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Louis' POV:
Auch noch eine Woche später war ich völlig weggetreten und fühlte mich wie in einer Seifenblase voller Glück, in der nur ich schweben konnte. Zwar musterten mich meine Brüder immer mal wieder mit gerunzelter Stirn, verliehen ihrem Misstrauen allerdings sonst nicht weiter Ausdruck, sondern akzeptierten, dass ich öfter mal vollkommen versonnen aus dem Fenster starrte oder permanent Tagebuch schrieb.
Das Tagebuch war auf dem Mist von Sophies Tante gewachsen, weil ich direkt am Montag nach dem CSD bei ihr aufgeschlagen war, das wohl fetteste Grinsen der Welt im Gesicht. Zuerst hatte sie bei meinen Erzählungen, wie toll das alles war, wie akzeptiert ich mich gefühlt hatte und wie gut der anschließende Sex mit Harry gewesen war, ebenfalls gelächelt, bis ich schließlich Alec erwähnt hatte.
"Sie wohnen noch dort?", war ihre Frage gewesen, die sich aus ihrem Mund wie eine Drohung anhörte.
Daraufhin war Wut in mir aufgekocht und ich hatte geschrien, dass das verdammt schwer war und ich tierische Angst hatte, auf eigenen Beinen zu stehen und am Ende womöglich auf die Schnauze zu fallenn - da hatte sie ein kleines Notizbuch gezückt.
"Ich kann Ihre Wut und Ihre Befürchtungen verstehen, Louis", hatte sie gesagt, was mir noch ein ungläubiges Schnauben entlockt hatte, bevor ich tatsächlich das Büchlein in den Händen hielt und sie erklärte, was ich damit sollte.
"Ich wette, das letzte Mal, dass Sie Tagebuch geschrieben haben, ist einige Jahre her. Ich möchte, dass Sie wieder damit anfangen. Sie müssen nicht viel schreiben, nur wenige Stichpunkte, was Sie so erleben, was so in Ihrem Umfeld passiert. Vielleicht, was sie glücklich macht, oder was Sie stört. Aber-" Sie hatte ihren Satz mit einer kunstvollen Pause unterbrochen, um auf ihrem Sessel etwas nach vorne zu rutschen und mich genau zu mustern.
"Aber trotzdem habe ich noch eine Aufgabe. Schreiben Sie einen Brief an Ihr Zukunftsich. Versuchen Sie, sich vorzustellen, wie Ihr Leben in ein paar Jahren aussehen könnte. Wohnen Sie noch bei Alec? Sind Sie noch mit Harry zusammen? Leben Sie überhaupt noch in Frankfurt, oder haben Sie eine Ausbildung irgendwo anders angefangen? Haben Sie noch Kontakt zu Nia und Niall? Lassen Sie sich ruhig Zeit dabei und schreiben Sie das auf, was Ihnen Ihr Herz verrät."
In diesem Augenblick hatte ich sofort angefangen, belustigt zu lachen, doch mittlerweile kam diese Aufgabe mir gar nicht mehr dumm vor - ganz und gar nicht. Stattdessen nutzte ich den ruhigen Samstagnachmittag und verkroch mich in mein Zimmer, wo ich mich bäuchlinks auf mein Bett schmiss und nachdenklich das Buch aufklappte.
Die ersten Seiten hatte ich bereits gefüllt und mit einem Schmunzeln erkannte ich, dass meine Gedanken die meiste Zeit über Harry galten - welch Wunder. Einmal hatte ich sogar versucht, eine Zeichnung von ihm anzufertigen, was mir allerdings eher misslungen war - Harrys Gesicht wirkte viel zu kantig und seine Hände waren überdimensional groß.
Dennoch war ich irgendwie stolz auf das Geschmiere, zumal ich trotz der kleinen Fehler Harrys Schönheit ohne Umschweife entdeckte.
Noch einmal strich ich über die Bleistiftstriche, dann blätterte ich eine neue Seite auf und seufzte. Was zum Teufel sollte ich denn bitte meinem Zukunftsich schreiben? "Hi du Arschloch, warum hast du so lange gebraucht?"
Wohl kaum.
Doch je angestrengter ich nachdachte, desto mehr spürte ich, wie die Wut wiederkam, weshalb ich ihr schließlich nachgab und beim Schreiben so fest aufdrückte, dass ich beinahe das Papier durchdrückte.
"Hi Louis.
Oder doch lieber Arschloch? Wichser? Feigling? Idiot?
Mir fallen eine Menge Namen für dich ein, denn ich kann nicht glauben, dass du das so lange mitgemacht hast. Aber tja... irgendwie musst du es ja geschafft haben, Alec zu entkommen. Ich wünschte, ich wüsste, wie du das hinbekommen hast. Lange halte ich das nämlich nicht mehr aus.
Egal.
Du hast geheiratet. Harry.
Kaum zu glauben, dass du dich wirklich auf einen Mann eingelassen hast, obwohl du jahrelang gegen "Homos" gehetzt hast. Aber wahre Gefühle kann man nicht verstecken, was?
