die Angst (V.1)
Ich atmete schnell. Marie drückte meine Hand. Gemeinsam rannten wir die Treppe hinunter. Im Treppenhaus war das automatische Licht angegangen, doch das beruhigte mich nicht. Immer wieder schaute ich zurück. Der Verfolgungswahn hatte auch Marie gepackt.
Sie legte den Zimmerschlüssel auf dem Wasserspender ab und wir gingen in die Küche. Marie schaltete das Licht an. Kurz flackerte das Licht, dann war die große Industrieküche erhellt. Marie holte zwei Gläser aus dem weißen Schrank. Eins der Gläser gab sie mir, dann verließen wir die Küche. Marie packte meine Hand.
Wieder beim Wasserspender füllten wir unsere Gläser. Ständig schaute ich mich um. Hatte sich etwas bewegt? Das waren nur wir selbst, gespiegelt in den Fenstern. Stand dort jemand in der Ecke? Nur ein Mülleimer. Vorsichtig nahm ich einen Schluck aus meinem Glas.
Marie stieß einen erstickten Schrei aus. "Emma.", flüsterte sie panisch.
"Der Schlüssel."
"Bist du dir sicher, dass du ihn mitgenommen hast?", fragte ich. Doch ich war mir sicher, dass sie es getan hatte. Ich sah den Schlüssel noch vor mir, ich sah, wie Marie ihn auf der metallischen Oberfläche angelegt hatte. Ich hörte, wie die beiden Metalle aufeinander trafen.
"Ich... Ich bin mir sicher."
"Wir suchen den dummen Schlüssel morgen. Der ist bestimmt runtergefallen."
Marie nickte unruhig.
"Wir haben sowieso nicht abgeschlossen. Sophie ist auf dem Zimmer, alles ist gut.", beschwichtigte ich sie.
"Okay.", meinte sie und drückte meine Hand.
Die langen, engen Flure waren das Schlimmste. Meterlang, immer geradeaus.
Jeder hätte hinter uns sein können.
Immer wieder vergewisserte ich mir, dass wir allein waren. Dass uns niemand folgte. Dass uns niemand mit einem Messer in einer dunklen Ecke auflauerte und nur darauf wartete, uns zu erstechen.
Marie schrie auf, packte meinen Arm und rannte.
Ich wusste nicht warum.
Ich wollte es gar nicht wissen.
Zimmer 18. Endlich.
Keuchend ließen wir uns auf unsere Betten fallen.
Maries Atmen ging schnell, sie schien sich nicht zu beruhigen.
"Seid ihr okay? Ich hab euch kreischen gehört.", fragte Sophie irritiert. "Es war gruselig.", erklärte ich.
"Haben wir das Licht in der Küche ausgemacht?", fragte Sophie nach einer Weile.
"Fuck.", entfuhr es mir.
Marie lehnte sich aus dem Fenster und starrte in die Dunkelheit auf den Hof. Ich befürchtete, dass sie jeden Moment heraus fallen würde.
"Und? Kannst du was sehen?"
"Nein. Ich bin auf der falschen Seite. Ich will nicht nochmal darunter, Em."
"Wir können nicht die ganze Nacht das Licht anlassen. Was sollen wir denen morgen sagen: 'Wir hatten ohne Grund Angst.' oder was? Einmal gehen wir runter und gucken nach. Und diesmal benehmen wir uns nicht wie kleine Mädchen."
"Aber du musst meine Hand halten."
Ich seufzte. "Okay."
"Das ist nur unser Spiegelbild...", murmelte Marie neben mir.
"Das hier ist ein Stehtisch.", fügte ich hinzu. Ich fragte mich, warum ein Stehtisch im Flur stand.
"Das ist das automatische Licht."
"Da vorne das Büro..."
"Und hier sind Geräusche, die sich wie eine sich öffnende Tür anhören.", meinte Marie.
Die Küche war nicht mehr weit.
"Und jetzt werden wir sehen, dass das Licht aus ist, und wir umsonst hierher gekommen sind.", vermutete Marie. Sie öffnete die schwere Tür. Ein heller Schein kam uns entgegen. Wir seufzten erleichtert. Wenigstens war der ganze Stress nicht umsonst.
Marie betätigte mit der rechten Hand den Lichtschalter. Die Lampen gingen aus und wir atmeten auf. "Schnell wieder auf unser Zimmer.", meinte Marie.
Wir eilten die Treppe hinauf.
Mir wurde klar, dass ich keine Angst hatte, allein zu sein, sondern davor, eben nicht allein zu sein.
Die letzten paar Meter rannten wir.
Marie stieß die Zimmertür auf. Ich wollte ihr folgen, doch sie trat zurück und rempelte mich an.
"Was zur Hölle?", fluchte ich.
Maries hysterischer Schrei hallte durch den Korridor.
Ich drängelte mich an ihr vorbei ins Zimmer.
Ein grauenvoller Anblick erbot sich mir.
Sophies Bettlaken war blutgetränkt.
Ihre linke Hand hing leblos auf den Boden.
Sie hielt den Zimmerschlüssel mit der Nummer 18 fest.
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