
Kapitel 60 ~ Machtübernahme
Das Lied war zu Ende. Die Schmetterlinge hielten abrupt in ihrem Tanz inne. Und mein Herz? Das setzte einen Schlag aus.
Ich hatte mit allem gerechnet, aber mit keinem Fluch, der seinem Mund entwich. Nicht nachdem ich so viel Mut zusammengekratzt hatte und versuchte, meine Angst zu überwinden.
Mit großen Augen sah ich ihn an. Die Tränen waren bereit zu fließen. Er selbst blickte aus dem Fenster hinter sich. Wahrscheinlich um sich nicht das Elend mit ansehen zu müssen.
War er dafür mitgekommen? Um mir zu sagen, dass er nicht dasselbe fühlte? Um mein Herz erneut zu zerschmettert, nachdem es schon fast geheilt war?
Ich spürte deutlich die kleinen Risse, die drohten es erneut auseinanderzusprengen. Es zog unangenehm. Und ich konnte kaum glauben, was gerade passierte.
Ich drehte mich um, zog an der Entriegelung der Autotür, nur um feststellen zu müssen, dass ich nicht fliehen konnte. Mit einem lauten Klack fiel der Hebel zurück.
Das hier war dann wohl meine persönliche Hölle.
Mein Fluchtversuch blieb nicht unbemerkt. »Lyn, so war das nicht gemeint.«
»Ach, nein? Wie meinst du es dann?«, wagte ich zu fragen. Meine Stimme zitterte, doch war es mir diesmal egal, ob er es hörte. Soll er doch spüren, was er mir antat.
Und das tat er definitiv. Sein Gesicht verzogen sich zu einer Grimasse, als hätte er irgendwo Schmerzen. In seinen Augen flackerte etwas zwischen den dicken Regentropfen auf.
»Als du mich das letzte Mal abgewiesen hast, kam mir das geradezu gelegen, denn ich musste mir keine Gedanken um ein Problem machen, das sich ergeben hätte, wenn wir zusammen zum Homecoming-Ball gegangen wären. Nachdem du so plötzlich vor meiner Haustür aufgetaucht warst, drohte es erneut zu eskalieren«, er machte eine Pause, nachdem seine Worte sich fast überschlagen hätten. Als hätte er Angst, mich nicht schnell genug von dem Gegenteil beweisen zu können.
Eindringlich sah er mich an.
War das gerade ein beschissenes Rätsel was ich lösen sollte?
Ich verstand nicht welches Problem er meinte und wie es mit mir zusammenhing. Die Rädchen in meinem Oberstübchen drehten sich unaufhörlich, dass sich sogar meine Tränen wieder verzogen.
Langsamer und beherrschter fuhr er fort. »Und dann gestern. Da hast du mir die Augen geöffnet. Du hast mir gezeigt, was ich will und das ist, dass dieses Problem keine Macht mehr über mich haben soll. Deshalb möchte ich ehrlich zu dir sein.«
Sein Grau bohrte sich in mein Blau. Wie Widerhaken hielten sie mich fest, damit ich auch ja kein Wort aus seinem Mund verpassen konnte. Dabei ließ er mich auf seine nächsten Worte warten, wie ein Glücksspieler auf die Bekanntmachung des Gewinners.
Dann schluckte er schwer, was ich deutlich hören konnte. »Ich mag dich, Lyn. Seitdem ich dir die Wette vorgeschlagen habe, gehst du mir kaum noch aus dem Kopf.«
Wieder war es still. Mit zusammengepressten Lippen wartete er auf eine Reaktion meinerseits, die im ersten Moment ausblieb.
Seine Worte hallten immer und immer wieder durch meinen Kopf. Wie die Rufe eines Bergsteigers, die von den Steinwänden der Berge zurückgeworfen wurden. Und doch konnte ich keins der Laute fassen.
Die ganze Zeit hatte ich auf diesen Satz gewartet. Er musste ihm eine Menge Überwindung gekostet haben und doch konnte ich es kaum glauben.
Er empfand das gleiche.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch trauten sich wieder aus ihren Verstecken. Tanzend breiteten sie sich von dort in meinem ganzen Körper aus. Der Schmerz in meiner Brust ließ nach. Mein Herzschlag beschleunigte sich und war sogar dafür verantwortlich, dass meine Ohren wieder Feuer fingen.
Mit zusammengepressten Lippen und starrem Blick, welcher das Grau schon lange verschwimmen ließ, wendete ich mich von ihm ab.
Es war noch nicht alles wieder gut zwischen uns. Er hatte mir noch ein paar Dinge zu erklären und wenn es sein musste, ich ihm.
