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Harrys POV:
Wir fanden ihn nicht.
Und zwar nicht, weil wir vergeblich in jedem Winkel Frankfurts suchten, nächtelang durch Sachsenhausen irrten und ich ihm hunderte Nachrichten auf der Mailbox hinterließ, sondern weil ich sein Gehen akzeptierte, so schwer es mir auch fiel.
Denn obwohl ich oft nachts wach lag und mir wünschte, ich könnte sein Gewicht auf meinen Hüften spüren und meine Hände in seinen Haaren vergraben, lähmte mich der Gedanke, erfolglos zu sein.
Ich befürchtete, er könnte mich noch einmal zurückweisen, wenn ich mich doch bei ihm meldete. Also redete ich mir ein, die Zeit würde alle Wunden heilen und versuchte, Nia ein guter Freund zu sein.
Ich merkte, dass sie einserseits zwar ebenfalls Louis zu vermissen schien, oder zumindest ab und zu ratlos in der Küche stand, auf den leeren Stuhl blickend, aber andererseits schien sie innerlich aufzuatmen.
Beim Sex wurde sie wieder hemmungsloser, zoffte sich mit Raul im Klapperfeld wegen jeder Kleinigkeit, nur um anschließend ihm um den Hals zu fallen und wieder Frieden zu schließen, sang lauter ihre Lieblingslieder mit und scherzte beim Arbeiten in der Suppenküche mit einigen Obdachlosen, während ihre langen Haare im Schein der Sonne heller wurden und ihr an lauen Nächten, in denen wir oft mit den Fahrrädern am Main oder der Nidda entlangfuhren, über die Schulter wehten.
Wir verabredeten uns mit Sophie, Raul, Niall, Liam und Zayn manchmal zum Containern, was im Sommer zwar immer ein höheres Risiko darstellte, da die Lebensmittel schnell drohten, in den Mülleimern der Supermärkte schlecht zu werden, doch trotzdem konnten wir einige Mengen Obst, Gemüse, Backwaren und gar nicht so selten sogar Sojaprodukte, die gerade mal einen Tag alt waren, ergattern.
Von den Ausbeuten bereiteten wir teilweise Grillspieße vor und trafen uns am Tag drauf bei Nialls Oma zum Grillen, die einen Schrebergarten im östlichen Teil Frankfurts hatte. Von dort aus hatte man einen perfekten Blick auf den Main und konnte einzelnen Ruderern und Ausflugsdampfern bei ihrem Treiben beobachten.
Es war schön, mit einem kühlen Bier in einem Klappstuhl zu sitzen und genüsslich die Sonne zu genießen, keine Frage, allerdings führten meine Gedanken mich immer wieder zu Louis zurüxck und ich fragte mich instinktiv, was er genau in diesem Augenblick tat.
Ließ er sich auch von Alkohol und Zigaretten das Gehirn benebeln, oder prügelte er sich schon wieder mit wehrlosen Menschen? Die Vorstellung daran ließ mich sofort zusammenzucken, weshalb ich mich kurz schüttelte und danach meine Aufmerksamkeit auf meine Freunde lenkte, die neben mir an einem alten Plastiktisch hockten und Poker spielten.
Niall fing prompt meinen Blick auf und lächelte aufmunternd, woraufhin ich möglichst überzeugend einen Munwinkel hob. Er wusste, wie sehr mir Louis fehlte und wollte mich immer wieder dazu überreden, ihn zumindest mal anzurufen - jedoch blieb ich stur in meinem Schneckenhaus und statt ins kalte Wasser zu springen, bemitleidete ich mich lieber heimlich selbst.
So auch jetzt. Entgegen seiner Einladung, mit in seine Karten zu schauen, stand ich auf und verabschiedete mich zu einem kleinen Spaziergang.
Mein Weg führte mich entlang des Flusses, der von riesigen Bäumen gesäumt waren, die angenehm Schatten spendeten. Ab und zu raste ein Fahrradfahrer an mir vorbei und auf den einzelnen Grünflächen tobten verschiedene Hunde miteinander.
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn Louis nun an meiner Seite war und plötzlich übermannte mich eine solche Traurigkeit, dass ich kraftlos auf die nächstbeste Parkbank fiel und erschöpft den Kopf hängen ließ.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger verstand ich, warum ich ihn so sehr vermisste - immerhin hatten wir nur wenige Tage miteinander geteilt und er hatte mich garantiert schon wieder vergessen.
Seufzend vergrub ich meinen Kopf zwischen meinen Knien und atmete einige Male tief durch, bevor ich mich wieder aufrichtete und eine junge Frau bemerkte, die es sich an einem Baumstamm bequem gemacht hatte und in irgendwelchen Sachbüchern blätterte - wahrscheinlich war sie Studentin und bereitete sich auf eine Klausur vor.
Etwas wehmütig erinnerte mich an die Zeit zurück, in der ich auch noch studiert hatte, ehe ich im dritten Semester frustriert abgebrochen und beschlossen hatte, mein Leben der Antifa und dem Punkdasein zu widmen.
Wenn ich es mir recht überlegte, begleiteten mich seitdem trotz aller Freiheiten immer wieder Existenzkrisen, da das Geld oft nur knapp reichte und auch meine Eltern nicht ständig meine Hilfe im Restaurant gebrauchen konnten - zumal ihnen mein Auftreten sowieso missfiel.
