Gestern, da traf ich dich,

ein bekanntes und doch so fremdes Gesicht

Dich mit den selben Augen wie ich

Dich mit der gleichen großen Nase wie ich

Dich mit dem selben runden Gesicht wie ich.

Dich meinen Vater.

Vater.

Dieser Begriff schmerzt, er zerreißt mein empfindliches Herz und lässt mich nach Luft ringen.
Also wage ich es nicht ihn auszusprechen,
aus Angst eines Tages daran zu zerbreche

So viele Jahre danach saßen wir schweigend am selben Tisch, gespannt darüber, wer wem als erstes Vorwürfe machen würde. 

Hätte ich dir davon erzählen sollen, dass ich Männern wegen dir nicht trauen kann? Hätte ich dir davon erzählen sollen, dass ich eine unheimliche Angst davor habe, Menschen zu verlieren, seitdem du mir das Gefühl gegeben hast, nichts wert zu sein? 

Du ergreifst das Wort, obwohl ich das Schweigen doch so sehr mag, denn die Angst, dich erneut zu verlieren ist zu groß. Denn wo warst du die ganzen Jahre bloß? Hast du mich vermisst? Hast du an mich gedacht? So viele Fragen wage ich es nicht zu stellen, stattdessen überlasse ich dir das Wort.

Du erzählst von der neuen Frau, die du geheiratet hast, von Kindern, die du liebevoll beim Namen nennst. Meine Augen brennen, ich will rennen. Stattdessen klemme ich mich an meinen Stuhl und höre dir zu, wie du dir ein Leben aufgebaut hast, eine neue Familie hast und erfolgreich bist und das einzige woran ich denken kann, ist, dass du ein Versager bist. 

Was bringt dir denn das Geld und der Reichtum, wenn dir Begriffe wie Ehre und Liebe fremd sind? 

Nichts. 

Es macht mich wütend, dass du mit der Vergangenheit abschliessen konntest, aber Mama sich heute auf Männer einlässt, die ihren Wert nicht erkennen, weil du ihr das Gefühl gegeben hast, nichts wert zu sein. 

Es zerbrechen Teller an den Wänden, Schimpfwörter fliegen durch die Gegend und erst, wenn es eskaliert beendet sie meistens alles. Einige Wochen später steht plötzlich der nächste mit strahlenden Lächeln vor unserer Haustüre. Und dann fängt alles von vorne an. 

Teller, Schimpfwörter, auf Wiedersehen. 

Trotz der Reue in deiner Stimme und in deinen Augen, zweifele ich an deinen Worten.
Hättest du mich jemals geliebt, wärst du nicht gegangen, oder? 

Mir wird das alles plötzlich zu viel. Deine Augen strahlen vor Freude, als du von deiner jüngsten Tochter sprichst. Ich muss raus, brauche schnell Luft. Also reisse ich mich zusammen und lächle dich an. Ich muss los, bekomme ich noch so gerade über die Lippen. 

Verständnisvoll nickst du, doch du willst meine Nummer. Nachdem du die Nummer eines Fremden eingespeichert hast und mich davor warnst, mich morgen anzurufen, verlasse ich das Café. Meine Gefühle überrumpeln mich, ich kann die Tränen nicht mehr aushalten. Zum ersten Mal seit langem fühle ich mich schwach und verletzlich. 

Was hast du nur mit mir gemacht? 

Aber mittlerweile weiss ich, dass der Schmerz vergehen wird, denn ich bin bereit, mit der Vergangenheit abzuschliessen. 

Ab heute will ich es versuchen. 

Also leb wohl, Vater.