Am Grenzstein
Am 20. März 2020 tauchte eine Schlagzeile in den Nachrichten auf: „Dangast und Cuxhaven wollen keine Ausflügler mehr." Der Bürgermeister der Stadt Varel, zu der Dangast gehört, forderte in einem offenen Brief: „Auch der Tourismus in Dangast muss nun zum Erliegen kommen. Gäste reisen ab, das Mutter-Kind-Heim wird geräumt. Für die nächste Zeit möchte ich den dringenden Appell äußern, den Tourismusort Dangast nicht zu besuchen, ...".
Das südlichste Nordseebad überhaupt und zugleich das älteste in Niedersachsen bietet freien Blick auf das Wasser des Jadebusens, weil es auf einem bewaldeten Geestrücken liegt. Es ist der einzige Wald, der direkt an einem deutschen Nordseestrand zu finden ist. Infolge des langjährigen Kurbetriebs weist er einen parkähnlichen Charakter auf. Künstler haben diesen Ort schon früh entdeckt, gerne aufgesucht und sich auch dort angesiedelt.
Bereits am 16. März waren die Watt'n Sauna und das DanGastQuellbad geschlossen worden, ebenso der Strandcampingplatz und die Tourist-Info im Weltnaturerbeportal. Sogar die öffentlichen Toiletten standen nicht mehr zur Verfügung. Auch die überwiegende Zahl der Gastronomiebetriebe hatte die Türen zugesperrt.
Ruhig und leer war die kleine Ortschaft am Jadebusen in dieser zweiten Märzhälfte. Selbst die Nutzung einer Zweitwohnung war untersagt. Wer sich dort bereits befand, sollte bis spätestens zum 25. März abreisen. Im Vorfeld gebuchte Aufenthalte in Ferienwohnungen, Hotels und Pensionen mussten storniert werden. Am Wochenende vom Freitag, dem 3. April, bis Montag, dem 6. April, wurde sogar eine Sperrung aller öffentlichen Parkplätze in Dangast angeordnet.
Dr. Rasmus Oncken hatte sein „Daoistisches Zentrum für Körper und Geist" ebenfalls schließen müssen. In der ländlichen Umgebung der Halbinsel Butjadingen war er als Adoptivsohn eines Landarztes und einer Grundschullehrerin aufgewachsen. Schon äußerlich war zu erkennen, dass die beiden nicht seine leiblichen Eltern sein konnten. An seinem vierzehnten Geburtstag hatte die Adoptivmutter ihm mitgeteilt, dass er der Sohn einer Chinesin, die als verschollen galt, und eines unbekannten Vaters sei.
Rasmus Oncken war „Der Jadekaiser". Diesen Spitznamen bekam der friesische Eurasier aber erst viel später. Im Rahmen seines Studiums der Sinologie und fernöstlicher Philosophie, aber auch der Sportwissenschaften, hatte er sich während eines mehrjährigen Aufenthaltes in China zum Meister des Qi Gong ausbilden lassen und vor fünfzehn Jahren in Dangast sein Institut eröffnet.
Es war am Donnerstag, dem 2. April, als der Fünfundvierzigjährige beim ersten Licht des jungen Tages mutterseelenallein in der Nähe des alten Kurhauses auf der über dem kleinen Sandstrand gelegenen Promenade stehend beobachtete, wie das in den Jadebusen drängende Morgenhochwasser sich Meter um Meter des Wattbodens zurückeroberte. Als Neunjähriger hatte er bei Badeausflügen einen Oldenburger Künstler dabei beobachten können, wie dieser hier am Ufer des Jadebusens eine wuchtige, direkt an der Flutlinie aufgestellte Säule aus Granit mit dem Meißel und anderen Werkzeugen bearbeitete.
„Was wird das?", fragte der kleine Rasmus seine Adoptiveltern damals.
Die Mutter antwortete ihm: „Grenzstein, so nennt der Künstler sein Werk. Zufällig heißt der Bildhauer selbst Eckart Grenzer, so passt das wohl."
Die Grenze zwischen der See und dem Strand sollte markiert werden. Dazu wurde der etwa dreieinhalb Meter hohe Penis, denn als solcher gaben sich die 4,6 Tonnen Granit bald zu erkennen, errichtet.
