Kapitel 1
PoV Stegi (Bleibt die ganze Story lang so)
Ein Zimmerwechsel. Warum das denn? Es war schon nervig genug gewesen, dass seit Anfang des Jahres das Oberstufenhaus renoviert wurde, aber warum mussten jetzt genau in meinem Gang die Fensterrahmen ausgetauscht werden? Erst Anfang letzten Schuljahres hatte ich es endlich geschafft, ein Einzelzimmer zu bekommen und jetzt musste ich zusammen mit neun anderen Zwölftklässlern in den Mittelstufentrakt des Internats umziehen, wo es nur Doppelzimmer gab. Ich erinnerte mich nur zu gut an meine Zeit von der achten bis zur zehnten Klasse, in der ich dort schon hatte wohnen müssen. Jedes Jahr hatte ich einen neuen Zimmernachbarn bekommen, aber es war jedes Mal gleich verlaufen: Erst war ich ignoriert und dann benutzt worden. Mir war keine Beachtung geschenkt worden, bis den Leuten meine guten Noten aufgefallen waren. Und ab dem Zeitpunkt hatte ich alle Hausaufgaben der anderen Person erledigen müssen um Schlägen zu entgehen. Und das drei Jahre lang. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens gewesen und das alles nur, weil ich mit intoleranten Idioten zusammenleben musste. Immer noch bereute ich es, mich in der achten Klasse als schwul geoutet zu haben. Wir hatten schon in den verschiedensten Fächern normal über dieses Thema reden können und nie hatte jemand etwas extrem negatives geäußert. Natürlich gab es da die nervigen Typen, die schwul als Beleidigung sahen und sich cool fühlten, jedem „Schwuchtel" hinterher zu brüllen, und die Mädchen, die sich benahmen wie Grundschulkinder und jedes Mal kicherten, wenn jemand „homosexuell" sagte, aber im Großen und Ganzen hatte ich eigentlich immer gedacht, mich diesbezüglich in einer normalen Klasse zu befinden. Schwerer Fehler. Ich war noch nie einer der total beliebten Leute gewesen, sondern eher ein schüchterner und zurückhaltender Mensch, aber trotzdem hatte man mich akzeptiert. Aber nachdem ich einmal diesen Satz gesagt hatte, vor der ganzen Klasse, war nichts mehr wie vorher gewesen. „Ich bin schwul." Entsetzte Gesichter, die mich anstarrten, sogar die Lehrerin hatte mich seltsam angesehen. Und langsam hatte sich das Entsetzen in manchen Gesichtern immer mehr zu Ekel gewandelt. Ekel, Hass und Abneigung. Plötzlich wurde ich von allen behandelt, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Zwar hatte ich bei manchen Leuten sogar das Gefühl, dass sie es gar nicht schlimm fanden und dennoch stellte sich niemand auf meine Seite, niemand nahm mich in Schutz wenn ich verprügelt wurde und niemand sagte etwas, wenn ich meine immer schlimmeren Verletzungen mit Treppenstürzen und Ausrutschern entschuldigte. Plötzlich wurde jeder kleinste Fehler und jede winzigste Macke zu einem riesigen Problem. So hatte es vorher niemanden gestört, dass ich keine Eltern mehr hatte und bei meiner Tante lebte, doch plötzlich lachte man mich sogar dafür aus. Es tat weh. Jede einzelne Stichelei die mich an sie erinnerte und generell alle Beleidigungen trafen mich ziemlich heftig. Ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen hätte können, also fraß ich all meinen Kummer in mich hinein und wurde im Laufe der neunten Klasse depressiv. Ich bekam immer größere Minderwertigkeitskomplexe und hatte kein Selbstvertrauen mehr. Obwohl ich schon immer eher dünn war, beleidigte mich plötzlich jeder als fett und hässlich, also hörte ich auf zu essen. Von heute auf morgen aß ich einfach nichts mehr. Nach fünf Tagen sah man es mir schon deutlich an, nach drei Wochen war ich eine wandelnde Leiche. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren und hatte ständig Kopfschmerzen. Gleichzeitig bekam ich immer häufiger Sodbrennen und Magenkrämpfe. Irgendwann konnte ich nicht einmal mehr etwas trinken, ohne mich sofort übergeben zu müssen. Nach einem Monat wog ich mit einer Größe von 1,60 Metern nur noch 25 Kilo. Und trotzdem bemerkte keiner meiner Mitschüler etwas und wenn doch, dann sagte niemand was dazu. Irgendwann brach ich mitten im Unterricht zusammen und wurde ins Krankenzimmer gebracht, wo die Krankenschwester mein extremes Untergewicht bemerkte und einen Arzt informierte, der mich in psychische Behandlung gab. Die Therapie brachte gar nichts. Meine psychische Einstellung änderte sich kein Bisschen, mein körperlicher Zustand verbesserte sich nur wegen den regelmäßigen Nährstoffinfusionen