(6) Stille
Kjell
Ich war verdammt froh darüber, heute noch nichts gegessen zu haben. Und ich verstand beim besten Willen nicht, wie diese Menschen hier freiwillig auf Drachen ritten.
Wirklich, was zum Kuckuck war so toll daran, ungesichert in alle Richtungen zu schaukeln?
Man konnte jeden unaufmerksamen Moment das Gleichgewicht verlieren und bei unserer derzeitigen Höhe wäre das Wasser hart wie Granit, wenn man draufklatschte.
Plötzlich kam mir das Wrack, mit dem ich über den Ozean geschickt worden war, solide und sehr vertrauenserweckend vor, obwohl es bereits in seine Einzelteile zerfallen war.
Einzelteile, das beschrieb die Atmosphäre ausgezeichnet. Jeder hing seinen Gedanken nach, starrte stumm den Horizont an oder begutachtete seine Hände. Nur Astrid, die bildhübsche und temperamentvolle Wikingerin, nicht. Ihre blauen Augen hatten ihren Glanz verloren und sahen blind und trüb in die grauen Wolken. Der Junge, den alle mit „Hicks" ansprachen, saß hinter ihr auf dem Nachtschatten, sein um ihre Hüften geschlungener Arm versprach ihr Halt und Beistand und bewahrte sie zusätzlich vor dem Absturz. Wir würden in naher Zukunft wieder landen, damit der stämmige Gronkelreiter und Moira den blutgetränkten Verband um Astrids zerstörten Arm wechseln konnten.
Das war seit gestern die einzige Tätigkeit, bei der ein paar knappe Worte gewechselt wurden. Anschließend würden wir wieder stundenlang schweigen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas sagen müsste, um sie zu trösten. Es tat mir unfassbar für sie leid und ich wollte, dass sie das wusste. Aber das würde sie mir sowieso nicht glauben und im schlimmsten Fall endete ich mit einer Axt im Körper. Wenn es nicht die von Astrid war, dann die von Moira. Also sagte ich lieber weiterhin nichts.
Man konnte ihnen ihre Ablehnung mir gegenüber überhaupt nicht verübeln. Ich hasste mich ja selbst, also hatten sie erst recht allen Grund dazu. Und ganz ehrlich; Ein Auftragsmörder, der jemandem Beileid aussprach, war nun wirklich ein sehr schlechter Scherz. Um es mit den Worten der Moira zu sagen, die ich früher kennenlernen durfte: „Das glaubt dir nichtmal Selma."
Tja, so wie es aussah, würden wir solch ein freundliches Gespräch wie damals nie wieder führen, dafür hatte ich mehrmals gesorgt. Zuerst, als ich auf Niras Aufforderung hin die Drachenjäger zu ihrem Haus geführt hatte, dann, als Moira aus dem Haus entkommen, ich sie im Hafen entdeckt und erleichtert ihren Namen gerufen hatte. Die Bewohner der Insel, die Moira die Tage zuvor mit aller Macht gegen die brutalen Jäger verteidigt hatte, hatten sie daraufhin festgehalten und an die bewaffneten Männer übergeben. Aus dem einfachen Grund, dass sie keinen Ärger wollten. Eine Elfjährige nahm es mit mehreren bewaffneten und ausgebildeten Kriegern auf, um diese Leute zu beschützen, und wurde von eben diesen Leuten dann verraten, weil sie den Weg des geringsten Widerstandes gingen und schon immer gegangen waren.
Kein Wunder, dass sie diesen Hicks davon abgehalten hatte, die Insel zu verteidigen.
Sie hatten sie auf das Schiff geführt und ich hatte mit schrecklicher Gewissheit registriert, dass sie nicht mehr lang zu leben hatte.
Und bei unserem nächsten Zusammentreffen hatte sie mir das Leben gerettet und ich hatte sie kurz darauf fast umgebracht. Das war alles, was Moira und die Reiter über mich wissen konnten, und es warf sicher kein allzu heldenhaftes Licht auf mich. Wie gesagt, sie hatten alles Recht der Welt, mich zu hassen.
Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn sie auch das kennen würden, was zwischendurch passiert war. Das, worüber ich noch nie gesprochen hatte.
Um es kurz zu machen: Ich hatte Sungirds Zorn auf mich gezogen. Garantiert nicht so schlimm wie Moira, aber genug, um über Monate in einem steinernen Verließ auf meine Hinrichtung zu warten.
Nachdem die Jäger abgelegt hatten, hatte mich mein Gewissen eine Entscheidung fällen lassen, die ich vorher nie für möglich gehalten hatte. Mit einem kleinen Segelboot und ohne irgendwem irgendwas zu sagen, hatte ich nachts die Insel verlassen und begonnen, Drachen zu befreien. Geritten war ich nie auf einem und auch so hatte ich nie viel mit ihnen zu tun. Käfigtür auf, beten, dass ich die Aktion überleben würde, und fertig.
Im Gegensatz zu Moira, die schon immer total von diesen Wesen fasziniert war, hatte ich eine Heidenangst vor den Megaechsen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Aber ich hatte sie trotzdem befreit, immer und immer wieder, bis ich geschnappt worden war. Ich hatte es für Moira getan, nicht ahnend, dass sie genau dasselbe noch viel gründlicher tat.
Hätte ich davon gewusst, wäre ich nie auf Sungirds Angebot eingegangen.
„Lasst uns da vorne landen."
Die Worte des Anführers klangen bedrückt in der allgegenwärtigen Trauerglocke nach. Niemand antwortete, aber man wusste, dass alle ihn gehört hatten.
Eigentlich war dieser Flug total sinnlos. Niemand wusste, wohin sie mussten und niemand interessierte sich dafür. Wahrscheinlich machten sie es nur, um überhaupt etwas zu tun und sich von ihren Gedanken abzulenken.
Ich musste zugeben, ich hatte die Drachenreiter falsch eingeschätzt, schrecklich falsch. Sie schlugen nicht hirnlos drauf los, waren weder oberflächlich noch zurückgeblieben oder überheblich. Tatsächlich waren sie erschreckend einfühlsam und ganz einfach überhaupt nicht wie die holzköpfigen, ungehobelten Weltverbesserer, als die die Wachen sie zu bezeichnen pflegten. Sogar Rotzbakke und die eigenartigen Zwillinge zeigten in der tristen Situation ein großes Maß an Menschlichkeit und Mitgefühl. Kein einziger dummer Scherz hatte ihren Mund verlassen, seit Fischbein gestern Astrid zusammengeklappt über dem Körper des grauenvoll zugerichteten Drachens gefunden hatte.
Aber vor allem waren die Drachenreiter loyal. Eine Eigenschaft, um die ich sie mehr beneidete, als ich es sagen konnte. Egal, wer von ihnen in meiner Haut gesteckt hätte, keiner hätte sich so feige verhalten wie ich. Keiner von ihnen würde jemals seine Freunde verraten, unter keinen Umständen. Sie würden füreinander sterben.
Vielleicht galt das ebenso für ihre Drachen. In all den Jahren, die ich die Reptilien befreit hatte, hatte ich stets aufs Neue über die Intelligenz dieser Wesen staunen müssen. Hatte der blaue Drache sich geopfert, um einen seiner Kameraden zu retten? Möglich wäre es allemal.
Erneut drohte mein Herz, mich von innen in Stücke zu zerreißen. Denn die einzige Person, für die ich je mehr oder weniger bereitwillig gestorben wäre, hasste mich aus gutem Grund und war durch meine Feigheit zu der Person geworden, die sterben musste, damit ich auch nur den Hauch einer Chance aufs Überleben hatte.
Und ich wollte leben.
Mit ihr. Aber diesen Weg hatte ich mir selbst verbaut.
Unsanft ließ der zweiköpfige Drache mich und den Stuhl, an den ich noch immer gefesselt war, auf den Boden plumpsen. Trotz der unfreundlichen Geste durchströmte mich Erleichterung. Boden, fester Boden, welch ein Segen!
