51 (4) Leben
Moira
Die Insel war nicht so flach, wie es auf den ersten Blick gewirkt hatte. Die Seite, von der wir uns genähert hatten, bildete ein schräg ansteigendes Plateau, das erfolgreich einen weitläufigen Strand, Felsnadeln, -mauern sowie die zerklüftete Seite des Berges verbarg. Hier gab es ein überschaubares, dafür wildes Durcheinander verwaister Nutzpflanzen, weitere Wracks und Ruinen früheren Lebens: Steinerne Außenmauern weniger Hütten, Zaunpfähle mit teils noch hängenden, rottenden Latten. Auf manchen Felsnadeln ragten zackige Reste von Wachtürmen kronenhaft empor.
Ein Außenposten.
Aber die große Höhle war mit Trümmern gestopft.
Das Hauptbrutlager existierte nicht mehr, ebensowenig wie das auf dem Plateau. Wobei es sich bei diesem weniger um eine Brutstätte als um einen Rettungsversuch gehandelt haben musste.
„Lass uns nach weiteren Höhlen suchen. Irgendwo muss etwas sein."
Solange mir noch Hoffnung blieb.
Ich drückte ein letztes Mal gegen den Schutt, der die Höhlengänge völlig füllte, ehe ich mich zum Gehen wandte.
Ohne genaue Richtung. Hauptsache in Bewegung bleiben.
Meine Stimme hallte durch den verstopften Gang, prallte zu mir zurück. Nein, da war nichts mehr.
Wahrscheinlich.
<Da ist wirklich nichts mehr. Siehst du, du lernst schnell.>
Ein schwaches Lächeln entriss mir für einen Moment die Kontrolle über mein Gesicht. Einen Moment, dann fiel es in sich zusammen.
Warum konnte ich mich nicht einfach freuen? Warum wartete ich nur darauf, einen Preis zahlen zu müssen?
Irgendwoher musste diese Fähigkeit gekommen sein. Blieb es dabei? Würde sie wieder verschwinden? War sie ein letzter Nachhall der Verwandlung? Oder erst der Anfang einer neuen Unmöglichkeit? Ich hatte fremdes Wissen in meinem Kopf, konnte Mäuse atmen hören und in einem zerstörten Körper leben. Was passierte mit mir?
Nachtblitz' Euphorie spülte die Sorgen fort, wie eine Welle es mit verlorenen Fischnetzen tat.
Doch sie blieben, wirbelten unter der Oberfläche, verhedderten sich in größerem Unrat und brachen irgendwann als Monstrum durch die Wellen.
Irgendwann.
Irgendwann war egal. Hier zählte das Jetzt.
<Hast du was gefunden?>, fragte ich. Mehr, um mich von meinen Gedanken abzulenken, als um die Antwort zu hören.
Ich stolperte über den Sand, folgte dem Geräusch ihrer Krallen auf Fels. Mein Schuh verhakte sich, beim Auffangen stieß ich mit den anderen Zehen irgendwo gegen, hörte noch <Achtung, Kante!> und knallte mit den Händen auf Stein.
<Schneller Lerner, was?>
Murrend rappelte ich mich auf die Knie.
Nachtblitz tapste kleinlaut zu mir.
<Entschuldigung.>
<War mein Fehler>, winkte ich ab. Es kribbelte hinter meiner Stirn, helles Licht ließ mich blinzeln- nicht, dass es etwas bringen würde.
Resigniert stieß ich die Luft aus. Vor mir baute sich ein regelrechtes Labyrinth aus Felsbrocken auf.
<Das wäre lustig geworden.>
Nachtblitz schnaubte, sah vom Boden zu der riesigen Geröllwand, die sich einige Meter weiter gegen den Berg drückte.
Meinte sie wirklich?
<Dahinter...?>
<Vielleicht. Ich werde den Weg freisprengen müssen.>
Automatisch griff ich nach dem Sattel. Das Leder knirschte kurz, dann saß ich.