Wenn das zwischen uns etwas werden sollte, mussten wir mit offenen Karten spielen. Auch wenn diese noch nicht heute alle zum Zug kommen würden.
»Was ist das für ein Problem, das du keinen Namen geben willst?«, fragte ich mit fester Stimme.
Ich war froh darüber, dass ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Deshalb sah ich wieder zu ihm herüber.
Christian entspannte sich unter den Klang meiner Worte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ihm unser Gespräch selbst auch so an die Nieren ging wie mir. Doch verdunkelten sich seine Augen erschreckend schnell. Er schien nicht gerne darüber zusprechen.
»Das Problem nennt sich Vater«, antwortete er mit tiefer Stimme. Er klang verärgert.
»Ich habe ihn gestern gar nicht gesehen«, dachte ich laut nach und bereute es sofort.
Christian sackte ein wenig in sich zusammen. Wahrscheinlich dachte er, ich würde es gar nicht bemerken, doch war es für mich eindeutig. Er war nicht nur verärgert, sondern auch traurig. Vielleicht sogar enttäuscht.
Hatte mein Herz sich eben erholt, so zog es sich gerade wieder schmerzhaft zusammen.
»Das mag wohl daran liegen, dass es gewisse Differenzen zwischen mir und meinem Vater gibt. Ich möchte nicht, dass du dazwischen gerätst«, sagte er und sah mich eindringlich durch seinen grauen Augen an.
Allein dieser düstere Ausdruck in ihnen brachte mein Herz zum flattern und mein Atem zum Stillstand. Ihm war es wichtig, dass mir nichts passierte. Das akzeptierte ich, doch war mir alles noch ein wenig unklar.
»Wie kann ich in einem Streit zwischen dir und deinem Vater geraten? Er kennt mich doch gar nicht.«
»Lyn, ich kann dir nicht versprechen, das es nicht passiert«, grollte seine Stimme tief durch das Auto.
Es verschaffte mir eine Gänsehaut. »Deshalb bist auch du auf Abstand gegangen? Du wolltest verhindern, dass das passiert?« Zumindest verstand ich das so, auch wenn er es nicht laut aussprach.
Er nickte und fuhr sich mit einer Hand durch sein Gesicht. »Ich will noch immer nicht, dass das passiert.« Er sah mich an. Wir sahen uns an. »Doch soll mein Leben nicht länger von meinem Vater bestimmt werden. Denn hätte ich gestern auf ihn gehört, dann hätte ich meine Chance auf ein Stipendium verbaut. Ich will selbst entscheiden können.«
»Und für was entscheidest du dich?«, fragte ich ihn bemüht, seinen Blick standzuhalten.
»Für meine Zukunft und gegen meinen Vater«, antwortete er bestimmt.
Er schien so sicher wie ein Fels in der Brandung, der jeden Sturm trotzen kann.
Ich war heute nicht die einzige zu sein, die die Macht über sich selbst zurückerobern wollte. Christian und ich sagen uns ähnlicher, als ich mir jemals hätte vorstellen können.
Ich nickte und wollte die Sache zwischen uns allemal klären. »Christoph war nur ein Vorwand, um nicht blöd da zu stehen, oder?«
Aufmerksam beobachtete ich ihn. Ich wollte mir kein Detail seiner Antworten entgehen lassen, weder wörtlich noch körperlich.
Ein Muskel zuckte in seinem Kiefer. Sein Blick klärte sich ein wenig.
»Ja, aber es war keine Lüge. Ich wollte dich fragen, nur gab Christoph mir den richtigen Anstoß. Wenn er mich schon ermutigte, dachte ich mir würde es auch nicht komisch für die anderen sein«, antwortete er ehrlich.
»War die Wette ein Vorwand, um mehr Zeit mit mir verbringen zu können?«, fragte ich das nächste gerade heraus, was mir einfach in den Sinn kam.
»Nein, es ging mir nur darum, Tanzen zu lernen. Du weißt ja, meine Mum ...«
Ich seufzte auf. »Ich weiß.«
»Das war nicht geplant, falls du das denkst«, meinte er mit Nachdruck.
Ich spürte, dass es ihm wichtig war, dass ich wusste, dass es ihm ernst mit mir war.
Bei dem Gedanken füllte eine wohlige Wärme meinen Körper, dabei war es draußen schon recht kalt für Oktober und die Lederjacke lag neben mir auf dem Sitz.
»Und das soll ich dir jetzt glauben?«, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue und frechem Grinsen auf den Lippen.
Erschrocken sprangen Christians Brauen in die Höhe. Seine Augen fanden meine Lippen. Seine eigenen verziehen sich daraufhin zu einem kleinen Lächeln.