Die übrigen Drachen setzten nun auch zur Landung an und keine fünf Minuten später war der Verband entfernt.
Fischbein zog scharf die Luft ein, Moiras Augen weiteten sich ein kleines Stück und ich konnte selbst von meiner Position aus die ungesund rot leuchtende Haut sehen.
„Entzündet. Hat jemand von euch Salbei dabei?"
Einstimmiges Kopfschütteln der Drachenreiter.
„Kamille?"
Hicks und der Gronkelreiter wechselten einen betroffenen Blick. Wirklich jetzt? Wer begab sich ohne Heilkräuter auf so eine Mission?
„Nira muss sie irgendwie entwendet haben und der neue Vorrat liegt noch in Selmas Hütte." Ok, an die Kräuter hatte wohl keiner von uns gedacht, als es Steine regnete.
Die schwarze Kriegerin seufzte.
„Gut, dann suche ich nach Brennnesseln. Kocht währenddessen schonmal die Tücher aus."
Nachdem Moira hinter einem Felsen verschwunden war, kehrte wieder Stille ein, die irgendwann durch das Prasseln eines kleinen Feuers ersetzt wurde. Das rötliche Licht ließ die Wunde noch grausamer erscheinen als sie ohnehin schon war. Allein der Gedanke an diesen Bruch reichte, dass ich mir Schmerzen in meinem linken Oberarm einbildete, und Astrid schien nichtmal zu bemerken, dass Hicks sie von dem Drachen hob, von den bestimmt unvorstellbar großen Schmerzen ganz zu schweigen. Wie eine Puppe sah sie starr geradeaus, nahm aber nichts wahr. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich sie das letzte Mal blinzeln gesehen hatte. Mit Sicherheit war es unnormal lange her.
Behutsam setzte ihr Freund sie in der Nähe des Feuers ab. Sie zeigte weiterhin kein Lebenszeichen. Nicht, als er ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht strich und auch nicht, als er aus Versehen ihren Arm berührte.
Erst, als er sie vorsichtig in den Arm nahm, ihr übers Haar strich und so leise begann zu reden, dass ich seine Worte nicht hören konnte, hörte sie auf, ins Nichts zu starren und richtete ihren Blick auf ihn. Einen Moment hielt sie den Blickkontakt, dann lehnte sie ihre Stirn gegen seine Schulter.
So saßen sie bestimmt eine Stunde einfach nur da, während der stämmige Wikinger die Tücher auskochte, die Zwillinge halbherzig über Wildschweine diskutierten und der Reiter des Riesenhaften Alptraums gedankenverloren Holz ins Feuer warf. Lächeln tat niemand.
Irgendwann kam Moira zurück. Ihre Suche war mehr als erfolgreich gewesen, ich konnte zwischen den heimtückischen Brennnesselstielen auch einige silbrig schimmernde Blätter ausmachen. Ohne ein Wort zu verlieren überreichte sie den Großteil der Pflanzen an den Gronkelreiter und vermischte die anderen zu einer Paste, die sie auf die Tücher strich, welche Astrid sich kommentarlos umlegen ließ.
Dann saßen wieder alle planlos um das Feuer herum und betrachteten die Flammen.
„Wir sollten die Nacht hier verbringen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal eine Insel finden.", murmelte Hicks schließlich in die bedrückende Stille.
Wie auch vorhin erhielt er keine Antwort. Wahrscheinlich hatte er sowieso keine erwartet.
Provozierend langsam versank die rote Sonne im Meer. Der Himmel war ein wahres Wunderwerk an Farben, die Wolken glühten golden und vereinzelt blitzten die ersten Sterne auf.
Es war falsch, so falsch. Ein Gewitter wäre passend gewesen oder ein grauer, wolkenverschleierter Himmel, aber dieses Farbenspiel war falsch. Denn es gab nichts Schönes an diesem Tag und es würde vielleicht auch nie wieder etwas Schönes geben. Der erste Unschuldige war gefallen, obwohl die Schlacht noch nicht begonnen hatte. Und es würden weitere folgen, wenn Sungird nicht aufgehalten wurde.
