(8) Entscheidung
Hicks
Ich hatte mich noch nie so sehr über die salzige Luft und den Anblick des sich dunkel glänzend bis zum Horizont erstreckenden Ozeans gefreut. Die Dunkelheit des Labyrinths und die vorherrschende stickige Luft hatten mir zusammen mit der gähnenden Leere an Sturmpfeils Stelle das Gefühl des Erstickens vermittelt. Die letzten Tunnel waren dazu der pure Horror gewesen, Feuerwürmer und Höhlenbrecher hatten uns als gemeinsame Feinde auserkoren und unerbittlich in einem Mordstempo durch die Gänge gejagt. Glücklicherweise waren die Fledermäuse verschwunden und Ohnezahn hatte uns nicht nur mehr oder weniger zielsicher zurück in die Nacht befördert, sondern auch mit einem gezielten Schuss unsere Verfolger eingeschlossen. Ihre empörten Schreie drangen durch die Schicht an Geröll schon seit mehreren Minuten gedämpft zu uns durch. Von diesem Ort sollten wir uns in Zukunft lieber fern halten.
„Moira, du weißt nicht zufällig, wo wir- Moira?!"
Verdammt, wo war sie? Sie war die ganze Zeit über hinter uns geflogen, eigentlich musste sie hier sein!
„Moira!"
Keine Antwort, nichts. Panisch scannte ich den Himmel ab, erfolglos. Hatten wir sie im Labyrinth zurückgelassen? Verdammt, nein, das war unmöglich! Sie war die ganze Zeit hinter uns gewesen, verflucht!
„Moira, wo bist du?!"
Aber weiterhin blieb alles stumm. Die schwarze Kriegerin war vom Erdboden verschluckt worden, womöglich wortwörtlich. Das konnte doch nicht wahr sein! Reichte Sturmpfeils Tod denn nicht? Was hatten wir getan, dass uns die Götter derart hassten?
Warum wir? Es gab da draußen tausende Menschen, warum immer ausgerechnet wir? Warum, verdammt nochmal?!
„Hicks, ich, ähm, ich glaube, das hat keinen Sinn mehr."
Irritiert hielt ich inne. Meine Freunde sahen mich verunsichert an, als hätten sie Angst, dass ich jeden Augenblick explodieren könnte.
„Du hast geschrien.", hauchte Astrid, so leise, ich hätte es mir auch einbilden können.
„Sehr laut."
Hatte ich? Bei Thor, ich drehte langsam durch.
„Ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht. Das ist Moira, Hicks. Wer wenn nicht sie kommt alleine klar? Außerdem ist Nachtblitz bei ihr.", fuhr sie tonlos fort, als würde sie selbst sich nicht glauben.
Astrid hatte Recht. Natürlich hatte sie Recht. Moira würde schon wissen, was zu tun war. Egal, wo sie war.
„Uhm, wo ist überhaupt dieser Kjell hin?"
Oh nein. Nein, nein, nein, nein! Den hatte ich total vergessen! Dann war wohl klar, was Moira gerade machte. Sie war umgekehrt, um ihn zu holen, und jetzt hatte ich ihr den Ausweg versperrt. Sie war in dem unterirdischen Verließ gefangen, gemeinsam mit jeder Menge angriffslustiger Drachen. Ach, Yakdung! Wann lief eigentlich mal irgendwas nicht spektakulär schief?
„Was machen wir jetzt?", beendete Rotzbakke die Zeit des allgemeinen Luftanhaltens und auf den verschütteten Eingang Starrens. Es brauchte keine Worte, jeder hatte für sich eins und eins zusammengezählt.
Ja, was nun? Hier warten? Orientierungslos herumfliegen? Beides keine guten Ideen. Entweder verflogen wir uns hoffnungslos und irrten total verloren in der Gegend herum oder die Klingenpeitschlinge fanden uns und dann würde das Erstere zwangsmäßig folgen. So würde Moira uns auf keinen Fall wiederfinden.
Und was dann? Komm schon, los Hicks, sonst hast du doch immer für alles eine Lösung! Na los, los, los, jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt dafür!
Doch mein Kopf war so leer wie Astrids Augen.
Schön, neuer Versuch, andere Frage. Wo würde ich nach uns suchen, wenn ich noch im Labyrinth wäre?
Klar, erstmal auf dieser Insel. Und dann auf der Insel, die wir zuletzt besucht hatten.
Oh man, und das war so schwer gewesen? Die Antwort lag doch nahezu auf der Hand!
