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So, noch kurz den Lidstrich nachziehen und dann bin ich fertig.
„Anna-Lena! Hast du's dann endlich?"
Die genervte Stimme meiner Mutter dringt bis zu mir ins Badezimmer durch. Für gewöhnlich wäre jetzt schon der Zeitpunkt erreicht, an dem Mamas Schreie mir Mark und Bein erzittern lassen würden und selbst die Wände neben mir zum Wackeln beginnen würden.
Doch heute ist sie etwas entspannter. Immerhin ist es der Tag des Ereignisses des Jahres. Für meine Mutter gibt es genau eine Sache, die genauso wichtig ist wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen: das örtliche Straßenfest, welches immer im Frühling stattfindet. Dieses Jahr ist es auf den ersten Sonntag im April gefallen.
Ich muss zugeben, mir liegt das Ganze jetzt nicht ganz so sehr am Herzen, aber wenn es ihr eine Freude macht, gehe ich da selbstverständlich gerne hin. Das heißt natürlich nicht, dass ich vorhabe, da großartig was zu machen, doch man kann sich zumindest mal die vier, fünf Stände ansehen, die aufgebaut sein werden. Für meine Mutter.
„Ich bin gleich soweit", flöte ich, um den Ärger schon nicht vor dem Aufbrechen auf mich zu ziehen. Ich hoffe, wir werden nicht allzu lange bleiben. Bisher lag der Altersdurchschnitt bei dieser Veranstaltung jedes Mal um die 65 und ich muss sagen, dass diese Leute selbst für meine Mutter zu alt sein sollten. Irgendwie hat sie es gerne, sich mit den Omis und Opis von neben an über die Kunst des Strickens zu unterhalten und was deren Enkelkinder in zehn Jahren beruflich machen werden. Unglaublich, dass die das immer schon wissen.
Anschließend wird mir dann wieder unter die Nase gerieben, dass ich mit 15 ja dann schon wissen sollte, wohin es ungefähr geht. Ich bin schon froh, dass ich ein Praktikum bei der im Ort ansässigen Logopädin ergattern konnte und ich in drei Wochen lediglich zehn Minuten zu Fuß brauchen werde, um meinen Arbeitsplatz auf Zeit zu erreichen. Zwei Wochen geht das Ganze und danach wird von uns eine Präsentation über unsere Erfahrungen erwartet. Ehrlich gesagt, würde ich viel lieber jetzt umgehend mit dem Praktikum beginnen als das Straßenfest zu besuchen. Was tut man nicht alles, damit der Haussengen nicht schief hängt.
Mit meinem schönsten Lächeln auf den Lippen trete ich aus dem Badezimmer.
„Na, wie sehe ich aus?", frage ich gespielt interessiert. Als ob mich mein Aussehen in den letzten 15 Minuten auch nur im Geringsten gekümmert hätte. Ich würde auf dieser Kirmes eh keinen kennenlernen. Das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre, jemandem aus der Schule über den Weg zu laufen. Und die hatten mich definitiv schon in einem furchtbareren Aufzug gesehen. Die gesamte Zeit, welche ich im Bad verbracht hatte, hatte ich dazu genutzt, unser Aufbrechen weiter hinauszuzögern.
„Großartig siehst du aus, Schätzchen", antwortet meine Mutter überglücklich. Ihr Ärger von vorhin scheint bereits verflogen zu sein. Der Lidstrich hatte wohl den Unterschied gemacht.
Schon drängt Mama mich dazu, das Haus zu verlassen.
„Freust du dich auf das Straßenfest?", harkt Mama nach, als wir beinahe den ersten Stand erreicht haben, welcher sich circa 50 Meter von unserer Haustür entfernt befindet.
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