(40) Wirbelwelt
Hicks
Der Blitz raste direkt in den Krater. Ein zweiter folgte als Spirale, immer neue Sprosse schlüpften aus den Wolken, zwirbelten einen Strang, hell, heller, blendend. Drachen, Jäger, ich, alle rissen den Kopf weg, Hände und Arme vor die Augen, doch das Licht stach durch die winzigsten Lücken, lautes Knistern biss in salznasse Wimpern.
Warum tat es nicht weh?
Nachtblitz' Brüllen zersprengte jeglichen Donner zu Tonfitzelchen, Sturmnahrung. Ihre Stimmbänder müssten zerfetzen, doch sie brüllte und schrie, lauter, immer lauter, brüllte und holte nicht ein einziges Mal Luft. Ihre Kehle bombardierte in die Welt, was der Vulkan verschlungen hatte.
Moira war gefallen, winzige Silhouette vor Gewitterleuchten und dann stürzender Schatten, dünner Bruch im Glühen.
Die zweite Gestalt stand noch, hatte sie vor wenigen Sekunden, stand sie auch bei erneutem Blick, kaum wahrnehmbar, gerade auf der Grenze von Licht und Dunkelheit. Sungird. Floh vor dem Gleißen, trat zurück ins Schattenreich- oder kam es zu ihm? Hüllte sich in den Mantel seiner Herrschaft?
Nachtblitz schrie, steigerte ihre Lautstärke, doch selbst das konnte nicht den kleinsten Bruchteil ihres Schmerzes vertonen. Wie auch?
Moira war gefallen.
Wir waren zu langsam gewesen. Zu weit auf dem Meer. Zu abgelenkt.
Unterlegen.
Nachtblitz schrie, die Blitze explodierten aus ihr heraus, schleuderten ihre Fänge weit, weit über den ursprünglichen Radius hinaus, bis an den Rand der Wolken, in die Hänge des Vulkans, mischten sich in die Säule, ritzten harte Muster in die Luft.
Drachenjäger blinzelten zum Vulkan, grölten auf, erwachten, metzelten weiter, schneller und brutaler als zuvor. Gründlinge und Seidenspanner keilten zurück, Blut rann durch die Planken. Der Sturm peitschte, rote Gischt sprühte, benetzte die Brutstätte des Gewitters. In der Ferne röhrte der Überwilde, die Insel brannte, qualmte, glühte.
Die schwarze Kriegerin war gefallen.
Und über uns löschte der Mond die Sonne.
Sonst siegt die Finsternis mit einer endgültigen Macht, die alles für immer verschlingt.
Sollte es das gewesen sein? Nein. Nein, nicht, solange diese Schlacht noch im Gange war. Solange es in meiner Macht stand, etwas zu ändern. Und danach nicht.
Die Blitzsäule brach zusammen, verpuffte, hinterließ pure Dunkelheit, tiefschwarzes Ebenbild, schmetternden Donner.
„Hicks?", ein Flüstern in den Massen aus Gewalt.
Astrid! Wo-
Bei Odin.
Wie hatte ich den Todsinger vergessen können?
Der Sturm spielte mit den Zacken auf seinem Rücken, jagte Wellen über die bunt gemusterten Flügel, Bernstein klebte an den Rändern. Kräftige Schläge trugen ihn gegen den Wind, die Zähne leuchteten im unregelmäßigen Gleißen eines Blitzes, nur wenig heller als Astrids flatterndes Haar. Die Axt an ihrem Rücken schnitt silbrige Töne in die Böen, ihre Hand umklammerte den Zacken vor ihr.
Die Welt malte das falsche Bild mit den richtigen Farben.
„Ist sie-"
Ihre Stimme verlor sich, der Blick fand den Vulkan, Nachtblitz, Meer und Sturm. Die Welt hatte die Antwort längst aufgenommen, absorbiert, in jedem ihrer Winkel verewigt. Oder- vielleicht war die Antwort zur Welt geworden. Zu unserer Welt, denn sie war alles, was uns blieb.
„Nein", flüsterte- Heidrun?! Doch, plötzlich neben mir. Und Kotz und Würg mit Taffnuss. Und Raff? Wo war Fischbein? Hatte ich Rotzbakke nicht vorhin gesehen?
„Hey, das ist die falsche- Leute! Hicks! Er hat Hakenzahn!"
Schnüffler zerrte sich an unsichtbaren Schnüren zu uns empor, Rotzbakke hing dreifach gesichert in seinem Schweif, blasse Haut leuchtete unter Ruß- und Blutschlieren.
„Sungird hat Hakenzahn! Warum starrt iiiiiist das- der Todsinger?! Seid ihr wahnsinnig?!"
Seine Gesten waren so heftig, dass Schnüffler ums Gleichgewicht ringen musste.
„Sie gehört zu uns.", stellte Astrid klar. Erst jetzt entdeckte Rotzbakke sie und es sollte unmöglich sein, doch er riss die Augen noch ein Stück weiter auf.
„Was? Der wollte uns UMBRINGEN! Und was waren das für Blitze und wo- wo sind-"
Stille. Leergeweinte Blicke. Fischbein, Fleischklops, Raff, sogar Kjell fehlte. Und Moira.
Wie viele Leben brauchte es noch, um diesen Riss zwischen den Zeiten zu kitten? Davor und Danach zu verbinden?
Wie viel mehr würde die Dunkelheit verschlingen?
„Und... Moi..."