„Wir fliegen zu unserem letzten Rastpunkt zurück und warten." Falls wir nicht vorher vor Erschöpfung im Meer versanken.
„Könnte eventuell schwierig werden."
Vielsagend zeigte Rotzbakke mit seinem Daumen über die Schulter. Der eindeutige Beweis, dass die Götter uns nicht nur hassten, sondern unglaublich viel Spaß daran hatten, uns zu foltern.
Vier Metallspitzen gespickte Buge pflügten durchs Wasser, dass die Gischt schäumte. An sie schmiegten sich grün schimmernde Rümpfe, die wiederum vor Netzschleudern, glänzenden Käfigen und Seilwinden nur so strotzten. Über all dem erhoben sich majestätische Mäste gen Himmel, ihre Spitzen wollten die Wolken erstechen, und riesige, von der Witterung gelblich verfärbte Segel bauschten sich im Nachtwind auf und präsentierten allen Beobachtern mit unverhohlenem Stolz das kämpferische Wappen der Drachenjäger.
Vielen Dank an das liebe Karma an dieser Stelle. Seine Dienste sind derzeit äußerst erwünscht.
Leider zertrümmerten keine vom Himmel fallenden Steine die Schiffe, wie sie es mit Sturmpfeils Körper getan hatten. Genauso wenig zerschellten die Rümpfe an einem Riff und der Tiefseespalter hatte entweder keinen Hunger oder hier keinen Vertreter seiner Art.
Stattdessen zischten die ersten Netze durch die Luft und wir hatten ziemlich mit den Ausweichmanövern zu kämpfen. Die Drachen gaben ihr Bestes, das wusste ich, aber nach dem Tunnelgewirr war das bisschen Kraft, welches nach dem anstrengenden Tag noch nicht aufgebraucht war, restlos verschwunden. Dementsprechend war es nur eine Frage der Zeit, bis wir vor Erschöpfung oder wegen eines Treffers vom Himmel fielen.
Unsere einzige Möglichkeit barg die Flucht, doch wohin? Nach oben ging schlecht, das machten die Flügel unserer Freunde kaum lange mit. Vor uns waren die Drachenjäger und hinter uns erhob sich eine Felswand meilenweit in den Nachthimmel. Selbst, wenn wir es doch über sie schafften, erwartete uns dahinter das Brutgebiet der Klingenpeitschlinge. Keine guten Aussichten.
In letzter Sekunde schoss Ohnezahn das Netz ab, das Kotz und Würg schon halb in seinen gierigen Klauen hatte. Das war sein fünfter Schuss gewesen, blieb also noch- Verdammt, wo war Astrid hin? Odin, nein, nicht das no- Oh, da war sie ja, noch immer direkt vor mir. Nur, warum hatte sie sich soweit runter- oh nein.
Jeder macht in seinem Leben die Erfahrung, dass die Zeit plötzlich stehen bleibt und alles um einen herum verschwindet. Es gibt nur noch einen selbst und die Sache, wegen der alles still steht. In meinem Fall handelte es sich dabei um das Netz, das unmittelbar vor meinem Gesicht mit dem Plasmaball kollidierte. Klar denken ist in diesem Zustand übrigens nur überragend gut oder gar nicht möglich. Ich wünschte mir gerade den letzteren Fall, während ich Astrid losließ, die Arme vor mein Gesicht riss, betete, dass die Schiffe weicher waren als sie aussahen und dass Astrid Ohnezahns Schwanzflosse bedienen konnte und den Fehler beging, meine Augen zu spät zu schließen. Alles war Licht, viel zu hell, und dann war alles schwarz, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. Und erst jetzt schleuderte die Wucht unsanft meinen Körper aus dem Sattel.
Ich fiel blind durch die Luft, überschlug mich, versuchte, mich zu stabilisieren, krachte dann aber in einen anderen Drachen und wirbelte unkontrolliert weiter. Ewig lang dauerte der Fall, immer begleitet von Astrids verzweifeltem Schrei. Ich hörte Ohnezahn brüllen, ihre Stimmen wirbelten um mich herum und rissen den allerletzten Rest Orientierung davon. Meine Glieder fühlten sich an, als würde sie mir jemand mit aller Macht ausreißen wollen und ich hoffte einfach, dass ich den Aufprall überlebte. Ich musste, für Astrid und Ohnezahn und für meine Freunde und natürlich für Berk. Berk... Wie es dort gerade war? Hatte Mutter die Nachricht erhalten? Was hatte Astrid ihr eigentlich geschrieben? Ha, ob sich Grobian noch an die Donnertrommlerdrillinge erinnerte? Bestimmt, die vergaß man nicht so schnell. Bei Thor, wie hoch war Ohnezahn denn bitte geflogen? Bis zum Deck konnte es unmöglich so lange dauern! Warum war ich mir überhaupt so sicher, dass ich auf einem der Boote landen würde? Das Meer war viel wahrscheinlicher.