<Feuer frei.>
Sie stieß sich in die Höhe, lud zeitgleich einen Schuss, feuerte. Eine einzige Bewegung. Dunkel blitzten die Flammen auf, es knallte, die Insel dröhnte, Staub und Steine surrten an uns vorbei.
Die Geröllwand sackte ein Stück ab, um in Bodennähe noch massiver zu werden.
Sofort schickte meine Freundin drei weitere hinterher. Der Berg schien zu beben, Brocken rollten, doch der Mauerfuß blieb.
<Diese Wand ist nicht natürlich.>
Nachtblitz flog eine Runde, vertrieb den Staub.
<Die Felsen explodieren nicht. Sie verrutschen höchstens.>
<Marmor?>, fragte ich zweifelnd. Die Farbe passte nicht.
<Nein.>, bestätigte sie mir. <Aber was auch immer es ist, wir bekommen es nicht weg. Die Brocken sind zu schwer zum Tragen. Entweder quetschen wir uns durch die Lücken oder finden einen anderen Eingang.>
<Durch diese Lücken kommt nichtmal eine Maus.>
Ich spürte ihre zögernde Erwartung- oder war es meine? Schwer zu sagen, wir schienen denselben Gedanken zu haben. So verzwickt die Situation war, sie gab eine gute Übung ab.
Ich schnalzte mit der Zunge. Diese Klacklaute hatten sich als besonders geeignet erwiesen. Auch jetzt flogen sie glatt durch die Luft, brachen sich klar an Oberflächen und überlagerten sich in meinem Ohr. Nur nicht zu einem Bild. Ich hatte immer angenommen, Echoortung würde eine Art geistiges Bild der Umgebung erschaffen. Weit gefehlt. Die Töne kamen und vergingen im nächsten Moment. Es gab keine Linien, die sich anhand ihres Klanges verformten und meine Augen ersetzten.
Töne blieben Töne, nur hatte ich nie geglaubt, dass sie so facettenreich sein konnten. Ich hörte die feinsten Nuancen, die kleinsten Veränderungen.
Wieder klackte ich. Und wieder, wieder, im Rhythmus.
Die Töne kamen, brachten Unmengen an Informationen. Ich musste sie bloß sortieren und deuten.
Bloß. Das war Gedankenakrobatik.
Licht hatte ich automatisch verarbeiten können. Mir hatte auch niemand erklären müssen, wie man schmeckte, roch oder hörte. Doch dieses intensive Hören war neu. Das lief nicht automatisch.
Ohne Nachtblitz wäre ich aufgeschmissen.
Nicht nur wegen der Echoortung.
Sie wartete geduldig, doch ich spürte ihre Neugier deutlichst.
<Einige Töne klingen dunkler als die übrigen. Zu dunkel, um nur eine Oberflächenbeschaffenheit zu sein, zu klar, um von dem Geröllberg zu stammen. Ich glaube, sie kommen von....>
Klack. Klack.
Ganz sicher, sie kamen aus dieser Richtung.
<...da.>
<Dachte ich vorhin auch, aber dort ist nur ein schmaler Spalt. Er reicht nicht tief.>
<Reicht er hoch?>
Sie stutzte einen Moment, erkannte, worauf ich hinaus wollte, und trabte los.
Die Satteltaschen schabten gegen den Fels, der Hohlraum dahinter bot Nachtblitz gerade genug Platz zum Wenden. Sonnenlicht erreichte knapp die hintere Wand, reckte sich jedoch vergeblich der Decke entgegen, die von einem riesigen Riss gespalten wurde. Riesig genug, um eine Verbindung zu dem Gang hinterm Geröll herzustellen.
<Halt' dich gut fest, das wird eng.>
Und schon schossen wir senkrecht in die Höhe, passierten flach den Spalt, der glücklicherweise weiter war, als er wirkte. Krallenspuren zogen sich über den Fels und mein Herz hüpfte freudig. Nachtblitz schnitt eine enge Kurve, folgte dem Verlauf, bis die Luft feuchter roch und sich unter uns der Fels öffnete.
Hauchfein wirbelte Staub auf, als wir landeten.
