Teer auf den Lungenbläschen.
Ignorierend, dass es das kleine dumme Herz ist, was da noch weint weil es doch gerade erst hingefallen ist und erst einmal Zuwendung und Trost braucht, und gar nicht schon wieder Karusell fahren oder Zuckerwatte essen, sondern einfach nur ein bisschen Ruhe haben möchte.
Sie hält inne. Sie wird jetzt weder Eis essen, noch einen Film gucken, noch sich betrinken oder rauchen oder sich einen One Night Stand arrangieren.
Sie wird jetzt spazieren gehen. Wie ihre Mama mit ihr das immer gemacht hat. Das hat immer geholfen.
Wobei, sie könnte auch gleich joggen. Vorher vielleicht noch einen grünen Tee mit Zitrone trinken, damit ihr Körper wieder ins Gleichgewicht kommt. Und dann zum Joggen einen Podcast über Psychologie anmachen, für ihren Geist. Das wäre doch viel Produktiver. Am Anfang könnte sie auch den Müll runterbringen und am Ende den Briefkasten nach dem neuen Rundfunkbeitrag-Bescheid checken. Und in Produktivität, Verantwortung und Arbeit ihn einfach vergessen, den leichten Schmerz in der Brust...
Nein. Ihr kleines Herz. Es will jetzt auch nicht sofort Desinfektionsmittel und einen Druckverband für das bisschen aufgeschürfte Knie, nur damit es morgen tadellos in die Schule gehen kann. Es will einfach nur auf dem Bordstein sitzen und Muttis Spucke, die unbeholfen aber liebevoll den Dreck aus dem blutigen Kratzer wischt.
Sie lässt den Müll stehen und die Sportsachen im Schrank. Sie nimmt nur ihr Handy und ihren Schlüssel und einen tiefen Atemzug und geht dann nach Draußen. Spazieren. Einfach nur spazieren.
Sie ruft eine Freundin an. Redet mit ihr und weint ein bisschen das Handy nass, bis sie die Seite wechseln muss, weil sie an ihrer tränennassen Wange aus Versehen irgendwelche Tasten drückt. "Biep-Biep-BiiiieeeP." "Bist du das?" "Nein." "Bedien das Handy nicht mit deinem Gesicht!" "Ok, ok, sorryy." "Du lügender Gesicht-drücker du." Sie muss lachen. Die Freundin auch. Andere Spaziergänger blicken verwundert auf die heulende lachende junge Frau, doch ein Opi mit einem Kinderrucksack lächelt sie an. Sie spürt diese andere Art von Liebe. Freundschaftliche Liebe. Familiäre Liebe. Ich-sage-einfach-so-einem-Fremden-Hallo-Liebe, oder: Ich-wünsche-der-Fahrkartenkontrolleurin-einen-schönen-Tag-Liebe. Es gibt so viel mehr als diese Verliebe-Liebe. Zum Beispiel auch diese Danke-dass-ich-einfach-mit-dir-Reden-konnte-Liebe. Dann sagen sie und ihre Freundin sich irgendwann Tschüß und sie macht mit einem leichten Lächeln das tränenverschmierte Handy aus und steckt es in die Jackentasche und macht den Reisverschluss zu.
Sie geht noch lange spazieren. Bis die Sonne untergeht. Sie läuft einmal durch den ganzen Park, dann nochmal zurück und dann nochmal zum Sonnenuntergang, weil er so schön aussah. Sie läuft immer weiter auf die dunkelorange große Sonne zwischen den Bäumen zu und stellt sich vor wie es wäre, wenn sie bei der Sonne ankommen könnte, wenn sie nur lange genug läuft. Sie stellt sich vor, die Sonne wäre gar nicht so unendlich groß und unglaublich heiß, sondern höchstens so hoch wie ein Altbau und so warm wie der Asphalt spätabends im Sommer. Und dann würde sie mit ein paar anderen Menschen vor diesem orangen großen Etwas sitzen wie vor einer Kinoleinwand und einfach genießen wie sie langsam immer dunkeloranger und kühler wird und dann im Boden versinkt. Am Ende würden vielleicht ein paar Kinder versuchen auf dem Rest der sich senkenden Sonne hochzuklettern, dann erschöpft oben auf der Hügelkuppe sitzen und die Wärme genießen. Und dann ist die Sonne irgendwann in den Boden gesunken und es schließt sich ein... Garagen-Rollo darüber, oder so. Und alle gehen zufrieden nach Hause Abendbrot essen und Zähneputzen und Schlafen. Und am nächsten Tag steigt sie Sonne aus ihrer Bodengarage wieder auf, wie ein großer sanfter Zeppelin.
"Er hat mich für solche verrückten Gedanken geliebt", denkt sie. Hat. Er tat es nun nicht mehr. Sie hat sich noch nie so schrecklich gefühlt. Sie hatte auf nichts mehr Lust. An nichts mehr Freude. Nichtmal an dem, was wie ein Zitronenfalter vor ihre Nase flatterte. Es war schlimmer als all diese Filmen und Erzählungen es darstellen konnten. Gleichzeitig wusste sie zwar, dass das Leben weitergeht. Doch jetzt wollte sie wirklich erst einmal einfach auf dem Bordstein sitzen. Und ja, das Leben ging weiter. Tatsächlich. Nur zog es jetzt an ihr vorbei und sie blieb sitzen. Sie würde wieder aufstehen können, nur jtzt noch nicht. So saß sie auf der Bordsteinkante, und schnipste ein paar Kieselsteinchen gegen einen Kronkorken, sodass es leise klimperte, wenn sie traf. Der Kronkorken glitzerte Dunkelorange, genau wie das Wasser in der Pfütze und genau wie der Rahmen des Fahrrads, das auf der Wiese neben picknickenden Menschen lag. Genauso dunkelorange wie die Glut im Einweggrill und das erste spätsommerliche Herbstlaub. Alle Leute gingen entweder langsam nach Hause oder betrachteten noch den Sonnenuntergang, oder konnten sich nicht ganz entscheiden und blieben darum einfach ab und zu stehen.
Und sie sah all das, vom Gehwegrand aus. Die Pfütze und das Fahrrad, die Wiese und den bunten Mülleimer, den sich leerenden Spielplatz, die karierte Picknickdecke und den Hund vom Straßenmusiker, der von den grillenden Leuten ein Würstchen geschenkt bekam. Sie sah den Sonnenuntergang und das erste fallende Laub und leere Pfandflaschen glitzern und schloss kurz die Augen. Spürte die leichte Wärme, die sanfte Brise, welche noch den Limogeruch trug, und wusste, dass das alles sehr okay war. Das war kein Ende.
Sie machte die Augen wieder auf und sah all die Farben und dachte: Es gibt noch so viele andere schöne Dinge auf der Welt, außer ihn.
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