Der Wanderer geht fast verloren
04.09.2021: Ich sitz im Flieger, der überraschend klein ist, als ein Mann mich interessiert fragt: "Har du Fensterplatsen?". Er ist 50 oder so, und als ich ihm sage dass das mein erster Flug ist, scheint er es mir tatsächlich bedingungslos zu gönnen, am Fenster zu sitzen. Außerdem spricht er Deutsch, weil er nach Schweden ausgewandert ist, wovon er mir gleich erzählen will.
Nachdem ich ihn noch eine Weile hinhalten kann, um das Abheben des Flugzeugs begeistert zu erleben, quasseln wir dann die ganzen anderthalb Stunden Flug, über alles: Umweltschutz (während wir bequem geschenkte Lufthansa-Schokolade futtern), Politik, Corona, Veganismus, Eigenverantwortung, die Menschen in Schweden und Mensch-Sein an sich. Ich glaube alle waren genervt, wir waren happy. Er fuhr sogar noch mit mir den Bus über den Flugplatz, wartete an der Gepäckausgabe mit mir auf meinen Koffer und zeigte mir den Weg zum Bahnhof. Er war ein richtiger Dad, und an der Rolltreppe verabschiedeten wir uns. "Danke, ich fand es sehr schön, dass wir nebeneinandersaßen.", sag ich, und er nickt und wünscht mir noch viel Glück im Leben.
Ich liebe solche Momente. Und manchmal denke ich, das Leben ist nur ein Konstrukt um solche Momente herum, nur ein Mittel zum Zweck, um diese zu ermöglichen. Das soll keine Abwertung sein, aber vielleicht hilft es, sich mit den leeren Tagen anzufreunden.
Ich will gar nicht näher drauf eingehen, aber dank der Hilfe von 4 Engeln in Form von DB-Mitarbeitern schaffte ich es trotz Bahnstreik irgendwie zu meinem Ziel. Manchmal denke ich mir, dass ich ständig am dankbaren Weinen sein müsste, weil ich wirklich immer an die lieben Menschen auf der Welt gerate.
Dann ging alles ganz schnell. Ich kam in der Heimatstadt meiner besten Freundin an. Ich fuhr mit der Straßenbahn zu ihr und wir zogen und schick an. Dann fuhren wir zu einem klassischen Konzert, in welchem ihr Freund Geige spielt. Wir waren 19:45 da, das Konzert begann 20:00. Und... ich. Ich hatte in der Straßenbahn meine Geldbörse verloren. Also rannte ich den Weg nochmal zurück, natürlich war sie nicht da, ich fragte alle die mir entgegen kamen und erntete nichts als bedauerndes Kopfschütteln und mitleidige Blicke.
An der Straßenbahnhaltestelle starrte ich einige Sekunden lang zwischen die Schienen und dachte kurz an gar nichts. Eine Frau fragte mich, ob ich ihr irgendeinen Weg sagen kann. Ich meinte nur: "Tut mir leid, ich bin nicht von hier. Aber haben Sie vielleicht zufällig eine Geldbörse gesehen?" Sie schüttelte den Kopf, aber wenigstens lachte sie und fühlte doch mit. Ich musste auch lachen "Na dann sind wir wohl beide ein bisschen verloren.". Sie nickte wild und grinste und ihre langen Haare vielen ihr dabei ins Gesicht. Wir wünschten uns aufrichtig alles Gute und ich rannte zurück zur Kirche. Meine beste Freundin und ich gingen als letzte rein, doch wir waren nicht zu spät, das freute mich. Ich war viel zu aufgekratzt um mich angemessen über den Verlust meiner Geldbörse aufzuregen, aber wahrscheinlich war das auch gut so.
Dann lehnten wir uns im Konzert aneinander an und machten die Augen zu. Alles war gut. Wunderschöne - selbergemachte - Töne erfüllten die Kirche und wir saßen hier und jetzt konnte erstmal nichts passieren.
Danach fuhren meine Freundin, ihr Freund und ich nochmal nach Hause um uns umzuziehen. Eine weitere Freundin kam, ich nenne sie die Gebende. Und den Freund nenn ich den Witzigen oder Besonnenen, kann mich nicht entscheiden. Ich nenne ihn den Sonnenwitz. Okay, linguistisch jetzt echt kein Meisterwerk, aber es sollte seinen Zweck erfüllen.