die ich bekam und meiner Klassenlehrerin, die mich zwang mindestens einmal am Tag etwas zu essen. Und dann kamen endlich die rettenden Sommerferien. Sechs Wochen Auszeit von meinen Mitschülern. Meine Tante war zwar nicht da, aber sie hielt mich für alt genug, um alleine zurechtzukommen, also hatte sie mir eine ordentliche Menge Geld überlassen und ich hatte das Haus sechs Wochen lang für mich, was ziemlich toll war, da meine Tante nicht die Ärmste und ihr Haus dementsprechend luxuriös eingerichtet war. Vorgestellt hatte ich mir meine Ferien ziemlich einsam, alleine in dem großen Haus, alleine aber glücklich. Ich war der Meinung gewesen, ich bräuchte niemanden um zufrieden zu sein, aber da hatte ich mich getäuscht. Denn beim Einkaufen war ich der wundervollsten Person begegnet, die ich bis zu diesem Zeitpunkt meines Lebens jemals getroffen hatte. Ich war gerade auf der Suche nach Nudeln gewesen und hatte nicht auf meinen Weg geachtet, deswegen war ich direkt in ein junges Mädchen gelaufen und hatte sie mitsamt ihrer Tasche umgerissen. Beschämt war ich aufgesprungen und hatte mich tausendmal entschuldigt, doch entgegen meinen Erwartungen war sie nicht an die Decke gegangen, hatte mich weder angeschrien, noch geschlagen, sondern einfach gelacht. Nicht hämisch oder abwertend, sondern fröhlich und frei heraus, über unser Missgeschick und unsere Tollpatschigkeit. Und plötzlich hatte ich gewusst, dass sie ein besonderer Mensch war. Sie war anders als alle Leute, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gekannt hatte. Also hatte ich Mut gefasst und einfach ein Gespräch mit ihr angefangen. „Ok das war peinlich, sorry. Kann ich dich auf ein Eis einladen? Als Entschuldigung?" Verwundert sah sie mich an und grinste dann: „Also prinzipiell hab ich nichts gegen ein Eis, aber mach dir bitte keine Hoffnungen, das wird kein Date, ich bin lesbisch." Plötzlich war ich es, der lachen musste. „Kein Problem, ein Date wäre das wohl eh nicht geworden. Ich bin schwul." Jetzt mussten wir beide lachen und als wir uns halbwegs beruhigt hatten, erledigte ich den Einkauf mit dem Mädchen, das sich als Kelly vorgestellt hatte, zusammen. Ich erfuhr an diesem Tag ziemlich viel über sie, da ich sie nach dem Eis essen einfach zu mir nach Hause einlud. Sie war eine ziemlich extrovertierte Person, der es keine Probleme machte, viel über sich zu erzählen. Ich dagegen brauchte fast zwei Wochen, bin ich ihr endlich gut genug vertraute, um ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen. Und mit ihr zusammen schaffte ich es, meine Depressionen zu bewältigen. Zum Schluss machten wir uns einen Spaß daraus, meinem Psychiater im Internet einen ewig langen Beschwerdetext zu schicken und ihm eine schlechte Bewertung zu geben. Schließlich hatte es eine Fünfzehnjährige in drei Wochen geschafft, mir mein Selbstwertgefühl wiederzugeben, während der Psychiater in vier Monaten Behandlungszeit noch nicht einmal herausgefunden hatte, dass ich gemobbt wurde und mich geritzt hatte. Das war mit Abstand der schönste Sommer meines Lebens gewesen, doch auch er hatte ein Ende. Wieder ins Internat zu müssen war schrecklich gewesen, aber zumindest hatte ich ab da gewusst, dass es eine Person gab, der ich wichtig war und für die es sich lohnte, weiter zu machen. Fast täglich telefonierte ich Ewigkeiten mit Kelly und sie schaffte es jedes Mal mich auf andere Gedanken zu bringen. Und so überstand ich auch die zehnte Klasse. In der Elften hatte dann der Umzug ins Oberstufenhaus angestanden und ich hatte endlich ein Einzelzimmer bekommen. Mein eigenes kleines Reich, wo mir niemand etwas anhaben konnte und ich den Alltag ausblenden konnte. Und jetzt wurde ich hier einfach rausgeworfen. Gerade in der schwierigen Abiturphase, in der ich eigentlich ungestört hatte lernen wollen, musste ich mir mein Zimmer mit irgendeinem Vollpfosten teilen, der wahrscheinlich gar nichts verstand und mich dann zwang ihm jede Aufgabe zwanzig Mal zu erklären und im Endeffekt blieben die Hausaufgaben dann sowieso an mir hängen. Aber ich konnte es nicht ändern, also fing ich missmutig an, mein Zeug in meinen Koffer zu packen, um möglichst schnell das Zimmer räumen zu können.
Stexpert incoming \(*~*)/
Erwartet nicht immer so lange Kapitel, die werden ab dem dritten wieder kürzer :x
Bye!
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