Aber es gab niemanden, der dazu die Kraft hatte. Nicht mehr.
Endlich verschwand der Feuerball im Meer. Auf der anderen Seite des Horizonts schob sich der fast volle Mond durch die Wolken. In etwa vier oder fünf Tagen würde er in ganzer Pracht die Nacht erleuchten. Hoffentlich würden wir dann noch leben.
Wenn ich diesen Satz laut aussprechen würde, würde man mich als Pessimisten betiteln. Vielleicht würden sie mir sogar den Mund zubinden. Aber sie wussten nicht, was ich wusste. Sie hatten nicht monatelang in seiner Nähe festgesessen und die Gespräche der Wachen mitverfolgt.
Sungird war schlau. Schlauer, als man es ihm zutrauen würde. Und er war geduldig. Seit Jahren plante er sein Vorgehen bereits und nun stand sein Plan kurz vor der Vollendung.
Sein Ziel: Die Vernichtung der Drachen und aller, die für sie Partei ergriffen.
Vor Jahren hatte man ihn dafür ausgelacht. Alle Drachen vernichten? Das konnte nur der Fantasie eines Verrückten entspringen. Es hatte lediglich eine Person gegeben, die großen Respekt, geradezu Angst vor ihm gehabt hatte: Drago Blutfaust, der Drachenbezwinger. Trotz seiner Armee an gepanzerten Drachen, die er schon damals um sich scherte, hatte er ihn gefürchtet, denn nach dem, was ich aufgeschnappt hatte, war Sungird die einzige Person, die ihm jemals wirklich hätte gefährlich werden können, die seine ganze Drachenarmee auf einen Schlag unglaublich hätte schwächen können.
Ich wusste nicht, wie Sungird es anstellen wollte, aber ich wusste, dass es möglich war, denn er war kein Träumer. Und ich wusste auch, dass ich ein erneutes Zusammentreffen mit ihm nicht überleben würde.
Ein „Hmmmmm..." holte mich zurück auf den unbequemen Stuhl. Das Zwillingsmädchen stand vor mir, eine Hand nachdenklich am Kinn, und musterte mich eindringlich.
Ich schielte an ihr vorbei und sah gerade noch, wie ihr Bruder unter dem Flügel des Zweikopfs verschwand. Offensichtlich war sie für die erste Nachtwache eingeteilt worden.
„Was glaubst du, wie viel Ärger ich bekomme, wenn ich dich einfach als Testperson für das Unterwasser-Atmungs-Kugelrund benutze?"
Im ersten Moment starrte ich sie mit offenem Mund an, dann ging mir auf, dass sie allen Ernstes eine Antwort erwartete.
„Oh, äh, ich glaube, das wird ganz schön viel Ärger geben."
„Echt? Aber du könntest es doch überleben. Und wenn nicht, dann wäre es eigentlich nicht so schlimm. Moira sieht auch so aus, als würde sie dir am liebsten den Kopf abreißen."
Autsch, da hatte sie ins Schwarze getroffen.
„Ja, ich bin mir ganz sicher. Hicks will bestimmt nicht, dass du das machst, das hat er doch gestern schon gesagt."
„Pff, das war doch nur, weil er Hicks ist. In Wirklichkeit kann er dich auch nicht leiden."
Wo sie recht hatte...
„Und eigentlich schleppen wir dich ja nur hin und her. Das ist echt nervig, weißt du? So gesehen tue ich allen einen Gefallen."
Augenblick. Diese Aussage war mir überraschend hilfreich.
„Ehrlich gesagt finde ich es auch sehr nervig, immerzu durch die Gegend geschleppt zu werden."
Überrascht ließ sie ihr Kinn los.
„Wirklich?"
„Ja, wirklich. Und dieser Stuhl ist außerdem extrem unbequem."
„Das heißt, du hast nichts dagegen, die Testperson zu sein?"