Phallus, so nannte man ihn denn auch. Die ursprüngliche Bezeichnung „Grenzstein" konnte sich nicht durchsetzen. Im Übrigen war das im Jahre 1984 ein großer Aufreger. Die Bildzeitung brachte die Aufstellung des Kunstwerks mit einem Foto und der Schlagzeile „Skandal in Dangast" auf die Titelseite und auch in den Tagesthemen und im Heute-Journal wurde darüber berichtet. Was aber mag sich der Mitarbeiter einer friesischen Lokalzeitung gar bei seiner eindeutig zweideutigen Überschrift gedacht haben: „In aller Munde"? Viele in Dangast zeigten sich wütend und waren entrüstet.
Um das Niveau der Diskussion wieder ein wenig zu heben, überlegte sich der Bildhauer Eckart Grenzer einen neuen Namen für sein Objekt, nachdem der erste Vorschlag „Grenzstein" sich nicht hatte halten können. Der Strand war schließlich männlich und die See weiblich, wie es in dem schönen Chanson „La Mer" zum Ausdruck kommt. Was hier also bei jedem Hochwasser und jeder Flut aufs Neue stattfand, das war nichts anderes als eine „Begegnung der Geschlechter". So sollte dieses Kunstwerk nun heißen.
„Like a lazy ocean hugs the shore / Hold me close, sway me more" - so sang Rasmus denn auch leise vor sich hin, als er am frühen Morgen des zweiten April das zweimal am Tage auftretende Schauspiel der Vereinigung von Wasser und Land verfolgte. Der massive Penis aus Granit dort unten wurde gerade von den Nordseewellen sanft umschmeichelt, als sich die Kälte oben auf dem gemauerten Steindeich schließlich doch ziemlich unangenehm bemerkbar machte.
Zehn bestätigte Coronafälle gab es aktuell im Landkreis Friesland. Eigentlich wenig, dachte sich Rasmus, aber offenbar ausreichend, um das Leben völlig umzukrempeln. Er schüttelte den Kopf und setzte zu einer weiteren Laufrunde durch die ihm seit langem vertraute und jetzt doch so fremd wirkende Ortschaft an. Es war kühl, nur zwei Grad über null, der Himmel zeigte sich bedeckt und eine beständige Brise wehte.
Seine hochwertige Sportjacke hielt die schneidende Kälte ab und mit jedem der schnellen Schritte in seinen geliebten Trailrunning-Schuhen fühlte Rasmus sich wohler. Am alten Kurhaus vorbei bog er nach links auf eine kleine Straße mit dem Namen „An der Rennweide" ein. Wo sich an schönen Sommertagen die Menschen auf dem kleinen Kunsthandwerkermarkt im Schatten uralter Bäume nur so drängelten, dort herrschte jetzt gespenstische Leere. Die alten Hotels und Gästehäuser links und rechts der schmalen Straße waren in einen Dornröschenschlaf versetzt und drohten bald ganz unter Efeu und wildem Wein zu verschwinden, wenn die Vegetation erst wieder voll einsetzen würde.
Nein, heute wollte er nicht nach links zum Meer hin abbiegen, das man von hier aus schon wieder gut sehen konnte, sondern er folgte beim Hotel Up'n Dieck der Edo-Wiemken-Straße nach rechts. An einigen Geschäften, der Pizzeria Mamma Mia und einem Barbecue-Restaurant vorbei lief er bis zu der Ampel. Dort hätte er nach wieder nach rechts in die Sielstraße einbiegen können, wo sich gleich am Anfang das Franz-Radziwill-Haus befand.
Heute aber wandte er sich lieber nach links. „Auf der Gast" lautet der Name dieser Straße, vielleicht der Lage auf einem Geestrücken geschuldet. Leere Gästehäuser und verwaiste Ferienwohnungen säumten den Weg, seitab lagen ein Stück entfernt die Friesenhörn-Nordsee-Kliniken, denen die Beherbergung von Personen durch eine Weisung des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung im Zuge der Bekämpfung des Corona-Virus untersagt war. Die Straße führte zum bis auf Weiteres ebenfalls geschlossenen Strandcampingplatz. Dort war der morgendliche Läufer noch längst nicht angekommen, als er ein sich näherndes Polizeifahrzeug bemerkte.
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