Ich dachte an den Tag im Treppenhaus zurück, wo ich Louis nach unserer gemeinsamen Nacht abgefangen hatte. So wie er damals von mir gesprochen hatte, hatte es sich angehört, als hätte ich das perfekte Leben, was absolut nicht stimmte - erst recht nicht jetzt.
Momentan schmerzte mein Herz, wenn mir Louis in den Sinn kam, und ich fragte mich andauernd, ob ich etwas hätte ändern können, um ihn am Gehen zu hindern. Wenn ich mich von Nia getrennt hätte, wäre er vielleicht noch hier, würde sich jetzt wegen irgendeinem dummen Spruch meinerseits vor Lachen krümmen und sich an mich kuscheln, seine Lachfalten direkt in meinem Blickwinkel.
Ich würde seine filigranen Finger umschlingen und ihm eventuell einen Kuss auf die Knöchel drücken, wodurch er bestimmt nur noch mehr kichern müsste und ich mich erneut in ihn verliebte.
Traurig lächelnd zückte ich mein Handy, das inzwischen wieder repariert war und in dessen Fotogalerie sich ein Potrait von Louis kurz nach dem Friseurbesuch befand. Er hatte unglaublich schön ausgesehen und man hatte förmlich gespürt, wie in an diesem Tag ein Stein vom Herzen fiel - den er am nächsten Abend mir zuspielte, indem er sich mit Lena traf und nicht mehr wiederkam.
Ich hatte es geahnt und dennoch hatte ich ihn nicht festgehalten, hatte ihm nicht noch tausend Mal gesagt, wie viel er mir bedeutete, dass ich auf ihn aufpassen würde.
Sobald ich die Galerie schloss, stach mir widerum mein Hintergrundbild ohne Umschweife ins Auge, das ein Selfie von mir und Nia war. Wir hatten die Wangen aneinander gelegt und schielten in die Kamera, während sie die Zunge rausstreckte.
Es war etwas älter und wenn mich nicht alles täuschte, waren wir zum Zeitpunkt der Aufnahme erst kurz zusammen gewesen. Die Anfangsphase unserer Beziehung war wunderschön gewesen - zahllose Samstage im Bett, an denen wir drei Filme hintereinander wegguckten und dabei Unmengen Eis verdrückten, damit wir den Tod der einzelnen Hauptfiguren zumindest halbwegs überlebten, oder verregnete Sonntage, an denen wir in der hintersten Reihe des Kinos rumknutschten und abends zu zweit in der Badewanne lagen. Außerdem gingen wir zusammen auf unsere ersten Demos, malten gemeinsam die buntesten Plakate und mischten uns ins Gedränge, wobei ich ihre Hand nie losgelassen hatte.
Als Louis aufgekreuzt war, hatte ich kurz das Gefühl gehabt, ihre Hand losgelassen zu haben, aber trotz all der Herzenssprünge, für die er verantwortlich war, liebte ich Nia mehr denn je. Nachdem Sophie mich so zusammengestaucht hatte, was auch wirklich nötig gewesen war, hielt sie mich mittlerweile ab und zu am Handgelenk fest, zog mich zu sich und wollte ganz behutsam wissen, wie es mir ging.
Inzwischen verstand sie besser, wie ich für zwei Menschen gleichzeitig Gefühle haben konnte, und auch Nia hatte mir erst gestern versichert, dass es für sie okay war, über eine Dreiecksbeziehung nachzudenken, falls Louis wiederkehrte.
Nur kam er nicht wieder. Ich erwischte mich zwar dabei, wie ich die Passanten abscannte in der Hoffnung, ihn vielleicht zufällig zu entdecken, aber meine Augen spielten mir lediglich einen Streich, wenn ein Kerl vorbeigejoggt kam und ich mir prompt einbildete, er hätte Louis' eisblaue Augen. So idiotisch.
Noch eine Weile verharrte ich auf der Bank, bis ich schließlich wieder aufstand und kehrt machte in Richtung Gartenanlage. Als ich wenig später wieder von meinen Freunden umgeben war, die von Nialls Oma bereits den Nachtisch serviert bekamen, ließ ich mich neben meiner Freundin fallen und legte meine Hand auf ihr Knie.
"Hast du gewonnen?", fragte ich unverfänglich, damit mir hoffentlich niemand anmerkte, wie sehr ich mit den Tränen gerungen hatte.
Tatsächlich nickte sie stolz, bevor sie eine Erdbeere in der großen Sahneschüssel in der Mitte des Tisches versenkte. Ich tat es ihr gleich und kurz darauf waren wir ausschließlich damit beschäftigt, uns abermals die Bäuche voll zu schlagen, während Frau Horan erzählte, welche Pläne sie für den Garten noch hatte und Niall ihr versicherte, ihr dabei zu helfen.
Am Horizont ging langsam die Sonne unter und ich spürte, wie meine Muskeln sich entspannten. Ja irgendwann würde das Vermissen nachlassen, ganz bestimmt.
Dieses Vorhaben wurde jedoch jäh zerschlagen, kaum dass Sophies Handy klingelte und sie aufstand, um einige Meter von uns entfernt zu telefonieren. Kurz darauf kehrte sie zurück, hatte ihre Zunge zwischen den Zähnen und taxierte mich mit nervös zuckenden Lidern.
"Das war meine Tante. Sie darf es eigentlich nicht sagen, aber sie wollte uns wissen lassen, dass Louis heute bei ihr war."
meinungen? ich liebe euch. xx
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