PART 02, deja vu
Dort saß sie. Ganz still am Fenster, ein dunkelrotes Tuch um die Schultern tragend. Sie wäre Pietro vermutlich nicht mal wirklich aufgefallen, wären da nicht diese langen haselnussbraunen Locken gewesen, die auf dem Tuch über ihren Schultern betteten. Sie kam ihm so vertraut vor.
Sonnenstrahlen fielen durch das große Fenster auf die junge Frau und tauchten ihr blasses Gesicht in ein warmes Orange.
Sie streckt ihre Hand aus um sie im Sonnenschein zu betrachten, die Strahlen tanzten zwischen ihren zarten Fingern und der Staub wirbelte durch die klare Luft.
Ihre Lippen waren an einigen Stellen durch die November Kälte aufgeplatzt, wenn sie mit der Zunge darüber fuhr konnte sie ein wenig Blut schmecken. Sie strich abwesend mit dem Zeigefinger über die krustigen Stellen, ihre grünen Augen huschten wach umher. Der schwarze Nagellack auf ihrem Finger war schon recht brüchig und löste sich bereits.
Gedankenverloren zog sie das Tuch fester um die Schultern und legte die Hände in ihren Schoß. Sie drehte ihren Kopf ein Stück zur Seite, um einen flüchtigen Blick von dem blonden Mann im Türrahmen zu erhaschen.
Sie hatte ihn bemerkt. Wie er dort im Rahmen verweilt war, als er wenig zuvor die Tür geöffnet und den Raum betreten hatte. Kurz musterte sie den Mann, sie konnte ihn nicht zuordnen, doch kam er ihr irgendwie bekannt vor.
„Alles in Ordnung?" Andrej Ivanov's gutmütig braune Rehaugen sahen ihn fragend an. Pietro war so in Gedanken gewesen, dass er ihn gar nicht hatte kommen hören, obwohl dem tollpatschigen Andrej auf seinem Weg normalerweise jede Menge lärmende Unfälle passierten.
Verwirrt starrte Pietro ihn für einen Moment an, fing sich dann doch im nächsten wieder nur um ein stottriges „Ja" hervor zu bringen. Mit leicht zittrigen Händen fasste er sich kurz an die Stirn, sich danach flüchtig über die Augen reibend stellte er fest, dass er nicht geträumte hatte. Sie war wirklich hier.
„Man du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen, du bist ja ganz weiß im Gesicht", scherzte Andrej und wand Pietro kurz darauf den Rücken zu, um ein Tablett von dem voll beladenem Servierwagen zu heben, den er mitgebracht hatte.
„Keinen Geist, eher ein kleines Déjà-vu." Pietro schmunzelte leicht als er verschwommen an die stürmische Nacht im Waisenheim vor all den Jahren zurückdachte. „Kennst du sie?", fragte Andrej plötzlich, als er Pietros Blick folgte. Keine Antwort abwartend fuhr er fort: „Sie wurde gestern Abend bewusstlos in einer Gasse gefunden, sie hat uns bisher keinen Namen genannt. Anscheinend erinnert sie sich nichtmal an ihn. Sie ist ein wenig verwirrt."
Andrej zuckte mit den Schultern bevor er Pietro das Tablett reichte. Die stumpfen Kanten drückten sich kalt in seinen Handflächen als er sie umklammerte.
„Bring du es ihr. Ich hab heute schon genug Tassen mit kochend heißem Inhalt verschüttet." Andrej schenkte ihm ein schiefes Lächeln, dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung, den kleinen metallenen Servierwagen, mit weiteren vollen Tabletten beladen, holprig hinter sich herziehend.
Mitleidig sah Pietro dem kleinen Wagen hinterher, den nächsten Unfall, allein für diesen morgen, schon vorhersehend.
Sein Mund war mit einen mal ganz trocken und sein Herzschlag hatte auf zweifache Geschwindigkeit beschleunigt, als er den Blick wieder Richtung Fenster richtete. Mit ungewöhnlich festen Schritten ging er schließlich auf die junge Frau die am Fenster saß zu.
Er stellte das Tablett mit einer Hand auf der steinernen Fensterbank ab, mit der anderen hob er die zerbrechliche Tasse mit dem dampfenden Tee herunter. Pietro drehte sich zu dem gemütlichen Sessel in dem sie saß, ging in die Hocke und streckte ihr die Hand mit der Teetasse entgegen.
Ihre grünen Augen huschten zwischen der Tasse und seinen blauen Augen hin und her. Langsam hob sie eine Hand aus ihrem Schoß und schloss ihre dünnen Finger um den Griff der Teetasse.
„Nadija", hauchte er, ganz leise, sie hätte es fast nicht verstanden. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Verwirrung ab. Sie kniff die Augen zusammen und legte den Kopf zur Seite. Die Lippen fest aufeinander gepresst besah sie sich seine Gesichtszüge, sie waren so sanft und liebevoll. Irgendwie vertraut, doch für sie einfach nicht zuzuordnen.
„Wer?", fragte sie. Das Grün in ihren Augen war blass, sie sah ihn müde an. Sie erinnerte sich nicht. Nicht an ihren Namen. Nicht an ihn.
Ein kalter Lufthauch drang durch das einen spaltbreit geöffnete Fenster herein. Die Vorhänge raschelten leise und bewegten sich leicht im Wind. Der eisige Zug erwischte ihm im Nacken, er schluckte schwer und wandte den Blick von ihr ab.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro