(42) Die Sterne werden fallen
Hicks
Nachtblitz tobte. Splitter und Dreck spritzten, als sie sich mit wüsten Bewegungen aufrappelte, die Ohren fest an ihren Hals gepresst. Sie rief etwas, ein vor Verzweiflung gellender Laut, wartete kaum, dass wir anderen auf die Beine kamen und preschte los, fort in Richtung des Einschlags.
Wortlos zerrte Astrid Heidrun vor sich auf den Todsinger, Fleischklops stieß Rotzbakke geradezu in ihren Sattel, Windfang und Schnüffler griffen sich Hakenzahn und schon hoben wir ab, durchbrachen das Blätterdach und fielen dem geifernden Sturm zum Opfer.
Vor uns zwei glühende Lichtquellen, über uns hielt der Mond die Sonne noch immer gefangen. Der Vulkan spie rotes Licht aus, aber was war das neben ihm? Silbernes Gleißen, ein flammenloses Leuchtfeuer, das die glühende Lava wie einen Schatten wirken ließ. Gefallener Stern. Und Nachtblitz hielt mit mottenhafter Unbeirrbarkeit darauf zu.
Der Wind spülte uns regelrecht unserem Ziel entgegen. Das Licht fing sich an gewaltigen Felsstufen, die sich halbmondförmig um den leuchtenden Kern erhoben. Ein strahlender, weißer Fleck, um den sich Felstrümmer stapelten. Das Zentrum des Einschlags.
Sollte dieses Oval ein Stern sein?
Nachtblitz landete unsanft am Rand des Kraters. Einige Steine gerieten ins Rollen und trudelten dem hellen Zentrum entgegen, prallten ab und blieben wenige Meter weiter liegen. Fast, als würde der Stern abstehen. Die Drachendame kümmerte es nicht, sie rannte stolpernd an ihnen vorbei und auf das nun irgendwie unrein wirkende Licht zu.
Unrein, als hätte sich ein Schatten in es geschlichen- da lag jemand. Etwas. Da lag etwas, in der Mitte des Ovals, wo der Schein am stärksten war.
Ich kletterte aus dem Sattel, vorsichtig. Wenn meine Prothese ungünstig zwischen die Steine geriet...
Nachtblitz rief wieder, noch herzzerreißender als im Wald. Wie zur Antwort bewegte sich der Schatten, zwei Flügel zeichneten sich ab. Flügel und ein vertraut wirkender Rumpf, ein abgeflachter Kopf- das war kein gefallener Stern. Das war der zweite Himmelsfluch, der in einer Bruchlandung die Insel zum Beben gebracht hatte. Zufällig genau auf diesem leuchtenden-
Auge. Einem riesigen, aus leuchtendem Kristall geschaffenen Auge.
Von wegen Zufall.
Mein Körper setzte sich tranceartig in Bewegung. Schritt um Schritt, ein fortlaufender Prozess, den ich nicht aufhalten wollen konnte. Scharren verriet, dass meine Freunde dem unentrinnbaren Zog ebenso erlegen waren.
Auf dem Kraterboden stand die Luft still. Sämtliche Sturmschergen hatte es an den Rand gedrängt, wo ihre windigen Leiber eine dichte Mauer schufen.
Ein neuer Ruck durchfuhr den gefallenen Drachen. Seltsam lag er da, flach an den Stein gepresst, als wäre er unfähig, aufzustehen.
Nicht nur, als wäre.
Er konnte nicht. Schmerz hatte sich in seine Züge gegossen, begann bereits zu entrücken. Und mit ihm das Leben.
Nachtblitz fiepte, der Himmelsfluch wimmerte leise, die abgestreckten Flügel zuckten über den Kristall. Zuckten weiter, dichter zum Körper, selbst der Schweif schnurrte zurück, wurde kürzer und kürzer. Alles schrumpfte zusammen, konzentrierte sich zu einem dunklen Fleck, aus dem sich allmählich eine kleinere Figur kristallisierte. Eine menschliche Figur.
Moira.
Wacklig stützte sie sich auf ihre Unterarme, ihr Blick glitt über die Kante des Auges zu Nachtblitz. Schwach murmelte sie ihren Namen, beinahe fragend. Ein kleines Lächeln zuckte über ihre Mundwinkel, ehe sie zusammenbrach und reglos liegen blieb.
Ich rannte.
Rannte, als ob ich irgendwas ändern könnte. Rannte, das Echo meiner Schritte ein hohles Klagen.
Rannte, bis ich nah genug war, um die Löcher in der schwarzen Rüstung zu sehen, die geplatzte Haut, das verkohlte Leder. Die Panzerung hing in Fetzen, ihr Blut zog rubinfarbene Schlieren über das reine Weiß. Sie roch nach Schwefel, verbrannt wie das Innere des Vulkans, in den schweren Brandwunden waren Fleisch und Kleidung verschmolzen.
Das Leuchten veränderte sich. Der Kristall wurde am Rand fahler, das Licht zog sich zur Mitte, unter Moiras sterbenden Körper. Floss nahezu zu ihr hin- oder aus ihr heraus. Neblige Schwaden schwebten unter der Rüstung hervor, fingen Licht und Schatten und bildeten die bläulich schimmernden Umrisse eines Drachens, der sich unmittelbar über Moira dem Himmel entgegen reckte. Es war kein Himmelsfluch, nichtmal eine mir bekannte Drachenart. Stacheln zierten den schmalen Kopf, der Hals krümmte sich, als sähe er auf seinen vergehenden Ursprung zurück.
Ich kannte die Form. Sie prangte auf Moiras Schulterplatte, jetzt zerschrammt. Und sie war ihr in die Haut graviert, auf ihrem Rücken. Ich hatte sie gesehen, damals im Wirtshaus, als sie uns unter einem anderen Namen begegnet war.
Noch immer quoll feiner Nebel aus ihr, materielose Partikel. Der Drache sah zu Nachtblitz, sie blickte in einer Mischung aus Verzweiflung und Ehrfurcht zurück. Doch erst, als er sich mir zuwandte, erkannte ich, was er war.
Moiras Seele nickte leicht, schenkte unserer Truppe einen letzten Blick und spreizte die Flügel. Der Fluss aus dem Körper ebbte ab, nach und nach rannen die letzten Reste empor, lösten sich von ihrer Haut, glitzernd wie die Schuppen, die sie vor kurzem noch trug.
Funkelnd wie die Sterne über uns.
Das Leuchten des Auges verglomm langsam, der Sturm schwoll ab. Aber die Sonne blieb schwarz.
Und dann flammte das Auge auf, der Sturm wirbelte schneller, streckte höher, bis seine Macht den Himmel erreichte und sich die erste Sternschnuppe in einem Regen aus Silberfunken zu uns herabschwang. Es gab keinen Aufprall, das Licht zerfloss lautlos über Schwärze, goss einen durchscheinenden Körper. Selma stand neben mir, geformt aus dem gleichen Stoff wie der Drache über Moira.
„Hallo.", hauchte sie mit einem kleinen Lächeln. „Ihr habt tapfer gekämpft. Lasst uns dies hier übernehmen."
Ich trat zurück. Mein Platz wurde sofort von einer zweiten Sternschnuppe anvisiert, keinen Wimpernschlag später schmiegte sich die substanzlose Gestalt eines Himmelsfluchs an Selma. Weitere folgten, die Sterne regneten vom Himmel, Seelenkörper füllten den Platz um das Auge, die Treppenstufen, säumten den Kraterrand, bis der Himmel leer war.
Eine gewaltige Gruppe aus Menschen und Drachen bildete einen Kreis um Moira und das Auge, während ihre Seele sich weiter von ihr löste, langsam weiter hinauf schwebte, der schwarzen Sonne entgegen.
Nachtblitz drängte sich haltsuchend an meine Seite. Wir standen jetzt etwas abseits der leuchtenden Körper, waren auf den Kraterrand zurückgewichen, der Wind streichelte meinen Rücken. Blau glimmende Schreckliche Schrecken hatten sich neben uns gesetzt, eine Seelenkatze kletterte neugierig auf einen Felsen.
„Hicks?"
Ich zuckte zusammen. Das war aus der Menschenmasse gekommen. Wer von denen kannte meinen Namen?
„Da."
Astrid zeigte auf zwei sich nähernde Gestalten. Ich erstarrte.
Ihr Arm glühte im selben Blau wie die Sternwesen.
Nicht nur ihr Arm. Gelbliche Schwaden durchsetzten Astrids Haar, flochten einen Stachelkranz. Ihre Augen schimmerten gelblich, Licht ergänzte ihre Arme zu gemusterten Flügeln, formte um ihre Schuhe die Konturen von Nadderfüßen und ließ einen stachelbewehrten Schweif aus ihrer Wirbelsäule sprießen.
Sturmpfeils Seele hatte sich um ihren Körper gelegt. Astrid lächelte mich an, voller Frieden, als würden die Blessuren in ihrem Gesicht nicht existieren.
„Hicks?"
Ich schreckte auf, Astrid lächelte aufmunternd.
Umdrehen und dort stand sie.
Das konnte nicht sein.
Das durfte nicht sein.
„Mutter?"
Auch sie lächelte, streckte die Arme aus und zog mich an sich. Überrascht starrte ich auf ihre Schulter.
Ich war nicht durch sie hindurch gefallen.
Obwohl sich die Figuren dort unten teilweise überschnitten, so viele waren es.
„Es ist in Ordnung, Hicks.", flüsterte sie, ihre Hand strich über mein Haar.
Ich hatte es gewusst. Irgendwie hatte ich es gewusst, mitten in der letzten Nacht, dieses seltsame Gefühl, Moiras Blick.
Ich hatte es gewusst und doch konnte sie nicht hier sein, mich nicht umarmen, nicht tot sein.
„Es ist in Ordnung.", flüsterte sie wieder.
„Ich bin immer noch da, nur nicht mehr hier. Es ist in Ordnung."
„Aber- aber wie?"
Sie schwieg einen Moment, um mir in die Augen zu sehen.
„Für Berk."
„Ich passe auf sie auf. Und auf ihren Riesen von Ehemann."
Wer hatte das gesagt?
Meine Mutter lächelte und ließ mich endgültig los. Eine andere Frau trat an ihre Seite, nur sah sie nicht wie eine andere Frau aus.
„Es gab eine ganze Menge, die ich nicht über mich wusste.", begann Valka. „Zum Beispiel meine Schwester. Hicks, das ist Lyanna."
Die Frau neben ihr nickte mir zu.
„Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Hicks."
Sie räusperte sich.
„Also, so unter uns: Valka hat wirklich ein Händchen dafür, spurlos zu verschwinden und für tot erklärt zu werden, was?"
In ihren Augen funkelte es warm und ich musste lächeln.
„Hey!", entrüstete sich Mutter sofort. Lyanna wich dem Ellbogen gekonnt aus und streckte ihr die Zunge heraus.
„Wir sollten wieder vor gehen. Der Polarstern wird gleich beginnen.", lachte sie.
Mutter sah mich an, ein entschuldigender Zug umspielte ihr Gesicht.
„Ich sehe dich, Hicks. Wann immer du mich brauchst."
Damit gingen sie. War das der Abschied?
„Womit beginnen?", rief ich ihnen hinterher.
Lyanna drehte sich zu mir um, lose Strähnen fielen ihr über die Schulter.
„Damit, meine Tochter zu retten."
„War das...?"
Ich hatte nicht mitbekommen, wie Heidrun zu uns getreten war. Noch immer sah ich den beiden Gestalten nach. Meiner Mutter und... ihrer Schwester. Meiner Tante. Moiras Mutter.
„Ja.", antwortete Astrid an meiner statt.
Falls Heidrun etwas erwidern wollte, ging es im Sprechgesang unter. Die Menschen im Krater hatten auf ein stilles Kommando hin begonnen, in faszinierendem Gleichklang drei Worte zu wiederholen. Beschwörend schwollen ihre Stimmen an, alle Arme deuteten auf die Seele, die wie ein Leuchtfeuer Meter über uns schwebte. Sie wurden noch lauter, bezwangen die Mächte der Natur, Wind und Meer schienen sich ihrem Rhythmus zu unterwerfen.
„Vera leiptr njóla!", hallte es in den nachtschwarzen Tag.
„Vera leiptr njóla!"
Wieder und wieder und wieder.
Der Vulkan blubberte auf, spie eine neue Wolkensäule aus. Blitze splitterten aus dem Rauch, beleuchteten die gespenstische Szenerie und dann geschah das Unmöglich: Die Drachenfigur stoppte ihren Aufstieg. Sie hing in der Luft, ihre Konturen erzitterten im Takt der Beschwörung.
Die Sternenseelen sortierten sich neu, traten zurück und dichter zueinander, bis aus dem Kreis ein Stern geworden war. Mit der Anordnung der Stammesleute- denn das waren sie- veränderte sich die Gestalt von Moiras Seele. Die Linien flossen ineinander, bildeten ein undefinierbares Gebilde, wunderschön und formlos.
„Uh-oh."
Taff trat einige Schritte zurück, den Blick mit unsicherem Schrecken an etwas hinter uns geheftet.
„Wer hatte dein Feuerschwert gestohlen?"
Ich zögerte.
„Nira."
„Und sie hat dir danach das Gesicht zerkratzt, was darauf schließen lässt, dass sie es sich wieder anders überlegt hat?"
Wieder?
Ich nickte fragend. Worauf wollte Taff hinaus?
„Dann haben wir jetzt ein gruseliges Problem."
Wie abgesprochen drehten Heidrun, Rotzbakke und ich uns dem zu, was Taffs Fingerspitze anprangerte.
Astrid blieb, wo sie war, das selige Lächeln ins Gesicht gemeißelt.
Rotzbakke kniff die Augen zusammen.
„Und was genau sollen wir da sehen?"
„Ugh. Man muss schon ein Stück laufen."
Damit spazierte Taff an uns vorbei in den Sturm.