Der Riss, durch den wir gekommen waren, zog sich bis zum Boden und könnte die Bergwand durchbrechen, doch wo Licht sein sollte, türmten sich Trümmer. Die Geröllwand.
Langsam drehten wir uns um, zögernd, denn die Wahrheit konnte sowohl wunderbar als auch zerstörend sein.
Hinter uns eröffnete sich ein Tunnel. Wasser tropfte dumpf in der Ferne. Ein Weg zum Herzen der Insel.
Blieb zu hoffen, dass es nicht aus toten Schalen bestand.
Wir hatten eine andere Welt betreten. Erst wurde die Luft feuchter, dann tauchten leuchtende Pilze auf, bald größere, korallenartige Gebilde, die das Wasser auf den Tropfsteinen schillern ließen. Kleine Kristalle funkelten in den Wänden, färbten auf Nachtblitz' Schuppen ab, deren Glitzerpunkte mit jedem Schritt mehr zu kleinen Sternen wurden.
<Was ist das für ein Ort?>
Die Worte fühlten sich falsch an, zerstörerisch laut, obwohl sie völlig tonlos waren.
<Alt. Sehr alt.>, hauchte Nachtblitz. <So alt, dass selbst die Legenden ihn vergessen haben.>
<Wenn hier tatsächlich ein Brutplatz ist...>
<Könnten diese Eier direkte Nachkommen meiner Ururururururururururahnen sein.>
<Hoffentlich erwartest du nicht, dass ich die 'Ur's' gezählt habe.>
<Das war nur eine grobe Schätz->
Abrupt blieben wir stehen. Das Auge strahlte hell aus dem linken Gang der Gabelung heraus.
Ohne Zweifel: Wir waren richtig.
Nachtblitz nahm Tempo auf, ihre Tatzen passten sich unserem Herzschlag an. Noch eine Gabelung, die Pflanzen wurden fremdartiger, irgendwoher kam frische Luft, wir rannten an zwei Abzweigen vorbei und Hackenbremse, das Auge blieb, hing unmittelbar vor uns in der Luft.
Verblasste, gab die Höhle dahinter frei.
Und mit ihr die Eier.
Sie lagen regelmäßig verteilt in Kuhlen auf dem Boden, in Wandnischen, Kristalle schienen für jedes ein kleines Nest zu formen.
Die Schalen glitzerten schwach, als hätten sich die Jahre als Staub über die gelegt.
Nachtblitz näherte sich einem, ich streckte vorsichtig die Finger aus.
<Das ist kein Staub>, murmelte sie. Meine Finger trafen auf eine kalte Oberfläche.
<Das ist Stein.>, erkannten wir zeitgleich.
„Sie sind versteinert."
Der Raum warf die Worte hohl zurück.
Versteinert. Wir waren zu spät. Um ein paar Jahrhunderte zu spät.
Nein. Das Auge war erschienen. Das konnte nicht das Ende sein.
Wir hatten noch den Stern.
Diesmal schnitt ich die Tasche mit meinem Dolch auf. Keine Zeit für diese Schnalle.
Der schlafende Stern lag wartend in meinen Händen. Wohin mit ihm?
<Die Kristallstele.>
Nachtblitz richtete ihren Blick auf meinen Weg. Nicht, dass meine Schuhe den Steineiern hätten schaden können.
Ich erreichte die Mitte der Höhle, konnte das filigrane Kristallgestell kaum erkennen. Mit gläsernen Strukturen hatte Nachtblitz' Nachtsicht schon immer Schwierigkeiten gehabt.
Es ragte pfeilgerade empor, ein Gegenstück reichte von der Decke herab. Der Spalt zwischen ihnen bildete das Zentrum der Höhle, alles schien sich um ihn herum gebildet zu haben. Er bot gerade genug Platz für den Stern.
Leises Klingen erfüllte die Luft, als Stein auf Kristall traf.
Es war, als würde er einrasten. Der schlafende Stern berührte die obere und untere Stele, glitzerte im Licht von Nachtblitz' Schuppen. Die Höhle war vollständig, die Prophezeiung beinahe erfüllt.