Au, autsch, verflucht, nein, das war definitiv nicht das Meer. Definitiv nicht, au. Und das Deck war sehr viel härter als es aussah.
Mein Kopf knallte mit voller Wucht auf den Untergrund, sprang durch den Schwung wieder hoch, wurde von der Schwerkraft erneut überwältigt und wiederholte das alles noch fünfmal. Wenn man schonmal wie ein Pfannkuchen auf ein Drachenjägerschiff platschte, dann musste man das jawohl so richtig auskosten.
Theoretisch wäre jetzt der Moment gekommen, an dem einem schwarz vor Augen wird. Ich Supergenie hatte diesen Schritt bereits vorausschauend hinter mich gebracht, also spürte ich nur noch, wie ich mit jedem Aufprall meines Kopfes auf das drachensichere Eisen-Holz wäre zu schön gewesen- etwas mehr abdriftete. Hatte ich schon erwähnt, dass die Götter mich hassten?
„Ich warne dich, ein Schritt und deine Leute können deine Überreste aus den Ritzen kratzen!"
Die Stimme. Ich kannte die Stimme. Ich mochte, nein, ich liebte sie. Sie war nicht mehr als ein Ton in der Dunkelheit, ein dumpfer Klang, unverständlich, doch sie war stark genug, um mich aus dem klebrigen Sumpf ein Stück Richtung Freiheit zu ziehen. Hoffentlich kam sie wieder.
Nein, das war eine andere Stimme, nicht die schöne. Diese war tief, kratzig und unbekannt und schubste mich so hart aus der zähen Substanz, die mich gefangen hielt, dass meine Schläfe schmerzhaft pulsierte.
Dann kam die schöne Stimme wieder, aber laut und schrill und in Begleitung von noch lauteren, die alle auf das Pochen meiner Schläfe einstachen, bis mein Kopf fast explodierte. Entsetzt riss ich die Augen und schnellte hoch, weg von dem dumpfen Dröhnen. Augenblicklich verstummte alles.
Es dauerte eine Weile, bis mein Hirn in der Lage war, die vielen Eindrücke zu verarbeiten, aber als es damit anfing, wünschte ich mich kurz in den schwarzen Sumpf zurück.
Ich saß auf einem Schiff, links neben mir schlugen mehrere Drachen angestrengt mit den Flügeln auf der Stelle und rechts von mir sahen mehrere Männer unwohl von mir zu den Drachen. Moment, nicht zu den Drachen, zu dem Nachtschatten mit der Blondine, Ohnezahn und Astrid. Einer von ihnen trug eine komische Weste, ihr Material kam mir bekannt vor... Ach ja, Zipperleder! Augenblick, das bedeutete, ich saß auf einem Drachenjägerschiff! Odin, wie war ich denn hier hin gekommen?!
„Hicks! Du lebst!"
Verwirrt sah ich zu Astrid hoch. Weshalb sollte ich nicht leben? Dachte sie, ich sei von der gigantischen Klippe gesprungen? Warum sollte ich von der Klippe- Autsch, au, Yakdung, nicht denken, nicht denken, bloß nicht nachdenken! Himmel, solche Kopfschmerzen hatte ich noch nie gehabt! Oder doch? Au, nein, egal, nicht denken!
Meine Finger berührten etwas Piksiges, Hartes. Versengte Augenbrauen? Das Bild einer grellen Explosion schoss mir durch den Kopf, dann das Gefühl, zu fallen, Schwindel und Schmerzen wie tausend Messerstiche. Letztere blieben leider.
„Hicks? Der Nachtschattenreiter? Welch eine Ehre, dich persönlich kennenzulernen."
Bei Thor, konnten die Drachenjäger nicht einfach ihren Mund halten? Ich wusste selbst, wie viel sie von uns hielten, das musste man mir nicht mehr unter die Nase reiben.
„Männer, nehmt die Waffen runter! Hicks, das Geschehene tut mir aufrichtig leid, wir sind manchmal viel zu voreilig. Fahrt doch ein Stück mit uns mit, ihr seid sicher erschöpft."
Für wie blöd hielten die uns?