Einige Meter weiter hielt er an, große Gesten deuteten auf einen... Stock.
Nein, kein Stock. Inferno. Jemand hatte die verbeulte Klinge in den felsigen Untergrund gerammt, mitten durch ein fahles Stück Pergament. Nicht irgendein Pergament, das war die Prophezeiung, sauber an den Boden genagelt. Die Ecken flatterten, doch der Wind bekam sie nicht recht zu fassen.
Blutspritzer übersäten den Boden, genug, um sie zu erkennen, zu wenige, um auf eine Verblutung hinzuweisen. Niemand zu sehen, von dem sie stammen könnten.
Ich zog an Infernos Griff, doch es rückte und rührte sich nicht. Beide Hände, mein Fuß fixierte die Prophezeiung- Fehlanzeige. Wie zur Hel hatte Nira die Klinge in den Stein bekommen?!
„Komm schon!"
Ruckweise zerrte ich an dem Schwert, bis es mit einem schleifenden 'Fump' aus dem Fels sprang und mich der Schwung rücklings zu Boden beförderte.
Ohnezahn schnappte sich die Prophezeiung. Mit schmerzendem Rücken und brennenden Händen stand ich auf, verstaute das Pergament in der noch verschließbaren Satteltasche und starrte mein Schwert an. Kleine, matt glänzende Flecken auf dem Metall, auf dem Griff.
Hatte Nira es geschafft? Hatte sie Sungird getötet?
Das war unmöglich. Ich hatte ihn an Bord gehen sehen. Er lebte noch, wenn der Himmelsfluch- Moira. Wenn Moira ihn nicht auf seinem Rückzug umgebracht hatte.
Aber weshalb sollte sie uns diese Botschaft sonst hinterlassen haben? Das musste es doch sein, eine Botschaft.
Wen könnte sie sonst- Nein. Nein.
Die Schleifspuren, wo Fischbein hätte sein sollen. Astrids Worte über Meer und Algen.
„Wenn ich dieses Miststück finde..."
Heidrun hatte ihre Axt ausgeklappt, die Klingen blitzten.
Keine Sekunde später fiel sie ihr beinahe aus der Hand. Die Erde erzitterte, lag still, erzitterte. Ein dumpfer Trommelschlag.
Der Sprechgesang wurde lauter, ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie leiser geworden waren. Die Arme erhoben, nach jeder Wiederholung zogen sie sie herunter, das Echo dieser Bewegung ließ die Insel erbeben.
Ich musste sehen, was dort vor sich ging. Wie von selbst stand ich plötzlich wieder neben Astrid, die Augen auf das unmögliche Schauspiel gerichtet.
„Vera leiptr njóla!"
Und sie rissen die Hände hinab, streckten sie wieder hinauf, die Fingerspitzen zu Moiras Seele.
„Vera leiptr njóla!"
Gleiches Ritual, gleicher Rhythmus.
Und Moira folgte ihnen, der ziehenden Bewegung, näherte sich Stück für Stück ihrem Körper. Jeder Zug bracht sie wenige Zentimeter weiter nach unten, das Licht wirbelte wild, wollte sich von den unsichtbaren Griffen befreien. Wollte frei sein, davon schweben. Seinen Kopf durchsetzen, einzelgängerisch wie eh und je. Aber nicht heute.
Abertausende Hände griffen in die Luft, zogen.
Jemand stupste in meine Seite und ich sprang beinahe in die Lichtermasse.
Astrids Augen funkelten belustigt.
„Sie kommen.", verkündete sie mit einem breiten Lächeln.
„Sie?"
Ich erhielt keine Antwort.
Knackend brachen einige Zweige. Jemand fluchte leise. Erhob die Stimme.
„Toll, Großversammlung der Krieger und Kriegerinnen und trotzdem bin ich die einzige, die diese zwei Zentner Mann durch die Gegend schleppt. Und ja, der ist so schwer, wie er aussieht. Hallo?! Taffnuss Thorston, jetzt schwing gefälligst deinen trockenen Hintern her und hilf mir! Wikingerin in Nöten!"
Der Angesprochene fiel vor Schreck äußerst elegant aus dem Sattel und schlug in höchster Diskretion auf dem Boden auf.
„Netter Versuch.", kommentierte die Gestalt im Schatten, „Aber nach der Aktion mit dem Wechselflügler zieht die Nummer mit dem toten Wikinger nicht mehr bei mir! Also komm gefälligst her, du Möchtegern-Erfinderling!"
Taffnuss war blass geworden, die Augen weit aufgerissen, als hätte er einen Geist gesehen.
Einen, der nicht eben vom Himmel gefallen war.
War das etwa-
„Raff?", fragte Taff zögernd. Ungläubig.
„Wer denn sonst, du Schafskopf? Cousine Agnuss? Sehe ich etwa so aus? Hä?!"