Alles, was fehlte, war: <Feuer, damit der Stern erwacht.>
Worte, die sich aus den Tiefen der Zeit in eine Erinnerung schoben, die ich nicht haben konnte. Gesprochen mit Stimmen, die ich nie gehört hatte und mir dennoch nicht fremd waren. An einem Ort ohne Raum, von Seelen ohne Gestalt.
Ich bewegte mich nicht, zuckte nichtmal zusammen, als Nachtblitz eine schmale Flamme durch die Höhle schickte. Es knisterte, knackte, mir war, als würde ich Funkeln hören, während das Feuer den Stern passierte, regelrecht in ihn floss. Er erwachte aus seinem Schlummer, ließ das Licht von innen heraus den Schlaf von Jahrhunderten vertreiben, bis aus dem matten Flimmern ein sattes Glühen wurde, das von den Kristallen in den Wänden gespiegelt und reflektiert wurde, nach und nach die Höhle in ein Stück Nachthimmel verwandelte. Wann immer ein Lichtpunkt auf ein Ei fiel, schien der Stein seiner Schale zu schmelzen. Die Eier nahmen ebenfalls Licht auf, füllten mit ihm von innen heraus die Glitzerpunkte auf ihrer Oberfläche.
Lebenslichter.
Sie lebten. Die Brut lebte. Wir hatten es geschafft.
<Wir haben es geschafft.>
Die Worte klangen taub, als steckten sie hinter dem Schleier der Wirklichkeit fest.
„Wir haben es geschafft."
Der Schleier flatterte, ließ sie nicht durch.
<Wir haben es wirklich geschafft.>, sagte Nachtblitz. Wir starrten die Höhle an, den Stern, die Kristalle, die lebenden Eier.
Kinder der Vergangenheit, Hoffnung der Zukunft.
Wie die Prophezeiung. Sie waren lebendige Weissagungen.
Geschwister der ältesten Urahnen und zugleich die jüngsten ihres Geschlechts. Ein Stück konservierte Zeit, die wir gerade erweckt hatten.
<Ich... ich brauche frische Luft.>
Nachtblitz sagte nichts, brauchte sie gar nicht. Seelenbindung hin oder her, manche Dinge mussten wir unterschiedlich verarbeiten. Ich wusste, dass sie mich verstand.
Letztlich bekam ich nicht mehr frische Luft, als durch den Spalt an der Decke geweht wurde. Seufzend sank ich zu Boden, lehnte mich gegen die grobe Wand und richtete mein Gesicht zur Decke aus.
In all den Geschichten klang es so, als wären die Helden am Ende glücklich- oder tot. Warum blieb für uns nur diese Leere? Wir hatten unsere Aufgabe erfüllt, oder nicht? Die Brutstätte existierte, die Eier würden irgendwann schlüpfen. Sungird war bisher noch nicht aus seinem Loch gekrochen, vielleicht würde er das nie. Er könnte seinen Wunden erliegen.
Ich hatte mehrfach auf ihn geschossen. Nicht ein einziges Mal hatten ihn die Flammen getroffen. Knapp neben ihm hatten sie ins Holz geschlagen, beinahe seine Haarspitzen gestreift oder waren von anderen Körpern und Gegenständen geblockt worden. Fast, als würden er und sie sich gegenseitig ablenken. Wie zwei falsch verbundene Magnete.
Aber er war nicht unverwundbar. Selma hatte ihn ein Auge gekostet, ich selbst hatte ihm zahlreiche Schnitte und Schläge zufügen können.
Er war nicht unsterblich. Nicht unbezwingbar.
Ich würde es mir so oft sagen, bis ich es ihm in meinen Alpträumen entgegen schreien konnte.
Sungird war nicht unbezwingbar.
Er war ein Mensch. Menschen konnten besiegt werden.
Er war ein Mensch.
Und ich auch.
Das war das Einzige, was die Prophezeiung nicht erzwingen konnte; Unverwundbarkeit. Sie garantierte keiner Seite den Sieg. Sie garantierte nur einen Preis, der gezahlt werden musste.
Aber wofür? Warum das Ganze?