„Doch! Äh, ich dachte eher daran, dass du mich einfach losbindest und ich verschwinde. Der Effekt wäre derselbe. Und ich würde auch niemandem etwas davon verraten!"
Jetzt kniff sie ihre Augen zusammen. Mist, sie hatte es bemerkt. Damit wäre meine Chance dann dahin.
„Du meinst echt, dass ich dich einfach laufen lassen soll?"
Ich brauchte eine Sekunde, um meine Fassung zurückzugewinnen.
„Jaja, unbedingt."
„Hm..."
Sie drehte sich kurz zu den schlafenden Drachenreitern um.
„Weißt du, wahrscheinlich gehen die sogar alle davon aus, dass ich das mache."
„Na, dann hast du doch nichts zu verlieren."
Oh bitte, bitte, das musste funktionieren!
Ich hielt den Atem an, als sie einen kleinen Dolch hervorzog und ihn nachdenklich betrachtete.
„Du erwartest doch auch, dass ich das mache, oder?"
„Ja, genau das tue ich."
Na los, jetzt mach schon!
Langsam setzte sie die Klinge an eines der Seile, dann hielt sie jäh inne und sah zum Feuer zurück.
„Du erwartest, dass ich dich freilasse, meine Freunde erwarten, dass ich dich freilasse, ich erwarte, dass ich dich freilasse..."
„Ja, und jetzt beeil dich bitte!"
„Aber ich hasse es, Erwartungen zu erfüllen. Da schleppe ich dich lieber noch eine Weile durch die Gegend."
Damit steckte sie das Messer wieder weg und setzte sich in den Sand.
Der Abend zog sich quälend langsam dahin. Das Zwillingsmädchen plapperte unaufhörlich wie ein Wasserfall, aber das war noch halbwegs erträglich. Das eigentliche Problem waren die Themen, über die sie sprach. Sie bezogen sich fast ausschließlich auf verstorbene Verwandte und obwohl sie nicht übermäßig bekümmert klang, wusste ich nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
Nach einiger Zeit keimte in mir der Verdacht auf, dass es sie nichtmal interessierte, ob ich ihr zuhörte, sondern dass sie eher mit sich selbst sprach, so als würde sie die Gedanken in ihrem Kopf ausformulieren, um das Chaos zu beseitigen und irgendwie mit der Situation klarzukommen, ohne völlig durchzudrehen.
Vermutlich hatte sie auch nur aus diesem Grund das Thema mit dem Unterwasser-Dings-Bums wieder aufgegriffen, denn es lenkte hervorragend von der Realität ab.
Just als sie ihren Monolog über das zahme Wildschwein Femdran der Freundin des Onkels ihres Ururururgroßvaters beendet hatte, löste der schwarzhaarige Wikinger sie ab. Im Gegensatz zu ihr verschwendete er kein einziges Wort, sondern malte mit den Fingern Strichfiguren in den Sand. Immer, wenn er eine Szene gerade beendet hatte, heftete er seinen Blick für eine Weile auf sie und wischte die Skizze anschließend so energisch fort, dass ich jedes Mal eine Ladung Sand gegen die Beine bekam. Der Gronkelreiter, der nach ihm die Wache übernahm, schrieb nicht weniger eifrig in ein kleines Büchlein, brach jedoch aufgrund von Schluchzanfällen ständig ab und begann von vorn. Einmal erhaschte ich einen Blick auf die Buchseite und erkannte einen Gronkel, der verdächtig viele Eigenschaften der Drachenart, welcher der blaue Drache angehört hatte, aufwies. Auch dieser Drachenreiter schien bei seiner Ablenkung nicht sonderlich viel Glück zu haben.
Wer nach ihm an der Reihe war, bekam ich nicht mehr mit. Die Aufregung der letzten Tage forderte ihren Tribut.
Ich schlug die Augen erst wieder auf, als wir uns bereits wieder in schwindelerregenden Höhen befanden. Falls ich das hier irgendwie wider Erwarten überleben sollte, würde ich mir eine tiefe Höhle suchen und nie, nie, nie wieder den Boden verlassen. Nie wieder. Auf gar keinen Fall.