Die Silhouette schleppte sich einige Schritte weiter, sodass das Licht ihr Gesicht enthüllen konnte. Sie war es wirklich. Triefend nass und mit einem zutiefst genervten Blick, Algen hingen in ihren Zöpfen.
„Hilft mir jetzt mal einer dabei, Fischbein zu bewegen? Der wird echt nicht leichter!"
Da fiel die Starre von uns. Fleischklops griff sich ihren bewusstlosen Reiter, Taff riss seine Schwester in eine überschwängliche Umarmung, der sich Kotz und Würg kurzerhand anschlossen. Wir überlegten nicht lange und aus der innigen Umarmung wurde ein großer Gruppenknoten.
„Uh-"
Raff tätschelte steif Taffnuss' Schulter.
„Ihr verhaltet euch ja, als wäre ich tot gewesen."
Sie lachte, verstummte aber, als niemand mit einstimmte.
„Dachtet ihr wirklich, ich wäre ertrunken? So ganz unspektakulär ohne Explosion?"
„Du bist nicht mehr aufgetaucht!", schniefte Taff.
„Warum denn auch? Ich hatte das Unterwasser-Atmungs-Kugelrund. Bei dem du Idiot übrigens zwei Rohre falsch angeschlossen hast! Weißt du, wie eklig es ist, das einzuatmen, was man gerade erst ausgeatmet hat?"
„Das Unterwasser-Atmungs-Kugelrund? Woher hattest du das?"
„Aus meiner Satteltasche.", verkündete sie stolz.
„Die habe ich extra mitgenommen. Und damit habe ich die Erfindung abgeschlossen! Es ist jetzt mein Erfolg!"
„Warte, warte, warte."
Taffnuss machte sich von ihr los und die Gruppenumarmung zerfiel.
„Deine Erfindung? Ich hatte die Idee!"
„Und ich habe die Teile besorgt!"
„Ich habe sie zusammengebaut!"
„Ja, und zwar falsch! Das habe ich dann korrigiert!"
„Ich habe sie benannt!"
„Weil ich es dir erlaubt habe!"
„Erlaubt? Du kannst mir nichts erlauben!"
„Doch, immerhin bist du mein Bruder. Wenn ich erfolgreich bin, kannst du wenigstens meine Erfindungen benennen."
„Es ist nicht deine Erfindung!"
„Aber ich habe sie getestet!"
„Und wenn du etwas kochst und ich es als erster esse, bin ich dann automatisch der Koch?!"
„Nein, dann bist du einfach nur dumm! Jeder weiß, dass mein Essen ungenießbar ist!"
„Da ist was dran."
„Vor allem Haare und ein paar Pfund Salz zu viel.", ergänzte Raffnuss besserwisserisch.
„So, und was ist eigentlich bei euch los? Was habt ihr mit den Sternen gemacht, wo stecken Moira und Kjell und seit wann leuchtet Astrid? Und was zur Hel ist mit Hicks' Gesicht passiert?!"
Wir kamen nicht zu einer Antwort. Ein gellender Schrei durchschnitt die Luft, Licht explodierte im Kraterkessel, schlagartig war es taghell. Der Schrei blieb, greller als das Licht.
Wir stürzten zum Kraterrand, Taff hielt Raffs Hand und zog sie mit uns.
Sie hatten die Seele bis zum Körper gezogen. Beide berührten sich knapp, doch die friedliche Atmosphäre war verschwunden. Das dort war purer Schmerz, war Folter. Moiras Körper krümmte sich und krampfte, sie schrie wie am Spieß. Ihre Hände krallten sich in die Konturen des Auges und schlugen wild um sich, rissen an ihrer Rüstung, ihren Haaren, ihre Füße traten und schrammten über den Kristall, der mit aller Macht zu einer neuen Sonne werden wollte.
Und Moiras fast ausgestorbener Stamm hielt nicht inne, wiederholte die Worte und zog, zerrte ihre sich windende Seele zurück ins fleischige Gefängnis.
Aber das war gut. Sehr gut, es war sehr gut. Sie holten sie zurück.
Sprechgesang, Moiras Todesschrei und das Leuchten des Auges. Und wir standen daneben. Mit Raffnuss und Fischbein und jetzt wusste ich, dass es Wunder gab.
Vielleicht keine Götter, aber Wunder.
Keine Götter?
Woher kam denn dieser Schwachsinn?
Ich schüttelte den Kopf. Was war hier nur los?
Moira krümmte sich, warf den Kopf in den Nacken. Ballte die Hände zu Fäusten und trommelte auf den Kristall.