War das Pergament eines Tages vom Himmel gefallen und hatte sich seitdem in den Köpfen des Stammes eingepflanzt?
Nein. Jemand musste es geschrieben haben. Jemand hatte die Worte erschaffen. Der Polarstern?
Hatte Selma nicht sowas in die Richtung erzählt?
Argh. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet Nira über dieses Wissen verfügte, das ich verschmäht hatte und nun herbeiwünschte.
Nira. Schon wieder. Nira hier, Nira da. Was wollte sie denn noch? Ich hatte ihre Botschaft schon verstanden. Verrat war nicht schwer zu deuten.
Hasste sie mich so sehr, dass sie wieder in Aktion treten musste? Mit ihren tödlichen Mixturen und giftigen Worten?
Wahrscheinlich flickte sie gerade Sungird zusammen. Hoffentlich war die Nadel vergiftet.
Wir könnten sie suchen. Ich würde nicht vor ihr weglaufen.
Vor ihr weglaufen. Hatte ich wegen ihr oder den Jägern im Verborgenen gelebt? Wie viel Macht hatte ich ihr über mein Leben gegeben?
Wir könnten sie suchen. Sie zur Rede stellen.
Sie würde mir ins Gesicht spucken. Mit Säure.
Das war doch Schwachsinn. Weshalb sollten wir sie suchen? Wem brachte das was?
Je weiter weg, desto besser, oder nicht?
Warum sie mich verraten hatte?!
Blöde Frage. Aus einer Laune heraus? Anscheinend hatte ich sie nie gekannt. Oder sie war auf dieser Lehrfahrt jemand anderes geworden.
Nicht jemand anderes. Sie selbst. Sie war sie selbst geworden, die Person, die sie schon immer gewesen war. Hatte ihr wahres Gesicht gefunden.
Den Inselbewohnern hatten einige Unannehmlichkeiten mit den Jägern ausgereicht, um mir den Rücken zuzuwenden. Ich hatte sie vom Weg des geringsten Widerstandes getrennt.
War ihr das Grund genug gewesen?
Nira, blablabla.
Wir sollten an dieser Wand eine Leiter befestigen, damit ich selbstständig aus der Höhle heraus und in sie hinein kam.
Das war das Wichtige. Nicht Nira oder Sungird. Sobald die Eier geschlüpft waren, hatten wir gesiegt.
Wenn die Himmelsflüche sich erneut über die Inseln verbreiteten, dann hatten wir es geschafft. Dann war die Prophezeiung erfüllt.
Tatendrang durchflutete mich. Zeit, diese Strickleiter zu knüpfen. Wir würden uns in einer der Höhlen einrichten können, während wir die Brut bewachten.
Es roch nach Nacht. Das Meer rauschte, feine Gischt tanzte mir übers Gesicht. Der Sand war kalt, doch es fühlte sich gut an, meine Zehen in ihn zu krallen.
Ich hatte die Rüstung abgelegt. Die Lederstücke lagen neben dem vorerst provisorischen Schlaflager in den Höhlen. Stattdessen trug ich Kleidung, die wir aus Selmas Hütte mitgenommen hatten: Eine Hose mit Lederbesatz an Innenschenkeln und Knien, ein robustes Strickoberteil, das überraschend fein gearbeitet und mit Fließ verstärkt war, und eine gefütterte Lederweste mit Prägung. Sie passten gut, waren bequem und warm. Kein Wunder, dass ihr ehemaliger Besitzer - Selma war es mit ziemlicher Sicherheit nicht gewesen- insbesondere die Hose mehrfach geflickt hatte.
Wahrscheinlich konnte man in ihnen wunderbar reiten. Hatte Selma sie als Andenken an alte Zeiten aufgehoben?
Eine vorwitzige Welle schwappte über meine Zehen. Das Salz brannte in den halb verheilten Wunden.
Die Knochen würden länger brauchen, doch mittlerweile besaß ich wieder Augenbrauen und Wimpern. Meine Haare fielen nicht mehr in Büscheln mit Kopfhaut ab. Die ersten Narben juckten.