„Ich denke, wir kommen ausgezeichnet allein zurecht und haben keinen Bedarf, als Gefangene den Rest unseres Lebens zu verbringen, habt vielen Dank."
„Gefangene?"
Entsetzt und abwehrend wedelte der Westenträger mit den Händen in der Luft.
„Nein, nein, nein, keineswegs. Ihr wärt unsere Gäste."
Er schien echt nicht zu raffen, dass wir ihn durchschaut hatten.
„Nennt es, wie ihr wollt, wir verzichten."
Danke, Astrid.
„Seid ihr euch sicher? Ihr habt ziemlich viel aushalten müssen. Wie ich sehe, ist die schwarze Kriegerin nicht mehr an eurer Seite, ihr Verrat tat bestimmt weh."
Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Selbst ein explodierender Schädel würde mich nicht davon abhalten, diesen Lügner zurechtzustutzen.
„Sie hat uns nicht verraten!"
„Nicht? Und wo ist sie dann?"
Stumm starrte ich den Drachenjäger an. Wir wussten, wo sie war, aber er würde nicht die Genugtuung erfahren, dass ebenfalls zu wissen. Nicht in diesem Leben.
„Aha. Dann hat sie euch sicherlich vorher darüber aufgeklärt und sich nicht einfach aus dem Staub gemacht?"
„Und in wiefern geht euch das an?"
Mit Astrids Ton hätte man problemlos Stein schneiden können und ihr Blick ließ den Drachenjäger zurückweichen. Nichts an ihr wirkte länger leer oder hoffnungslos. Ganz im Gegenteil, aufrecht saß sie da, ihre zusammengekniffenen Augen brannten Löcher in die Luft. Der blutdurchtränkte Verband stand im furchteinflößenden Kontrast zum im Mondlicht funkelnden Axtblatt. Wütender hatte ich sie in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Wenn wir nicht bald verschwanden, gab es Tote, davon würde sie ihr Arm nicht abhalten können.
„Nun, ich weiß besser als jeder Andere, wie hinterhältig dieses Mädchen ist. Ich sorge mich bloß."
„Sorgen? Sorgen?! Du solltest lieber dafür sorgen, dass ihr jetzt sofort verschwunden seid! Und ich warne dich, noch ein einziges verlogenes Wort über irgendwen und ich bringe deinen Kopf als Trophäe höchstpersönlich zu diesem bescheuerten Möchtegern-Anführer von Sungird, um ihn damit zu erschlagen! HAST DU MICH VERSTANDEN?!"
Hatte er, so wie er seine Hände knetete.
„Es war nicht in meinem Intere-"
„ICH SAGTE: VERSCHWINDET! JETZT!"
„Schon gut, wir sind- Welchen Teil von ‚Waffen runter' habt ihr Jammerlappen nicht verstanden?!"
„Sir, das sind unsere Feinde, wir wollten-"
„Die Nacht gern schwimmend verbringen? Bringt sofort die Harpune weg, ich warne euch! Und recherchiert mal ein klitzekleines Bisschen über das Leben eurer Vorfahren, die solche Fischhirne in die Welt gesetzt haben! Pah, Feinde. Idioten."
Der Aufschlag hatte schlimmere Schäden hinterlassen als angenommen. Ich halluzinierte. Oder ich war doch gestorben und das waren die letzten sinnlosen Varianten der Zukunft, die sich mein zermatschtes Gehirn ausdenken konnte. Oder der Drachenjäger war nicht mehr klar bei Verstand. Ja, eines davon würde es sein.
Der Drachenjäger richtete sich wieder an mich.
„Bevor sich unsere Wege wieder trennen, lasst mich wissen, ob ihr etwas benötigt. Decken? Nahrung?"
Das wurde unheimlich. Normale Drachenjäger sahen manchmal schon grausig aus, aber ein hilfsbereiter Drachenjäger war wahrlich gruselig.
Überrumpelt nach einer Antwort suchend und mich gleichzeitig nach einer Falle umsehend stand ich auf.
„Nein, wir kommen klaAAAH!"
Aufstehen war eine dumme Idee, wenn man bereits vom Denken Migräne bekam. Eine sehr dumme Idee. Eine sehr, sehr, sehr dumme Idee. Jetzt schoss auch von meinem Steißbein aus ein flammender Schmerz durch meinen Körper.
„Sollen wir euch wirklich nicht besser mitnehmen? Eine Schiffsfahrt könnte euch allen gut tun. Zeit zum Erholen und Schlafen und man kommt trotzdem vorwärts."