Wieauchimmer. Die Freundin, die Gebende und der Sonnenwitz und ich machten uns auf den Weg zur Geburtstagsparty vom Künstler. Und wir waren uns alle einig, dass dies die absolut epischste Feier und die Nacht unseres Lebens wird, denn unsere Partys sind bisher immer von mal zu mal besser geworden, es waren ein Haufen Menschen eingeladen und das Ganze befand auch noch im coolsten und abgefuckt-faszinierendsten lost linkem Stadtteil der Stadt. Dann kamen wir neugierig und 00:30-erwartungsvoll-hellwach an.
Und ich benutze nie das Wort whack. Aber diese Party war whack.
Spannend aussehende Leute standen in ihren geschlossenen Kreisen und redeten über ihre unantastbaren Themen, es war keine Musik, keine Action, keine Gemütlichkeit. Wir quetschten uns in einen Club-Keller-Irgendwas, dessen Wände voller Graffitti waren, unten war es stickiger als in der Umarmung von deiner Oma, die Musik war ...hässlich - und ich dachte mir: was ist denn das für ein abgeranzter Club? Bis wir wieder hochgingen, mir ein Bewohner im Treppenhaus entgegenkam und ich erstmal verstand, dass das nur der Keller eines Mietshauses war.
Gleich am Anfang hab ich ihn gesehen. Und war überrascht, wie wenig man für eine Person fühlen kann. Wir umarmten uns kurz und er meinte gleich, dass er nicht sehr zurechnungsfähig wäre. Ich nickte nur. Den Rest des Abends stand er neben mir und da hätte auch jemand anderes stehen können, ich tanzte und sang und schrie Liedzeilen, unbeirrt, so wie ich mich gerade fühlte. Er war ein Geist, mit dem ich kurz tanzte, kurz Augenkontakt hatte, und dann wieder durch ihn hindurch schaute und aus unserem Kreis heraus und auf die leere Straße hüpfte, um mich dort auszutanzen. Alleine und mit genug Platz. Meine Freundin lachte, sie mag wie ich tanze. Ich lachte zurück. Der Intelektuelle lachte auch, aber ich drehte mich weg. Und dann nur noch im Kreis im Kreis im Kreis.
Später würde ich mit ihm reden, er würde mit uns nach Hause fahren weil der Künstler ihn zum Übernachten eingeladen hatte. Irgendwie würde heute noch was passieren. Ich musste dem Abend nur noch Zeit geben. Auf einmal sah er auf sein Handy. "Halb Zwei. Um zwei muss ich zuhause sein." Ich sah ihn an. "Tschau, machs gut.", sagte er und wir umarmten uns irgendwie "Tschüs." echote ich ferngesteuert. "War aber auf jeden Fall schön, dich mal wiederzusehen.", meinte er. Ich sah ihn einfach nur an. Lächelte nicht, nickte nicht.
Er wusste es, oder zumindest wurde es ihm in diesem Moment klar, und er sah ertappt zurück. Dann riss er sich los, um eilig noch zu ein paar Leuten zu rennen und sie zum Abschied zu umarmen. Ich sah ihm dabei nach. Dann riss ich mich los, um nicht zu riskieren dass er nochmal nachsieht und sieht dass ich ihm nachsehe.
Ich ging erstmal ne Runde weg und spazieren. Als ich wiederkam - episch, als wäre ich nie weg gewesen - tantze ich nochmal so richtig aggressiv los und meine Freundin kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. "Das ist mein GIRL!" rief sie. Ich warf den Kopf in den Nacken und grinste mit geschlossenen Augen in den Sternenhimmel.
Dann hatten wir keine Lust mehr und fuhren nach Hause, und mit uns die Box und die Musik und das Tanzen. Wir machten uns nachts Nudeln und saßen in der Küche, meine Freundin, der Sonnenwitz, die Gebende, und ich. Und es war richtig schön. Die Gebende war bald müde und ging bald schlafen, und die Freundin und der Sonnenwitz machten rum und ich aß stoisch Nudeln. Aber eigentlich war ich echt glücklich, denn die beiden waren echt schön, ich hatte sie sehr lieb. "Du hast Wimperntusche von mir im Gesicht", sagte die Freundin zum Sonnenwitz. "Hab grad Wimperndusche verstanden. Warte mal... gibt es das, eine Wimperndusche?", fragte dieser.