Über mir klickte und klackte es in kurzen Abständen. Langsam und auf das Schlimmste gefasst legte ich meinen Kopf in den Nacken- und hatte einen einwandfreien Blick auf einen mit glitzernden schwarzen Schuppen gepanzerten Drachenbauch. Ich schluckte. Meine Aussichten, das alles heil zu überstehen, schwanden besorgniserregend schnell. Wenn Moira mich fallen lassen wollte, dann würde sie mich fallen lassen und derzeit fiel mir kein Grund ein, warum sie das nicht wollen könnte.
Das Klicken verstummte.
„Ich bekomme sie nicht auf. Der Mechanismus klemmt, weil das Schlüsselteil fehlt.", verkündete Moira niedergeschlagen.
„Dann war also alles umsonst. Die Kämpfe, die Suche, Sturmpfeils Leben... für nichts."
Beim Klang von Astrids Stimme zuckte ich zusammen. Die Worte waren so hoffnungslos, so verbittert. Mein Herz krampfte sich zusammen. Einmal hatte ich diesen Ton schon erlebt. Es war an dem Tag gewesen, da der alte Mann aus der Zelle neben mir zu seiner Hinrichtung geholt worden war. Jede Silbe vibrierte dumpf und hohl, man hörte die gebrochenen Hoffnungen und die leeren Plätze der Träume auf schaurige Art heraus. Dieses Mädchen hatte zu viel verloren.
„Astrid, das ist nicht wahr. Wir werden dieses Teil finden, das verspreche ich dir. Sturmpfeils Abschied war nicht umsonst."
Bei den Worten des Anführers bebte ihr Mundwinkel leicht, aber für ein noch so gequältes Lächeln fehlte der Blondine die Kraft.
Die Verzweiflung hinter dieser Geste sorgte erneut für den Wunsch, ihr mein Beileid auszusprechen. Es war nicht fair, dass sie so leiden musste und ihre Freunde mit ihr.
Und zum ersten Mal fragte ich mich, was passiert wäre, wenn ich an diesem Morgen nicht durch Moiras Fenster geklettert wäre. Würde Sturmpfeil dann noch leben?
„Worum kann es sich bei dem Schlüsselteil denn handeln?"
Der Gronkelreiter stöberte schon wieder eifrig in seinen Aufzeichnungen herum.
„Meistens sind es Zähne. Etwas, woran man nicht so leicht kommt und was man nur schwer fälschen kann."
„Ein Zahn? Vielleicht einer von Nachtblitz?", beteiligte sich der Schwarzhaarige unerwartet an dem Gespräch. Worum ging es überhaupt?
„Zu offensichtlich, Rotzbakke. Wenn man etwas wirklich gut verschließen will, dann darf der Schlüssel nicht das sein, was logisch ist."
Der männliche Zwillinge stockte kurz, als wäre ihm eine blendende Idee gekommen. Dann wandte er sich wieder an seine Freunde: „Also, was ist das Unlogischste, was uns einfällt?"
Augenblick entbrannt eine lautstarke Diskussion, bei der jeder möglichst sinnlose Dinge einwarf. Anfangs handelte es sich dabei wenigstens noch um widerwillig genannte Gegenstände, doch dann folgten bald mit deutlich mehr Motivation Tätigkeiten und Namen. Schließlich wurden die Worte immer länger und unverständlicher, bis Astrid mit einem ganz hauchfeinen Lächeln auf den Lippen meinte: „Taff, wirklich, ich bezweifle, dass man die Kiste mithilfe von aus Nasenhaaren gewebten Segeln in Ohrenform öffnen kann."
Bei dem kaum hörbar belustigten Ton strahlte der Zwillingsjunge bis über beide Ohren und alle anderen hatten ebenfalls ein glückliches Funkeln in den Augen. Sie hatten es tatsächlich geschafft, sie für einen ganz kurzen Augenblick aus ihren düsteren Gedanken zu retten.