Astrid lächelte selig. Heidrun kniete neben Fischbein, sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Taff hielt noch immer Raffs Hand. Rotzbakke lehnte an Hakenzahn. Ohnezahn saß neben mir, sein Atem streifte mein Ohr. Nachtblitz starrte unentwegt auf ihre Freundin.
Und dann donnerte es, Moira spuckte Blut und der letzte Glitzernebelfaden ihrer Seele versank in ihrer rechten Faust.
Ihr Schrei erstarb mit ihren Bewegungen, Nachtblitz fegte durch die Menschen- und Drachenmasse zum Kristall, sprang ungebremst auf ihn. Ihre Tatzen berührten die strahlende Oberfläche und ihre Schuppen leuchteten sofort auf wie der Sternenhimmel, in den die Seelenfiguren zurückregneten.
Mutter winkte zum Abschied, Lyanna warf Moira einen letzten Blick zu. Selma war eine der letzten vier, ihr Himmelsfluch schwang sich in die Höhe und verschwand in einem Streifen aus Licht, bis er wieder seinen Platz am Filament einnahm.
Jetzt waren es noch drei. Zwei menschliche Figuren, ein Himmelsfluch- und alle drei leuchteten ein Stück heller, als es die übrigen getan hatten.
Selma lächelte uns zu und bedeutete uns, näher zu kommen.
Zögernd stieg ich ins Innere der Mulde, Astrid dicht hinter mir. Raff zog ihren Bruder mit, Heidrun senkte den Blick wieder zu Fischbeins regungslos friedlichem Gesicht. Eine Hand hatte sie auf seine Brust gelegt, sie hob und senkte sich kaum merklich im Takt seiner Atmung. Rotzbakke wischte sich über die Augen. Würde ich ihn fragen, läge es am Staub. Doch ich fragte nicht. So konnte er sich wortlos dem tatsächlichen Grund zuwenden und sein Gesicht in die rötlichen Schuppen drücken.
„Hicks?"
Astrid griff nach meiner Hand, berührte sie jedoch nicht. Um sie herum leuchtete noch immer Sturmpfeils Silhouette.
Mir war nicht aufgefallen, dass ich stehen geblieben war. Nur wenige Meter vor dem Auge, nah genug, um Nachtblitz' wimmernden Atem zu hören.
Der fremde Himmelsfluch trat näher an den Kristall heran, Nachtblitz wich bereitwillig zurück, sodass der Weg zu Moira frei war. Mit großen Augen beobachtete die Drachendame, wie er sich ihrer Freundin näherte, bis seine Nase beinahe ihre Stirn berührte. Er schloss die Augen, seine Konturen strahlten noch heller auf, Licht floss in den Kristall und von dort in Moira.
Nein! Was tat er denn da? Sie würde sich wieder auflösen, wie vorhin schon, würde zu Schatten zerfließen und-
Nichts dergleichen geschah. Es floss einfach in sie hinein und war verschwunden. Das Auge glühte langsam aus, bald würde es nur noch ein Stück Mineral auf einer Insel sein, früher oder später begraben unter unzähligen Lavaströmen.
„Wir haben getan, was wir konnten.", murmelte die dritte Seelengestalt.
„Geh nur, ich folge gleich.", erwiderte Selma, doch die Gestalt löste den Blick nur schwerlich von Moira.
„Es endet wie damals, habe ich Recht?"
Selma seufzte.
„Sag du es mir, Baldur."
Baldur? Der Baldur?!
Die Gestalt schüttelte leicht den Kopf.
„Sie sind stärker, als ich es war.", flüsterte sie, verwandelte sich in eine Lichtschnuppe und schoss zurück ans Filament.
„Alles Gute.", wünschte Selma mit einem unangenehm ehrlichen Tonfall. Als würde ein unausgesprochenes „Ihr werdet es brauchen." in ihm mitklingen.
Das war doch Blödsinn. Ich war einfach nur müde und ausgelaugt und hatte mich gedanklich in den letzten Stunden verheddert. Meine Wahrnehmung hinkte der Realität hinterher.
Das sollte keine Warnung sein, sondern ein schlichter Wunsch. Ein kleiner Segen.
Ich sollte dankbar sein, nicht beunruhigt.
Trotzdem stolperte ich zurück, als Selma auf mich zukam. Sie lächelte klar und hell und... bedauernd?
Ihre Hände waren auf Höhe meines Kopfes, nahmen ihn zwischen sich. Ich schluckte.
„Es wird leichter werden.", wisperte Selma mir zu, legte mir die Daumen über die Nasenwurzel und zeichnete mit ihnen von dort aus etwas auf meine Stirn. Ohne Kohle und ein anderes Symbol, doch mit derselben Fassung wie Gothi damals.
Es dauerte keinen ganzen Atemzug. Sie schob meinen Kopf sanft in den Nacken, richtete ihn den Sternen entgegen, die auf den kühlen Nachhall der unsichtbaren Zeichnung herab funkelten.