Der erneute Sturz hatte mir echt nicht gut getan. Thor, wann würde ich endlich wieder in der Realität ankommen?
„Für wie blöde hält der uns?"
„Also echt, darauf falle nichtmal ich rein.
Oder? Hm... Ne, wirklich nicht."
Astrid sah aus, als würde sie jeden Moment von Ohnezahns Rücken springen, ihre Drohung wahr werden lassen und anschließend die Zwillinge mindestens bis zur Flügelmädcheninsel und zurück jagen. Ich hoffte nur noch, dass sie nicht vorher wieder die Mannschaft zusammenstauchte, denn auch wenn ich es nur zu gut verstand und am liebsten mitmachen würde, mein Schädel pochte bei jedem Geräusch heftiger und hier wollte ich ganz bestimmt nicht nochmal in Ohnmacht fallen. Erst recht nicht wegen Kopfschmerzen.
„Reinfallen? Worauf denn reinfallen? Ihr zählt doch praktisch zur Familie, wieso sollte ich euch eine Falle stellen?"
Dieser Drachenjäger war definitiv nicht bei klarem Verstand. Und darüber hinaus war er gleich kopflos.
Mit einem Kampfschrei, der dem der Berserker in nichts nachstand, sprang Astrid von Ohnezahn und stürmte blind auf ihn zu, die blitzende Axt fest im Griff. Sie würde zuschlagen, kein Zweifel. Es war nahezu ein Wunder, dass sie sich so lang zurückgehalten hatte. Diese Männer waren Schuld an Sturmpfeils Tod, sie hatten die Insel beschossen. Auf ihren Schiffen standen diese Nacht zwar keine Katapulte, doch als wir Selmas Heimatinsel verließen, hatte man die giftgrüne Färbung der Weste problemlos erspähen können. Bei Mondschein schwankte die Farbe der Schuppen zugegeben stark zwischen dunklem Blau und Tannengrün, die Weste war dem zu Trotz unverkennbar, wenn auch nicht auf den ersten Blick.
„Wir zählen ganz sicher nicht zu deiner Familie!"
Der Jäger wich zurück, die tödliche Klinge verfehlte ihn um Haaresbreite und hinterließ eine stattliche Einkerbung im Mast, aber Astrid ließ sich nicht beirren. Grimmig hieb sie weiter nach ihm, jagte ihn über das gesamte Deck und wich, als hätte sie noch nie etwas Anderes gemacht, den Angriffen der übrigen Männern aus. Ihr linker Arm schaukelte unkontrolliert durch die Luft und verpasste unbeabsichtigt einem zu nah Gekommenen eine Ohrfeige, welche ihr sicher mehr wehtat als ihm. Sie schlug und trat um sich, verfehlte ihn jedes Mal knapper, stieß im Weg stehende Besatzungsmitglieder zu Boden und trampelte über sie hinweg und ich saß erschrocken in der Gegend rum und wusste beim besten Willen nicht, was ich tun sollte.
Als ihre Axt wieder das Mastholz zersplittern ließ, kehrten meine Lebensgeister zurück
„ASTRID!"
Kurz schnellte ihr Kopf in meine Richtung, dann fixierte sie wieder ihr Ziel. Na gut, immerhin hatte sie mich gehört.
Schnellstmöglich zog ich mich in Ohnezahns Sattel, mein Kumpel war wenige Sekunden nach Astrid gelandet, wartete, bis sich der Schwindel und der gerade abgeklungene Kopfschmerz halbwegs gelegt hatte, und verharrte.
Was nun?
Sie hatte allen Grund zur Rache und verdient hatte der Drachenjäger es sowieso. Aber war es richtig? Konnte ich schweigend zusehen, wie der wichtigste Mensch in meinem Leben zum Mörder wurde? War es das, was sie wollte oder bereute sie es im Nachhinein? Sie würde es nicht rückgängig machen können, niemand konnte das.
Die Axt zertrümmerte das Schild, die letzte Barriere zwischen meiner Verlobten und dem Westenträger. Er stand an der Spitze des Bugs, hinter ihm nichts als Wasser, eine weitere Waffe hatte er nicht. Astrid holte aus.
Nein, das war nicht richtig.
Klirrend rastete meine Prothese ein, wir hoben ab, beschleunigten in Rekordzeit, Ohnezahn packte Astrid und die Klinge surrte gerade dicht genug an seinem Hals vorbei, um ihm einen oberflächlichen Schnitt zu verpassen.
„HICKS! Verdammt, lass mich wieder runter! Er hat es nicht anders gewollt, jetzt lass mich gefälligst zurück! Hicks!"