"Ja.", sagte ich "Weinen.".
Irgendwann gingen die beiden ins Wohnzimmer und ich machte noch den Abwasch, der so groß war wie von zwei Wochen. Als ich fertig war krabbelte ich dann zur Gebenden ins Bett, machte ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken.
05.09.2021: Früh halb neun kamen der Künstler und ein Kumpel von ihm nach Hause.
Ich ließ meine Kreditkarten sperren und machte mit der Gebenden Frühstück. Dann redeten wir lange über sie und den Künstler. Denn bei ihnen war es fast wie mit mir und dem Intellektuellen, nur schon viel länger und viel schlimmer. Ich bedauere und bewundere sie dafür.
Und dann fiel mir mein Fahrrad ein.
Ich schrieb ihm so neutral wie möglich. Und irgendwie war ich froh, dass er noch mein Fahrrad hatte, und somit einen Grund, ihn nochmal zu sehen und reden zu können.
Nach und nach wurden alle wach und es wurde ein wunderschöner Tag den wir auf dem Balkon verbrachten. Der Künstler bekam Kuchen. Er saß weit weg von der Gebenden. Genau genommen weit weg von uns allen, denn wir alle saßen auf dem Balkon und er in seinem Fensterbrett neben dem Balkon. Ich reichte ihm Kuchen rüber. Er lächelte und wir schauten beide kurz in den Abgrund zwischen uns, und ich glaube wir dachten beide nicht an herunterfallenden Kuchen, sondern an Sterben. Dann sah er mich nicht noch einmal an und aß den Kuchen so wie ich gestern meine Nudeln, nur nochmal anders. Ich glaube, es geht ihm von uns allen hier am schlechtesten.
Ich beschloss noch eine Nacht bis Montag zu bleiben, um dann im Fundbüro anzurufen. Doch dies sollte nicht der einzige Grund bleiben. Zwei Sprachnachrichten vom Intelektuellen. Die Erste: Es tut ihm leid. Das ist der Grund, warum er sich die ganze Zeit nicht mehr bei mir gemeldet hatte, weil es ihm so unangenehm war. Mein Fahrrad war weg. Anscheinend war der Keller doch kein so geeigneter Platz gewesen. Aber er wird es mir natürlich auf jeden Fall ersetzen.
Und die Zweite: Und er freut sich aber, dass ich wieder da bin und er hat sich gefreut mich zu sehen. Und dass es ihm leid tut, dass er so bekifft und betrunken gewesen war und er so gerne mit mir geredet hätte.
Ah.
Ich sagte ihm, dass das Fahrrad nur 30€ gekostet hatte, dass es schon okay ist, und dass ich mir selber ein neues Fahrrad besorge. Und dass ich gestern so abwesend gewesen war, weil wir so lange nicht geschrieben hatten.
Und dann dachte ich: wie süß, deshalb hat er sich also nicht mehr gemeldet...
Aber die nächste Sekunde wurde mir klar: Warte mal, DESHALB hat er sich nicht mehr gemeldet?!!
Abends sagte meine Freundin in der Chinabox herumstochernd zu mir, ohne mich anzusehen, doch mich durchschauend: "Girl, das ist jetzt schon so mega toxic. Und derweile hat es noch nichtmal angefangen." Sie hatte ja Recht. "Du hast ja Recht.", sagte ich. "Ich weiß! HAHAHAHA.", sagte sie und schaute mich an, wie nur sie mich anschauen kann, und da musste ich einfach lächeln. Ich vergaß kurz meinen Ärger.
Und ich ärgerte mich nicht einmal, weil ich ihm den Wert meines Fahrrads geschenkt hatte. Oder weil ich mich wieder selbst so runtergemacht hatte und viel zu geduldig war.
Nein, ich ägerte mich, weil ich ihm die Chanche genommen hatte, Verantwortung zu übernehmen.
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