Der Wanderer über dem Tränenmeer
31.08.2021: Warum auch immer muss ich im Second hand Laden daran denken und dann erzähle ich meinem Papa von dem Klapperfahrrad vom Intellektuellen. Am Ende meiner Ausführungen will ich noch sagen: "Die ganze Zeit während ich hinter ihm gefahren bin, habe ich ihn mir so angeguckt und gedacht: irgendwie sieht er schön aus."
Aber stattdessen sage ich nur den halben Satz, merke dass er dumm wird, und halte dann inne. Ich komme nur so weit: "Die ganze Zeit während ich hinter ihm gefahren bin, habe ich ihn mir so angeguckt und gedacht - ..."
Mein Papa: "... wer ist kaputter: der Typ oder das Fahrrad?".
Ich lache zum ersten mal seit Tagen wieder aus dem Herzen.
Und das tut echt gut.
01.09.2021: Ich habe meine Projektarbeit und alle rechtlichen Probleme mit meiner Studienfinanzierung geklärt, für einen neuen Mitbewohner konnten wir uns auch entscheiden und ich hab mir Nebenjob-Schichten organisiert. Sogar das missgestimmte Familienlied klingt gerade eigentlich ganz in Ordung und ist als Hintergrundmusik gar nicht mal so schlecht. Jetzt kann ich in Frieden leben.
Ich gehe entspannt eine Runde im Wald spazieren und rufe eine meiner besten Freundinnen an. Die Freundin ist die Schwester vom Künstler. Der Künstler ist der beste Freund vom Intellektuellen. Ich erzähle der Freundin wie gut es mir geht, aber wie sehr ich mich vorher geärgert habe. In ein paar Tagen reise ich nämlich wieder nach Deutschland und gehe auf die Geburtstagsfeier vom Künstler, und meine Freundin und der Intellektuelle werden auch da sein.
"Weißt du Girl", sage ich zu der Freundin, die die Einzige ist, die ich Girl nenne "Ich bin gar nicht so sehr traurig, weil er zu mir scheiße ist. Oder vielleicht auch zu anderen aus Versehen scheiße ist. Ich bin traurig, dass er zu sich selbst so ist. Weil er eigentlich so einen schönen Charakter hat. Und weil er nicht so ist, wie er sein könnte."
Sie sagt nur: "Hmhm." und ich rede weiter "Und ich glaube, solange er ganz nicht bei sich ist, ist er ja auch nicht bei mir. Dann kann ich auch gleich alleine sein.". Sie schweigt, und ich frage sie: "Was ist denn Girl. Sag doch mal was! Du willst doch irgendwas sagen."
"Naja, eigentlich wollte ich es dir nicht sagen. Aber ich habe letztens mit ihm geredet. Er mag dich. Wirklich."
Ich quietsche den Wald zusammen. Und gleich danach ärgere ich mich schonwieder. Über mich. Und darüber, den Wald erschreckt zu haben. Die Schweden sind scheu, und eine Joggerin guckt mich ganz verwundert an, doch dann lächelt sie zurück, denn die Schweden sind scheu und lieb. "Warte mal, guter Witz.", sage ich dann aber, als ich mich ausgequietscht habe "doch ich brauche noch Kontext. Denn das scheint ein Insiderwitz zu sein.". Und dann erzählt sie mir von dem Gespräch.
Den halben Tag freu ich mich, und ärgere mich darüber dass ich mich freue, was aber nichts daran ändert, dass ich mich still und heimlich im Hintergrund weiterfreue. Aber am Ende des Tages fällt mit sowieso ein, dass das, was er vor meiner besten Freundin behauptet, doch noch lange nicht der Wahrheit entsprechen muss. Vielleicht hat er es nur dahergesagt, weil er sich denkt, dass sie später mit mir darüber reden würde. HA! Es lebe die Objektivität. Ich bin ein absoluter Realitäts-Detektiv.
02.09.2021: Das alte Familienlied muss kurz vor Urlaubsende nochmal etwas aufdrehen. Dann mach ich halt nen Moshpit. Oder vielleicht doch versöhnlich zusammen tanzen... wie wärs, wenn wir zu total unpassenden Genres genau einen anderen Tanzstil ausleben? Ballett zu aggresivem Rap, Foxtrott zu Techno, Raven zu klassischer Musik?
Abends (ich höre immenoch Phillip Poisel) denke ich daran, wie ich mit dem Intelektuellen im Industriegemäuer Musik gehört und getanzt habe. Es war seine Musik gewesen: bisschen rebellisch, bisschen raplastig, aber eigentlich ganz gut, und auch bisschen episch. Irgendwann haben wir uns umarmt. "Wusste garnicht, dass Slowdance zu Hiphop funktioniert.", hab ich in seine Jacke genuschelt und mir sein Lachen direkt am Brustkorb angehört und dort ungesehen vor mich her gegrinst. "Zu Hardcore Punk funktioniert es aber nicht.", hat er dann aber gemeint und nach einem Lied gesucht. Aber er behielt Unrecht und wir tanzten weiter und ich schmunzelte zufrieden in meinem nahen Versteck.