Wie gerne ich ihre Anweisung befolgt hätte, aber es war falsch. Sie sollte nicht den Rest ihres Lebens wegen dieses Lügners Schuldgefühle haben, das ließ ich nicht zu. Auch nicht, als sie anfing, mich zu beschimpfen, schrie, dass sie mich hasste und mich verfluchte. Ich saß still da und obwohl jedes ihrer Worte wie ein Messerstich mitten ins Herz war, gab ich nicht nach. Sie meinte es nicht so, ihre Wut und Frustration hatten sie im Griff. Ich hatte das Richtige getan. Sie wollte das nicht wirklich, war nicht ganz bei Verstand. Ich hatte das Richtige getan. Ich. Hatte. Das. Richtige. Getan.
Ich weiß nicht, wie lange wir auf der Stelle flogen, Astrid schrie und schimpfte und fluchte und niemand sonst etwas sagte, aber allmählich färbte sich der Himmel lila und der Mond machte Platz für den Sonnenaufgang. Die Drachenjäger hatten sich wie wir nicht von der Stelle bewegt, griffen uns unverständlicher Weise jedoch auch nicht an. Darüber konnte ich mich nicht beklagen, seltsam war es nichtsdestotrotz.
Ohnezahn hatte mit jeder Sekunde größere Mühe, in der Luft zu bleiben, seine Flügelschläge wurden zusehends energischer und er grummelte leise. Sturm- nein, halt. Kotz und Würg und Hakenzahn hatten ähnliche Probleme, Fleischklops schwankte als Einzige nicht bedrohlich auf und ab. Der erneute Beweis, dass Gronkel ausdauernd waren- wenn sie das Tempo vorgaben.
„Äh, ich sag das ja nur ungern, aber eine Landung wäre ziemlich wundertastisch."
Wunderwas? Auch egal, typisch Taff halt. Blöd nur, dass unsere Möglichkeiten arg begrenzt waren. Die Wahl stand zwischen angriffslustigen Mutterdrachen und Drachenjägern. Beides nicht meine favorisierten Optionen.
„Tja, Hakenzahn hält locker noch sechs Stunden dur- HAKENZAHN!"
Knurrend hievte sich der Alptraum die drei abgesackten Meter nach oben.
„Aber vielleicht wäre eine Landung im kleinsten Maße angemessen.", fügte Rotzbakke kleinlaut an.
Also, Drachenjäger oder Klingenpeitschlinge?
Die Jäger überlebten wir eher, aber vielleicht waren die Drachen doch die bessere Wahl. Oder wir versuchten, den verschütteten Ausgang zu öffnen und versteckten uns irgendwie vor den im Labyrinth beheimateten Drachen. Apropos, wo blieb Moira? Sie hätte doch längst- Ach, ihr ging's gut. Was hatte Astrid nochmal gesagt? Das ist Moira, sie kommt ziemlich gut klar. Sogar fast allein in einem stockdunklen Tunnelgewirr mit eventuell unterirdisch schlecht gelaunten Drachen.
Oh Thor, das war nicht gut, ganz und gar nicht gut. Woher sollten sie denn wissen, wo wir langgeflogen waren? Ohnezahn war meines Wissens nach der einzige Drache, der mithilfe von Echoortung navigieren konnte. Jetzt irrten Moira und Nachtblitz zusammen mit einem kaum vertrauenswürdigen Jungen durchs Inselinnere, unter Umständen verletzt oder auf der Flucht oder schon gar nicht am- Stopp, in Panik zu verfallen brachte uns nicht weiter. Mal ganz davon abgesehen, dass Moira mich für diese Gedanken vermutlich in Brand setzen und in einen Fluss voll leuchtender Algen und Aale schubsen würde. Wahrscheinlich hatte sie einen anderen Ausgang gefunden und wartete auf uns. Ja, so in die Richtung.
Ungefähr.
Oder auch nicht.
Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Kopf und erreichte selbst meine Augen, als Ohnezahn plötzlich ein gutes Stück nach unten plumpste, ehe er sich wieder gefangen hatte.
Okay, Schluss mit den Sorgen, Fokus auf das aktuelle Problem.
Sturmpfeils Mörder oder beschützerische Mutterdrachen?
Warum waren wir eigentlich nicht längst zur letzten Insel geflogen? Mit einem Riesenfass Glück hätten wir eine Bruchlandung auf dem Strand schaffen können. Autsch, nicht unnötig viel denken! Was nicht passiert war, war dummerweise nicht passiert und gut- oder eher schlecht.