Ihre Finger glitten von meinen Schläfen, sie trat zurück.
Was war das denn gewesen? Unwillkürlich befühlten meine Fingerspitzen die Stirn- au, verflucht!
Schorf und getrocknete Salbe bröckelten auf meine Nase.
Mein Gesicht war nach wie vor zerkratzt. Wie hätte es anders sein sollen? Wunderheilung?
Ich schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, Hicks!
Selmas Lächeln erreichte ihre Augen, die nochmals über uns glitten, kurz auf Astrid, Moira und mir verweilten und auf dem fremden Himmelsfluch ruhen blieben. Beide nickten, mehr ein halb erfüllter Gedanke als eine tatsächliche Bewegung.
„Die Ahnen stehen dir bei.", versprach sie und flirrte von dannen.
Ließ nur Worte zurück, von denen ich nicht wusste, wem sie galten.
Eine Berührung an meiner Hand ließ mich erneut zusammenzucken. Astrid schob ihre Finger in meine- ihre noch immer leuchtenden Finger.
Sie nickte dem Himmelsfluch mit festem Blick zu und beider Leuchten wurde zu je einem diffusen Lichtwirbel, einer groß und strahlend, der andere klein, fast durchsichtig.
Das passte nicht. Sturmpfeils Seele dürfte nicht so... schwach sein. Beinahe unvollständig.
Astrids Blick hing ebenfalls an dem dünnen Lichtschleier. Reflexionen tanzten über ihre Haut. Seltsam, so sehr schwitzte sie gar nicht.
Beide Drachenseelen schwangen sich in die Höhe, bis sie ihren Platz erreichten. Sturmpfeils ein kleiner Stern, blass und unnatürlich schwächlich zwischen den übrigen, der des Himmelsfluchs exakt im Norden.
Der Polarstern.
Die Reflexionen auf Astrids Haut blieben einen Moment zu lange.
„Astrid, was-"
Da stürzte sie schon vor zu Moira, die gequälte Geräusche von sich gab und sich als erste Handlung in der Welt der Lebenden auf den heiligen Kristall erbrach.
Sie hustete und würgte, auch als lange nichts mehr kam. Blut und Wundflüssigkeit sickerten über ihre Haut. Wir standen untätig daneben.
Konnten wir ihr irgendwie helfen? Was half bei Brandwunden? Wasser? Meines war alle. Salbe? Die war bei Heidrun, falls überhaupt noch was übrig war.
Wieso hatte ich Selma nicht gefragt?
Schließlich rollte sich Moira stöhnend zur Seite, eine Hand zur Faust verkrampft, die andere krallte sich in die Konturen des Auges.
Ihre Lider schlossen sich, sie atmete angestrengt und abgehackt.
Die Bruchlandung hatten ihre Rippen sicher nicht gut weggesteckt. Nichts an ihr hatte das alles gut weggesteckt- ob Bruchlandung, Vulkan oder Sungird.
„Zum hinkenden Wechselflügler.", krächzte Moira. Und hustete Blut.
Ihre Lippen bewegten sich zuckend, ich beugte mich vor:
„Jetzt wäre 'ne Ohnmacht spitze.", knurrte sie leise, das ferne Wellenrauschen übertönte sie beinahe.
Sie starrte mich an, einäugig, das rechte war fast vollständig zugeschwollen. Bewegte sich nicht mehr, ihre Pupille fing die uns umgebende Schwärze ein. Kein Blinzeln, keine winzigen Veränderungen in ihrem Blick.
Eine Ascheflocke landete auf der Iris.
Sie blinzelte nicht.
„Ist da jemand?"
Schwach schwirrte ihre Stimme durch die endlose Nacht. Eine kurze Pause, ihr Atem stockte. Sie stemmte sich in etwas, das weder Sitzen noch Liegen war.
„Nachtblitz?"
Es war mehr ein Wimmern.
Nachtblitz gurrte sofort, sprang vor und wollte ihre Nase an Moiras offene Hand schmiegen- doch Moira riss sie panisch zurück.
„Nachtblitz?!", fragte sie erneut.
Der Himmelsfluch gurrte. Moira drehte den Kopf, suchend.
„Nachtblitz?"
Vorsichtig wagte die Drachendame einen erneuten Versuch. Sie gurrte beruhigend, schnurrte fast, während sie ihren Kopf langsam vorschob. Wenige Zentimeter vor Moiras Gesicht hielt sie inne.
„Nachtblitz."
Murmelnd heftete sich Moiras Blick auf ihre Freundin. Sie streckte die Hand aus, zögernd. Zitternd.
Sie war unsicher. Und... verängstigt?