'Das wird jetzt unser Ding.', habe ich in diesem Moment gedacht. 'Wir beide. Slowdance. Zu allem.' Ich weiß gar nicht, ob ich es auch gesagt hatte. Aber ich glaube schon. Nur hatte er einfach keine Reaktion darauf gezeigt, deshalb erinnere ich mich auch nicht mehr daran, es gesagt zu haben. Wenn jemand in der Vergangeheit etwas nicht gehört hat, ist es dann so, als hätte ich es nicht gesagt?
Abends auf dem Heimweg von der Stadt erkläre ich meinem Papa den Begriff Shawty und sage dann, dass ich mich "Sophisticated Shawty" nennen würde, wenn ich Musik machen würde. Und wie stärkend und ermutigend und einfach wun-der-schön es ist, wenn man sich "Guten Appetit, Shawty", "Ich glaub an dich, Shawty" und "Lass dir das nicht gefallen, Shawty." sagt. Mein Papa hats vertstanden und gelacht. Unsere Choreographien waren wieder synchron.
03.09.2021: Der vorletzte Tag Schweden. Streit am Frühstückstisch, ich entschudlige mich, und dann gehe ich noch eine große Runde im Wald spazieren, während mein Papa am Laptop arbeiten muss. Das hätte ich jeden Tag so machen sollen, also, spazieren gehen meine ich. Irgendwie bin ich echt traurig, aber die Natur ist so schön dass ich mich ein bisschen schäme, für all die dummen Kleinigkeiten über die ich mir viel zu viele Gedanken gemacht hatte und machen werde. Doch jetzt gerade machte ich das nicht. Ich seh mir einfach nur die Natur an.
Phillip Poisel singt sein Lied "Freunde", und ich bleibe kurz stehen. Ich schicke das Lied drei Freundinnen, und habe das Gefühl, endlich mal wieder etwas richtig zu machen.
Moos und Nadelbäume, und es riecht so gut, und der Boden ist so weich, auf eine Art, wie nur Tannennadelboden weich sein und dich bodenständig schweben lassen kann. Ich ging unsere Runde die mein Papa und ich in den letzten Tagen immer gegangen waren, und dann bog ich ab. Um einen See, an den Rand einer Siedlung, in einen Wald, zu den Aussichtsfelsen. Irgendwie fühle ich mich gerade zu inkompetent, die Schönheit meines Wanderweges zu beschreiben, derweile würde ich das so gerne tun. Doch wenn wir nicht weiterwissen, greifen wir auf Worte zurück, die andere schonmal gefunden haben. Ich könnte jetzt bestimmt irgendetwas aus Heines Harzreise oder so zitieren.
Aber, ich kann auch sagen, dass mich mein Spazierweg mal an die Nord-, mal an die Ostsee erinnerte mit dem nadeligen Boden und den Wurzelwegen. Steilküstenstimmung, Dünenkiefer-Erinnerungen. Oder ich erkannte in dem Wald hier die sächsische Schweiz, das Elb-Sandsteingebirge, mit den schroffen Sandsteinfelsen und den Kletterwanderwegen, mit Geländern und Bänken aus dicken Baumstämmen. Und zwischendurch errinnerte mich alles einfach an eine Art Mischung aus allen Urlaubs-, Ausflugs- und Klassenfahrtsgefühlen, die ich je hatte und nie wieder haben werde.
Philipp Poisel sang die ganze Zeit, ein paar mal weinte ich fast, aber lächelte dann einfach, das ging auch. Und zwischen den Liebesliedern hörte ich Werbung für den Lotto Jackpot und die Bundeswehr. Da wurde mein Herz erst so richtig schwer.
Eine kleine Eidechse huschte vor meinen Füßen von der Wegseite mit dem Schilf zu der Wegseite mit den Binsen, das weckte mich irgendwie auf. Ich sah ein bisschen mehr nach oben beim Laufen. Ein Vater der einen Kinderwagen schob begegnete mit schon zum dritten mal auf meiner Runde, und wir mussten beide grinsen. Eine Oma machte akrobatische Ausfallschritte mit ihren Nordic-Walking Stöcken und als sie mich entgegenkommen sah, hörte sie auf damit, doch auch wir schmunzelten uns an. Menschen sind schön und glücklich, so sehe ich die Welt gerade. Trotzdem oder vielleicht deswegen werde ich melancholisch, aber auf eine gute Art.
Als ich ganz oben bin auf "utsiktspunkt", hab ich getanzt als gäbs kein Morgen mehr, denn ich war allein und tiefglücklich. Bin ziemlich rumgehüpft, und auf schiefen Felsen ist das nicht so leicht, aber ich hab mich echt frei gefühlt. Auch wenn ich dran denken musste, dass er Intelektuelle mich in dem alten Gemäuer auf die Idee gebracht hatte, und es immernoch meine Inspiration gewesen war. Doch es ist okay. Babs hat mal zu mir gesagt, dass das Parfum ihrer Exfreundin jetzt ihr eigenes Lieblingsparfum ist. Sie hat es zu etwas von sich gemacht und die Erinnerungen gehen lassen. So will ich das auch machen.
Erst nach dem Mittag komme ich wieder nach Hause, und mein Papa und ich fahren in die Stadt, damit ich mich auch von ihr verabschieden kann. Es wurde weiterhin ein echt schöner Tag.
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