Kotz fauchte fragend und bittend zu meinem Kumpel, Ohnezahn brummte und schlug noch kräftiger mit seinen Schwingen, um unseren Höhenverlust zu verlangsamen.
Los, los, los, Hicks, denk nach, denk nach, denk nach! Drachen oder Jäger? Jäger oder Drachen? Drachenjäger? Klingenpeitschlinge? Los, entscheide dich!
Die Drachenjäger waren bisher seltsam freundlich, aber das konnte sich innerhalb Sekunden ändern. Die wilden Inselbewohner waren uns von vornherein feindlich gesinnt. Theoretisch standen unsere Chancen bei Sungirds Leuten also besser. Andererseits könnte Ohnezahn es nochmal versuchen und dann wären die Drachen die sicherere Wahl. Außerdem, wer wusste, was die Menschen auf den Schiffen im Schilde führten? Wir sollten sie nicht unterschätzen. Ohnezahn war der Alpha, die Klingenpeitschen hörten garantiert auf ihn.
Thor, wem machte ich was vor? Sie hörten nicht auf ihn, Alpha hin oder her. Er war ein Männchen, sowie der Großteil unserer Truppe, und damit ihr derzeitiger Feind. Die Drachenjäger waren leider und nur ganz knapp von Anfang an die Lösung gewesen, ganz gleich wie sehr ich mich dagegen sträubte.
„Dürfen wir..."
Na komm, nur ein Satz. Ein Satz. Das ist nicht so schwer.
Ich räusperte mich.
„Wärt ihr noch immer..."
Ein Satz. Nicht mehr. Ein. Einziger. Satz.
„Also, ähm..."
Argh, wieso stotterte ich denn jetzt?
„Steht das Angebot noch?"
Ja, puh, geschafft! Zwar mit zusammengebissenen Zähnen, total verkrampft und lieber hätte ich einen rohen Aal gegessen, aber geschafft!
Blieb zu hoffen, dass der Westenträger uns seinen Fast-Tod verzieh.
„Aber natürlich! Nun ja, vorausgesetzt, meine Männer und ich werden die Fahrt überleben."
Er sah kurz zu Astrid, die mittlerweile verstummt war und -soweit ich das von über ihr beurteilen konnte- den Kriegern tödliche Blicke zuwarf.
„Kommt drauf an.", zischte sie kaum hörbar.
„Wir werden euch nicht grundlos angreifen.", formulierte ich es laut genug um, dass sie mich hören konnten. Meine Güte, höfliche Konversation mit diesen Leuten erforderte unglaubliche Selbstbeherrschung. Vielleicht sollte ich es doch Astrid gleichtun, mein Feuerschwert hing griffbereit in der vorgesehenen Halterung...
Nein, Hicks, reiß dich zusammen! Tief durchatmen, Ohnezahn das Zeichen zur Landung geben und nach der nächstbesten Insel Ausschau halten. Und eventuell nicht nochmal hinfallen, das macht dein Kopf nicht mit.
Schwer von der Entwicklung der Dinge begeistert setzten wir auf dem Deck auf. Alle waren unruhig, der Mannschaft kam das mindestens so suspekt vor wie uns. Ihr Anführer allerdings verhielt sich, als wäre es das Normalste der Welt. Vielleicht sollte er seine Karriere lieber in sehr naher Zukunft abbrechen und sich an einen ruhigen, ungefährlichen Ort zurückziehen. Seine Leute würden diese Entscheidung jedenfalls absolut unterstützen. Der Mann war nicht bei Sinnen, da waren wir alle uns einig.
Stille senkte sich über das Deck. Die Luft war merkwürdig dick, jeder betrachtete unwohl sein Gegenüber. Schwer zu sagen, welche Seite den größeren Drang zum Kämpfen verspürte.
Eines stand fest, sobald eine andere Landemöglichkeit in Sicht kam, waren wir hier weg. Man konnte ja kaum atmen, so unwirklich war unsere Situation. Und doch sagte keiner etwas. Keine einzige Unmutsäußerung tat sich kund, nichtmal ein Räuspern. Wir schwiegen, weil keiner eine bessere Lösungsidee hatte, die Drachenjäger schwiegen aus Respekt oder Angst vor ihrem mental verwirrten Befehlshaber, der ungeachtet der Anspannung ein breites Lächeln aufsetzte und strahlend auf mich zu ging.
Oh Thor.