Dann lachten wir beide. Meine Schmetterlinge tanzten im Rhythmus meines bebenden Brustkorbs.
Schnell wurde ich aber wieder ernst. »Die wichtigste Frage fehlt jedoch noch. Der Kuss ...«
»Ob er nur ein Experiment für mich war?«, fragte nun er.
Langsam nickte ich.
Damals hatte ich es so betitelt. Er hatte es weder verneint noch bejaht. Also was war die Wahrheit?
»War er nicht. Ich war überrumpelt. Vor allem, da es eben mein erster war, aber ...«
»Oh Gott-«, unterbrach ich ihn, als mich die Scham überrumpelte, nachdem ich hörte, dass es sein Erster war. »hätte ich gewusst, dass es dein erster wäre, dann hätte ich es doch niemals getan!«
Ich schlug meine Hand vor dem Mund und sah ihn mit großen Augen an. Vielleicht hätte ich eher meine Ohren verdecken sollen, da diese wieder in Flammen standen.
Ihm das wegzunehmen, war nicht meine Absicht. Den ersten Kuss mit jemanden zu erleben, den man wirklich liebt, war etwas ganz Besonderes und Berauschendes zugleich. Irgendwie plagte mich ein schlechtes Gewissen.
Zumindest bis er eine große Hand nach meiner griff und sie von meinem Gesicht wegführte. Kleine Stromschläge pulsierten von dort, wo er mich berührte, durch meine Adern.
Langsam blickte ich auf in die grauen Augen. Er bäugte sich zu mir rüber. Mein Atem stockte.
Käme er noch näher, wäre ich hyperventiliert.
»... ich hätte mir niemand Besseren dafür vorstellen können.« Sein Atem streifte meine Wangen. Ein Schauer jagte von dort über meinen Nacken den nächsten.
Unsere Hände sanken auf den Sitz neben uns. Der Druck seiner Hand nahm an Intensität zu. Rationales denken, wäre für mich gleich kaum noch möglich wie in dieser einen Nacht. Geschweige denn von meinem Herzen, das in seinem Sprint stolpern könnte.
Meine Augen gelitten zu seinen schmalen Lippen, die einen Spalt weit offen standen. Es waren nur wenige Zentimeter zwischen uns. Jeden Augenblick würde ich schwach werden, ihn zu mir herüberziehen und küssen. Doch zog er sich schon wieder zurück.
»Wir sollten reingehen«, meinte er mit belegter Stimme und verließ fluchtartig den Wagen.
Die eisige Kälte, die er hinterließ, als er meine Hand losließ, klärte meinen Kopf. Enttäuscht atmete ich die angestaute Luft in meiner Brust aus. Ich schloss meine Augen.
Warum zog er sich zurück, wenn er dasselbe fühlte wie ich?
Ich öffnete sie wieder und starrte auf den leeren Platz neben mir. Es dauerte gefühlt eine halbe Ewigkeit, bis Christian den Wagen endlich umrundet hatte. Diese brauchte ich auch, um zu begreifen, dass es nicht an mir lag, sondern viel mehr darin, dass er keine Erfahrungen damit hatte.
Die Tür neben mir ging auf. Ein eisiger Windzug erfasste meine gelockten Haare und einzelne Strähnen kitzelten mir um die Nase.
Wenn er nicht den ersten Schritt - oder eher den zweiten? - tun konnte, dann war ich diejenige, die es tun würde.
Ich drehte mich in Richtung des blauen Abendhimmels. Doch statt in die mir alt bekannten Sterne blickte ich in einen grauen Sturm der Gefühle, der drohen könnte, mich mitzureißen. Ab dem heutigen Tag an war er keine Bedrohung mehr für mich, denn ich hatte mich entschieden, mich von ihm tragen zu lassen. Und ich hatte keinen Zweifel daran, dass er mich nicht behüten könnte.
In dem Sichtfeld des Sturms drängte sich eine Hand, die ich ohne zu zögern ergriff. Wie ein Gentleman half Christian mir aus dem Auto, dessen Schwung ich nutzte, um ihn keinen Ausweg mehr möglich zu machen.
Unsere Lippen kollidierten zu schnell miteinander. Ich hatte nicht kommen sehen, dass er sich mir entgegenbeugte. Statt einen Funken entfachte er sofort das Lauffeuer in mir.
Mit wild pochenden Herzen, dessen letzten Fugen mit dem Kleber Christians Zuneigung versiegelt wurden, platzierte ich seine Hand an meinen unteren Rücken. Allein die kleine Berührung meiner nackten Haut an dem Rückenausschnitt meines Kleides brachte mich aus dem Konzept und ließ die Flamme in mir flackern.