Ihr Kopf zuckte, als würde jeden Moment ein Drachenjäger aus ihrem toten Winkel springen und ihr eine Klinge in den Rücken rammen.
Fingerspitzen trafen auf Schuppen- schreckten zurück. Schon wieder.
Hier lief etwas ganz gewaltig falsch.
Moira kniff die Augen zusammen, soweit das bei der Schwellung noch möglich war, biss sich auf die Unterlippe und streckte ein weiteres Mal die Finger aus. Diesmal zog sie sie nicht zurück, stattdessen machte sich ein kleines, glückliches Lächeln zwischen all den Blessuren breit.
„Nachtblitz.", haucht sie, das Wort vibrierend vor Zuneigung.
Erleichtert schloss die Drachin die Augen und drückte sich enger an ihre Freundin, die ihr beide Arme um den Hals schlang.
Raff schniefte. Moira fuhr herum, die Hände zum Schlag erhoben, ihre Stimme schneidend vor Kälte.
„Wer ist da?"
Unwillkürlich wichen wir zurück.
„Wer ist da, habe ich gefragt!", keifte Moira und schob ihren Oberkörper weiter in die Senkrechte.
„Ich! Ich bin's nur! Raffnuss!"
„Guter Versuch,", knurrte Moira, „aber ich bin nicht blöd. Wer ist noch da?"
Verletzt und panisch riss Raff die Augen auf. Schützend legte ihr Bruder einen Arm um sie, doch sein Gesicht spiegelte die gleiche Furcht.
Astrid schwankte ein Stück vor, zurück, den Mund halb geöffnet, aber die Fragen in ihren Augen erstickten die Worte.
„Moira...", setzte ich an. Ihre Aufmerksamkeit schoss zu mir, durchbohrte mich wie ein Pfeil. Ich schluckte, mein Magen verkrampfte.
„Moira, wir sind's. Die Drachenreiter."
Sie zog die Augenbrauen zusammen, skeptisch.
„Hicks?"
„Ja!", stieß ich hervor. Mein Magen entspannte sich schlagartig, mein Herz schlug in einem normalen Takt. „Astrid und die Zwillinge sind auch hier. Rotzbakke, Heidrun und Fischbein sind noch dort hinten."
Ihr Blick folgte meinem Finger nicht.
„Und Nira?"
Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf.
„Nira?", wiederholte ich ungläubig.
Warum in Thors Namen spielte das eine Rolle?
Oh.
„Keine Sorge, sie ist nicht hier."
„Hm."
„War sie aber.", ergänzte Taff. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, erkannte er seinen Fehler.
„Also, vor einer Weile. Vor einer ganzen Weile, um genau zu sein. Aber jetzt ist sie weg, ganz sicher."
„Was ist mit Wilfried und Wilfriede?"
Ich öffnete den Mund, suchte nach Worten. Schloß ihn wieder. Sah zu Boden, atmete tief durch, startete einen neuen Versuch.
„Sie sind nicht hier.", stellte Moira fest.
„Nein.", stimmte Astrid ihr zu.
Schweigen. Nachtblitz wollte sich erneut an Moira schmiegen und wieder zuckte diese erst alarmiert zusammen, ehe sie ihr mit leichten Bewegungen den Kopf streichelte.
„Hicks?", fragte sie nach einer Weile.
„Ja?"
Moira antwortete nicht.
„Was ist los?", fragte Astrid. Moira sah an ihr vorbei, zu ihr hin, wieder vorbei. Als würde sie versuchen, den Ursprung der Worte zu finden.
Irgendwas daran kam mir schmerzhaft bekannt vor.
„Hier.", Astrid streckte ihr die Hand entgegen.
„Kannst du aufstehen?"
Moira ignorierte die Hand komplett, starrte einfach an ihr vorbei. Ich folgte ihrem Blick, aber dort war nichts. Nur Schutt und Fels.
„Was ist los, Moira?", wiederholte ich Astrids Frage.
Wieder keine Antwort.
„Moira?"
Sie reagierte nicht, auch nicht, als ich sie wiederholt ansprach. Stumm streichelte sie Nachtblitz, den Blick an etwas Unsichtbares geheftet.
Dann strich ihre Hand nicht mehr über Schuppen, sondern über ihr eigenes Gesicht. Über ihr offenes Auge.
Über ihre-
Tränen.
„Ich-"
Sie biss die Zähne zusammen, dass neues Blut aus den Wunden suppte.
„Ich kann nichts sehen."
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4625 Wörter
Frohe Weihnachten nachträglich 🎄
(Kann man das so wünschen?)
Und, da ich dieses Jahr wahrscheinlich nicht mehr updaten werde (das klingt gravierender, als es tatsächlich ist...) wünsche ich euch schonmal einen guten und unfallfreien Rutsch ins kommende Jahr!
Hektorianja
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