Ohnezahn schaltete schneller als ich und hielt den Westenträger durch ein eindrucksvolles Knurren von einer Umarmung ab. Ein Glück, die hätte meinem brummenden Schädel nämlich den Rest gegeben, in zweierlei Hinsicht. Mal ganz davon abgesehen, dass Astrid ihn dafür schneller umgelegt hätte als er blinzeln konnte.
Überrascht und eingeschüchtert hielt der Mann inne.
„Nun, ich denke, ich sollte mich endlich vorstellen. Mein Name ist Toven, unter Umständen habt ihr bereits von mir gehört. Nein? Hm, das ist verwunderlich. Nicht weiter wichtig. Ihr seht erschöpft aus, kommt doch mit. Meine Leute werden eure Drachen mit Fisch versorgen und ich bürge höchstpersönlich dafür, dass niemand ihnen etwas tut, wenn er nicht den Wunsch hat, als Haiköder seine letzten Stunden zu verbringen."
Ein Murmeln ging durch die Menge, einige schwer deutbare Blicke flogen zu uns und unseren Freunden, die sich von ihrer besten kampfbereiten Seite zeigten. Viel konnte man auf Tovens Versprechen nicht geben.
„Wir bevorzugen die frische Luft."
Wow, ich konnte wieder halbwegs normal sprechen, ohne meine Zähne zu zerstören.
„Oh, das hätte ich mir denken können, selbstverständlich." Er drehte sich zu den immer unruhiger werdenden Menschen um. „Na los, an die Arbeit! Kurs Richtung Basis, diese Wunde sollte ein Heiler beäugen."
Astrid umklammerte knurrend ihre Axt fester.
„Der Heiler sollte ganz andere Dinge beäugen."
„Warte, stopp, Denkpause. Hatte irgendwer mal eine Basis erwähnt?"
Verwirrt sah Rotzbakke in die Runde, auch bei ihm drückten dunkle Augenringe die dringend notwendige Mütze Schlaf aus.
Ich fuhr wieder zum Westenträger, der der eilig forteilenden Menge noch ein paar Befehle hinterher rief.
„Nein, davon war nie die Rede.", murmelte ich. Wo hatte ich uns jetzt schon wieder hineinbugsiert?
Aber vor allem: Wie sollte Moira uns so jemals finden? Panik breitete sich in mir aus. Ich musste das verhindern. Eine Drachenjägerbasis war der letzte Ort, an den ich jetzt kommen wollte. Noch gaukelte Toven uns Freundlichkeit vor- oder geistige Verwirrung-, doch Drachenjägern durfte man nicht trauen. Es konnte sein, dass er nur so tat, weil er sich uns gerade unterlegen fühlte, und sobald wir die Basis erreichten, legte er andere Karten auf den Tisch, oder er hatte einen ganz anderen Plan, auf den wir hereinfallen sollten. Natürlich konnte ich ebensogut aus einer Mücke einen erschütternden Rüttler machen, aber bei Selma hatten wir uns auch ziemlich sicher gefühlt. Und dann war Sturmpfeil gestorben. Selbstverständlich konnte Selma dafür nichts, die Lektion würde ich dessen ungeachtet nie vergessen. Moira hatte die Wahrheit gesagt, diese Jäger waren anders. Sie ließen einen sich in scheinbarer Sicherheit wiegen und griffen an, wenn man es am wenigsten erwarteten. Ich würde kein Risiko eingehen.
„Toven! Wir werden nicht zu eurer Basis mitfahren. Ich weiß das Angebot zu schätzen, wir lehnen dennoch ab."
Stille.
Ganz langsam drehte der Befehlshaber sich um. Er grinste.
„Wirklich nicht?"
Automatisch schlossen sich meine Finger um den Schwertgriff.
Hoffentlich reichte die kurze Erholungszeit unseren Drachen, um einen genügend sicheren Platz zu finden.
„Und wo wollt ihr dann hin? Ihr seid übermüdet, erschöpft. Eure Drachen schaffen es kaum über die Klippe, bevor ihre Flugmuskeln verkrampfen und du bekommst allein vom Aufstehen heftige Schwindelanfälle. Deine Freunde können mit letzter Kraft ihre Augen offen halten, die einzige wirklich kampfbereite Person wird von ihrem eigenen Körper behindert."
Gelassen lehnte er sich an die Reling.
„Seien wir ehrlich zueinander; Euch bleibt keine Wahl mehr."
Jetzt wäre der perfekte Augenblick für eine Rettungsaktion à la Moira gekommen. Doch die schwarze Kriegerin saß meinetwegen im Labyrinth fest.
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