Ein kurzer Augenblick, der mich von Christian lösen ließ, nur um in seinen Augen tiefer zu versinken als beim letzten Mal. Sein Atem peitschte gegen meine Wange und ließ mich völlig vergessen, wie kalt es eigentlich schon draußen war.
Doch ein Gedanke war noch immer ganz klar in meinem Kopf, egal wie sehr er mir diesen auch verdrehte.
»Christian, - «, hauchte ich. Sein Name löste sich im Nebel der Nacht auf. »da gibt es noch so viel, dass zwischen uns steht.«
Seine freie Hand wanderte meinen Körper hinauf. »Nicht heute - nicht jetzt.« Er fing eine Strähne, die sich in mein Gesicht verirrt hattem, auf und schob sie aus unserem Sichtfeld. Danach überschwappte seine graue See meinen Eisblock. »Ein Schritt nach dem anderen.«
Er hauchte mir einen federleichten Kuss auf die Lippen. Meine Hand fand seinen Nacken.
»Lyn, ich sags dir gerne noch einmal: Du bist hier nun sicher. Niemand wird dir so schnell wehtun. Und ich werde alles Mögliche tun, damit es so bleibt«, versprach er.
Es trieb mir die Tränen in die Augen. Denn die Realität war eine andere. Man konnte nicht einfach so verhindern, dass jemand verletzt wurde. Niemand war dazu in der Lage, denn das war eben der Lauf des Lebens. Menschen verletzten einander gewollt als auch unbewusst.
Wir konnten nur damit lernen zu leben und das wollte ich. Der Schmerz würde mein ständiger Begleiter werden, doch würde er niemals mehr Macht über mich erhalten als ich über mich selbst. Das ließ ich nicht mehr zu.
»Denn ich entscheide mich auch für dich«, fügte er seinem Versprechen hinzu.
Allein dieser Satz brachte mein Herz zum Überquellen.
Ich zog Christian wieder zu mir herunter. Der Weg war diesmal nicht alt zu lang, denn auf den hohen Schuhen war ich seinem Gesicht doch einen Stück näher.
Dieser Kuss sollte länger anhalten. Christian schien auch gar nichts dagegen zu haben, denn seine Arme hielten mich genauso festumklammerte wie meine seinen Nacken.
Seine weichen Lippen schmiegten sich an meine, als wären sie geschaffen für mich. Oder waren meine geschaffen für seine? Egal, es fühlte sich perfekt an.
Christians wohlige Wärme umgarnte mich, dabei dachte ich, das Feuer in mir wäre schon heiß genug, um mich diesen Winter durchzubringen. Deswegen entfleuchte mir sogar ein Seufzten, welches er mir seinem Mund abfing.
Dieser Kuss war kaum vergleichbar mit dem Ersten. Er traute sich selbst, die Initiative zu ergreifen und das nicht gerade zögerlich. Würde er weiter so an meiner unteren Lippe saugen, würde ich wie Gummi in seine Arme fallen. Den Schalter für meinen Verstand hatte er schon lange umgelegt und abgeschaltet. Ihm schien es ähnlich zu gehen.
Zumindest bis ein grelles Licht unsere Sinne wieder weckte. Wir lösten uns voneinander, dennoch eng umschlungen. Gleichzeitig blickten wir in die Scheinwerfer eines Autos, welches auf dem Parkplatz herumkurvte und eine Lücke zu suchen schien.
Glücklich grinsend lösten wir uns voneinander. Und zum ersten Mal sah ich Christians einseitiges Grübchen wegen mir lachen. Das Feuer in meinem Bauch verwandelte sich in die altbekannten Schmetterlinge. Nichts könnte mich heute Abend glücklicher machen oder ihn gar versauen.
Bevor Christian die Tür des Wagens zuschlug, schnappte ich mir meine Jacke und hängte sie über meinen Arm. Danach hielt er mir seinen Arm hin, damit ich mich unterhaken konnte, doch zögerte ich.
»So kann ich dich da nicht reingehen lassen«, meinte ich und wuschelte mir einer schnellen Bewegung durch seine gegelten Haar. Zum Protest gab ich ihn keine Zeit.
»Besser?«, fragte er mich und zog seine Augenbrauen in die Höhen.
Noch zeigten seine kurzen dunklen Haare in eine Richtung. Jedenfalls war dies tausendmal besser, als den geleckten Buben eines Millionärs in den Saal führen zu müssen.
»Definitv.« Zufrieden harkte ich mich bei ihm ein und zusammen liefen wir Richtung des Schulgebäudes.
Grinsend schüttelte er neben mir mit dem Kopf.
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