Ich hoffe, du sahst gut aus in deinem Anzug und hast Harry hinterher gezeigt, dass er mit dir die richtige Entscheidung getroffen hat.
Nia ist ausgezogen, das hab ich auch mitgekriegt. Schade eigentlich, sie war so nett und hat dich immer gut behandelt. Aber seinen Mann teilt man nun mal nicht gern. Und dass du dabei besser abgeschnitten hast, ist schon ein kleines Wunder.
Schließlich könnte Harry jeden -"
Plötzlich flog meine Zimmertür auf und ein völlig wutentbrannter Alec stand vor mir, der Kopf feuerrot und die Hände zu festen Fäusten geballt. Noch bevor ich fragen konnte, was los war, hatte er mich gepackt und ins Wohnzimmer gezerrt.
Dort hockten meine anderen Brüder zusammen mit Sascha vor der Glotze und stierten auf einen Bericht vom CSD - mit mir auf der Bildfläche.
Schlagartig wurde mir übel und ich spürte, wie meine Knie butterweich wurden. Verdammte Scheiße, da hatten die Reporter doch vergessen, meinen Teil rauszuschneiden.
"Guck mal, was mir meine Freunde Jeremy und Charlotte zugeschickt haben", hörte ich Alecs drohende Stimme dicht an meinem Ohr zuerst verstand ich nicht, was er meinte, bis ein Schnitt im Film gemacht wurde und in der nächsten Einstellung die beiden der Kamera gegenüber standen.
Sie zogen ihre Perücken vom Kopf und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich die beiden kannte - ich war ihnen schon mal mit einer flüchtigen Begrüßung in der Stammkneipe über den Weg gelaufen. Nur war mir das in meiner Euphorie beim CSD natürlich nicht aufgefallen.
"Ich hab schon geahnt, dass du diesen Dreckssack noch triffst und nur so tust, als ob. Deswegen habe ich die beiden um einen kleinen Gefallen gebeten", zischte er, wobei Spuckefetzen meine Ohrläppchen benetzten und mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte.
Währenddessen umklammerte er immer fester mein Handgelenk, weshalb ich garantiert später blaue Flecken haben würde - was im Anbetracht seines Zornes jedoch mein geringstes Problem sein würde.
"Wir dulden keine Schwuchtel in unserer Familie", fuhr Alec lauernd fort und drehte mich zu ihm, eine Hand an meinem Kinn, damit ich ihn angucken musste. "Du kannst froh sein, dass ich dir nicht sämtliche Knochen breche."
Inzwischen liefen entgegen meines Willens Tränen über meine Wangen und ich merkte, wie mein Magen sich gefährlich zusammenkrampfte.
"Ich will keine Schande in meinem Haushalt haben", raunte mein ältester Bruder mir nach einer Weile, in der er mich bloß mit zusammengekniffenen Augen betrachtet hatte, zu, danach drehte er meinen Kopf zum Fernsehbildschirm, wobei mein Genick ein ekliges Knacken von sich gab.
Auf der Bildfläche war zu sehen, wie ich fröhlich mit meiner Regenbogenflagge tanzte, während Harry neben mir stand und mich immer wieder verstohlen ansah, ein Lächeln auf den Lippen. Wir hatten so glücklich ausgesehen. Fuck.
Mit einem Ruck riss Alec meinen Kopf wieder in seine Richtung. "Du wirst gleich deine Sachen packen und von hier verschwinden. Entweder kommst du morgen früh wieder, und dann verhälst du dich genau so, wie wir das wollen. Ohne auch nur eine Widerrede. Oder du kommst nie wieder. Dann werde ich aus der Wohngemeinschaft austragen lassen. Du wirst nie wieder mit uns reden, geschweige denn das Grab von Mama und Papa besuchen. Keinen Cent wirst du von ihrem Erbe oder von uns sehen. Du bist dann für mich gestorben."
Er ließ mich los und trat nach mir, sodass ich in mein Zimmer raste, fast über meine eigenen Füße stolpernd. Schnell klaubte ich die wichtigsten Sachen zusammen, dann beeilte ich mich, die Wohnung zu verlassen.
Erst als ich kurz darauf unten auf der Straße stand, ließ meine innere Anspannung nach und ich kotzte in den nächstbesten Mülleimer. Rotze lief aus meiner Nase und nachdem ich mir über die Wangen gewischt hatte, hing sie mir quer im Gesicht, was mir jedoch herzlich egal war.
Ich fühlte mich elend, zitterte am ganzen Körper und hatte absolut keine Ahnung, wie das eben passieren konnte. Warum hatte Alec etwas gemerkt? Und warum hatte er seine Drohung nicht wahr gemacht und mich gleich verprügelt? Immerhin hätte ich dann mit etwas Glück tot sein können.
So blieb mir nur übrig, mich mit allerletzter Kraft in die nächste S-Bahn zu schleppen und mit bebenden Fingern Harrys Nummer zu wählen. Sobald seine Stimme am anderen Ende der Leitung ertönte, brachen erneut meine Dämme und ich schluchzte laut auf.
"Harry? Es... es ist was furchtbares passiert."
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