Es würde dauern, aber es würde heilen. Manche von ihnen würden verschwinden, Erinnerungen mit sich nehmen. Andere würden bleiben, sich wie Teile der Geschehnisse in mich graben.
Wir lebten noch. Und wir würden weiterleben. Durch diese Nacht und durch den nächsten Tag. Immer einen Tag mehr, bis wir schließlich nach Berk gingen. Selbst, wenn wir nicht gewollt hätten- uns blieb nichts anderes übrig.
Ich hatte es versprochen.
Und ich würde es wieder tun, wieder und wieder.
Ich würde diese Prophezeiung überleben und beenden, was-
Argh. Ehrlich jetzt? Schon wieder?
Nira. Beenden, was Nira begonnen hatte. Dieses Blatt vernichten.
Warum schon wieder Nira?
Warum hatte ausgerechnet sie die Prophezeiung durchbohrt, wenn ich diejenige war, der es seit Wochen in den Fingern juckte?
Welchen Einfluss hatten diese Worte auf sie gehabt?! Keinen. Warum also hatte sie sie aufgespießt?
Das ergab keinen Sinn. Nichts an ihr ergab Sinn.
Aber noch viel weniger Sinn ergab es, dass ich darüber nachdachte.
Das war nicht mein Problem.
Jetzt musste ich nur noch lernen, diese Worte tatsächlich zu glauben.
Pfft.
Sand flog unter meinen Ballen weg. Die ersten Schritte waren die schwersten, die nächsten leichter, ich ließ sie größer werden, stieß mich kräftiger ab, rannte über den Sand, ließ den Wind alle anderen Geräusche schlucken, mein Blut in die Muskeln pumpen, Gedanken fortspülen. Meerwasser spritzte mir an Knie, Oberschenkel, Arme, die Oberfläche zerstob unter meinen Sohlen. Viel zu schnell ging mir die Luft aus, die Beine brannten. Bremsen, ich stand mehrere Schritte im Ozean, Wasser zog sich in die Hose bis übers Knie.
Rhythmisch schlugen die Wellen, brachen an meinem festen Stand.
Es war eisig, die Lunge keuchte, mein Herz raste.
Ich fühlte mich lebendig wie lange nicht mehr.
Wir hatten es geschafft.
Den Rest musste die Zeit übernehmen.
„Ich bin äußerst stolz auf dich."
Reflexartig zuckte meine Hand zur Axt- die ich nicht trug. Sie lag in der Höhle. Wer sollte uns hier schon finden?
Ich hätte es besser wissen müssen. Das war eine fatale Dummheit.
„Deine Vorsicht kann ich dir nicht verdenken. Ich muss dich überrascht haben. Du bist eine bemerkenswerte Kriegerin, Moira. Vielleicht ist es vermessen, dass ich noch immer wünschte, du hättest nie eine werden müssen."
Diese Stimme- das konnte nicht sein.
„Erschrick nicht.", sagte sie. Etwas berührte meine Hände, Licht schwebte in die Dunkelheit, verband sich zu Nebelschwaden, formte ein Bild, eine Gestalt.
Ich riss die Augen auf, stolperte zurück, Selmas Hände hielten sanft meine Finger fest.
„Hallo Moira", lächelte sie warm.
Ich brachte nicht mehr als ein hohes Krächzen hervor.
„Selma?"
Das konnte aus so vielen Gründen nicht sein.
Aber hey, die Welt nahm es in den letzten Wochen mit der Logik nicht mehr so genau, also warum nicht?
„Warum bist du hier?"
Es gelang mir nicht, die Verwirrung abzuschütteln. Ich hatte geglaubt, sie nie wiederzusehen. Und doch stand sie hier, betrachtete mich liebevoll und ließ mir zum ersten Mal klar werden, wie sehr ich sie vermisst hatte- bereits vor ihrem Ableben.
„Deinetwegen."
Selma drückte meine Hände.
Die Erkenntnis traf mich mit einem Schlag, der mein Blut aus dem Gesicht weichen und mein Herz stoppen ließ.
„Ich sterbe."
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3008 Wörter und ein Cliffhanger 😈
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