Leider blieb es bei einem ganz kurzen Augenblick, dann kehrte die verdrängte Trauer mit besitzergreifender Macht zurück.
Zum Scherzen hatte nun niemand mehr Lust oder Wille und so legten wir die nächsten Stunden bedrückt schweigend zurück. Selbst der Verbandwechsel verlief wortlos, als wären die Worte durch den unpassenden, aber in diesem Moment richtigen Blödsinn aufgebraucht. Als Ablenkungsmanöver hatte es gewirkt, doch jetzt fühlte es sich falsch an.
Es knisterte und zischte laut, als die trockenen Blätter Feuer fingen. Wenige Sekunden später hatten die Flammen auf die Zweige übergegriffen und das Lagerfeuer flackerte ruhig vor sich hin.
Es war das erste wirkliche Geräusch seit Stunden und kam mir deshalb unnatürlich laut vor. Allerdings nicht so laut wie der erschrockene Ausruf des Gronkelreiters, als er sich zum Schlafen neben einen Baum legen wollte.
„H-Hicks, w-wir sollten hier ganz schnell wieder weg.", war alles, was er sagte, während er rote und grüne Schuppen vom Boden aufhob.
Der Angesprochene erbleichte.
„Wechselflügler."
„Wohl eher Klingenpeitschlinge."
Demonstrativ deutete Rotzbakke auf tiefe Furchen in einem Fels kaum drei Meter entfernt. Der Feuerschein spiegelte sich auf ihnen unheilverkündend wider.
„Klingenpeitschlinge und Wechselflügler? Das passt nicht zusammen."
„Nicht im Guten.", korrigierte Moira den stämmigen Wikinger, „aber ich befürchte, dass die Spuren auf Kämpfe hinweisen und diese noch nicht allzu lang her sind. Wir sollten hier schleunigst-"
Zischend ätzte sich grüne Säure an der Stelle durch den Boden, an der sie gerade noch gestanden hatte. Ich fuhr herum, schnell genug, um den roten Drachen zusammenbrechen zu sehen. Aus seiner Nase ragte das Ende eines winzigen Pfeils.
„...verschwinden.", beendete Hicks ihren Satz.
Wie aufs Stichwort flimmerten die Bäume und Felsen und mit einem Mal hockten dort überall genau solche Drachen wie der, der uns soeben angegriffen hatte. Wir saßen in der Falle.
Der Nachtschatten knurrte bedrohlich. Total überflüssig, die Viecher hörten eh nicht auf- Was in aller Welt...?
Die zogen sich tatsächlich zurück! Einfach so!
Und alle Anderen waren darüber so gar nicht überrascht. Klar, normal, fast alltäglich.
Wahrscheinlich schlief ich schon längst und das war nur ein sehr realistischer Traum. Der silberne Drache würde jetzt auch gleich wieder umdrehen und seine Freunde mitnehmen. War ja nur ein Traum.
„Fischbein, du weißt nicht zufällig, ob gerade Brutzeit ist?"
Nein, die Panik in Hicks' Stimme entsprang definitiv keinem Traum.
Die Antwort verlor an Bedeutung, als die Metalldrachen zum Angriff übergingen.
Dieses eine Mal war ich unglaublich froh, als Nachtblitz' Krallen die Stuhllehne packten und mich in die Höhe rissen. Von Feuerbällen gejagt sausten wir durch die Luft und suchten nach einem rettenden Unterschlupf, denn zum Weiterfliegen waren die Drachen der Reiter zu erschöpft.
„Höhle! Da vorn!"
Rotzbakkes Finger wurde knapp von einem Feuerball verfehlt, aber nun hatten wir das große dunkle Loch ebenfalls erspäht. Sofort änderten sämtliche Drachen ihren Kurs und rasten schnellstmöglich auf die rettende Öffnung zu. Zehn viel zu flotte Herzschläge später verschluckte uns die Dunkelheit, doch als ich gerade aufatmen wollte, traf ein Schuss den Eingang und ließ ihn unter ohrenbetäubendem Krach explodieren. Vorerst saßen wir hier fest.
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