Er verstummte, hob ungläubig die Hände vor den Mund.
Heidruns Blick war kalt, dunkel. Harmonierte mit dem schwarzen Schorf um ihn herum.
„Lasst uns dieses Ungeheuer finden und vernichten."
Ihre Stimme tödlich.
Taff nickte, einmal, zweimal, Dauerschleife, der Sturm schleuderte seine Zöpfe wie Fangarme zwischen die Ascheflocken. Der Todsinger bleckte spitze Zähne, Ohnezahn knurrte, Rotzbakke ballte die Fäuste.
Und Nachtblitz brüllte, dass die Erde bebte, Wassermassen an Klippen zerschellten, Wolkenklötze den Himmel vergruben.
Ohrenbetäubendes Krachen, rotes Licht flutete den Sturm, alle Stränge im Inneren der Erde rissen und Lava spritzte, wallte, toste heraus, schwemmte den Krater, brach sich an Felsen, Feuergischt stob, wetzte durch die Blitze.
Das Licht knallte in den Himmel, ein scharfer Schlagschattenkörper prangte darin auf, schoss vor die schwarze Sonne, weiter, durch die Gewittermauern, Wasserdunst zersprengte um ihn. Gleißen, Knistern, Blitze von überall, prallten auf den Schattenkern, schnitzten Umrisse heraus. Flügel, Rumpf, Schwanz. Drache.
Nachtblitz?
Nein, ausgeschlossen, sie klebte nach wie vor unter dem Netz.
„Wer ist das?", glaubte ich zu hören. Eine Frage, der Ursprung und Antwort fehlten.
Wir starrten hinauf, das Wesen preschte pfeilgerade abwärts, feuerte auf die Schiffe. Decks explodierten, ehe ihre Besatzung die Gefahr erkennen konnte. Der Schatten jagte zurück in die Wolken, schickte neue Plasmasalven nieder, fegte im Kreis, setzte im Sturzflug zu Nachtblitz herab. Die Blitze zerknisterten zu feinen Funken, Metallglieder jaulten im Orkan, verstummten platschend. Schuppen glitzerten im Feuerschein, scheuchten Sternbilder über zwei Körper.
Ein zweiter Himmelsfluch. Es musste ein zweiter sein, aller Unmöglichkeit zu Trotz. Nachtblitz war nicht die letzte.
Hunderte Flügelschläge durchbrachen den Sturm. Gründlinge und Qualmdrachen wirbelten in die Höhe, Spinnendrachen wurden von den Winden vorangestoßen, rollten als fauchende Front über die Armada. Kaum ein Bruchteil von dem, was sie anfangs waren.
Zwei Himmelsflüche stießen in den Himmel, stopften Lücken im Flügelpanzer mit Geflechten aus Blitz und Plasma, traten den Platzregen aus Flammen los.
Wir tauchten ein, ließen uns zurück ins Chaos treiben. Astrid segelte an mir vorbei, sprang einem Jäger in den Rücken, riss das Steuerrad herum, Bernstein fixierte den Vernichtungskurs. Funken sprühten, Rauch kräuselte ums Axtblatt, das Hauptsegel öffnete sich, packte augenblicklich die Böen. Astrid rannte, ihre Schritte ausladend, schwungvoll, dump-dump-dump-dump-dump, Sprung, der Todsinger fing sie, unten zerschellte das Schiff, riss drei weitere mit. Das Meer lechzte nach den Trümmern, Gischtgeifer barst auf.
Unsere Wege kreuzten sich, sie nickte mir zu, warf sich zum nächsten Steuer hinab.
Ohnezahns Schläge schaufelten uns vorwärts, der Verwünstungsschneise entgegen, an deren anderen Ende grauweißblaue Zacken durchs Nass pflügten.
Ein Gründling zog über uns hinweg, plötzlich kräftiger Stoß in Ohnezahns hinteren Rücken, wir sackten ab. Hatte er uns geramm-
Phantom, auf allen Vieren, fing sein Gleichgewicht zurück. Wirre Strähnen fielen dem Sturm zum Opfer, Stoff bauschte und presste.
„Moin."
Satz nach vorn, schubste mich beinahe vom Sattel. Ohnezahn knurrte drohend, der Rückenkamm glühte auf. Interessierte den Menschen wenig, er langte nach den Taschen, sein Gewicht drückte mich unangenehm weit runter. War das ein Ellenbogen auf meinem Schulterblatt?
Ohnezahn krümmte den Rücken, ließ ihn in die andere Richtung schnappen, schüttelte sich. Ich riss beinahe die Griffe aus dem Sattel, ein Arm schraubte sich lungenquetschend eng um meine Brust.
„Ganz schön hysterisch, unser kleiner Drachenprinz. Halt mal kurz dein Plüschtier unter Kontrolle, ich hole mir nur schnell-"
Diese Stimme.
„Nira?!"
Sie ließ zugunsten eines scharfen Blicks von den Satteltaschen ab.
„Meinst du wirklich? Während ich hinter dir sitze? Was hast du verloren, dein Bein oder dein Hirn?"
Blut und grüne Farbe schmierten ihr brutale Striemen bis auf die Stirn, blaugrüne Augen funkelten, Schorfkrusten wölbten über einem schmalen Schnitt an der Schläfe. Zu kleine Wunde für so viel Blut.
Fast automatisch fand sich Inferno in meiner Linken wieder, völlig zerbeult, aber scharf genug, um eine Illusion von Wehrhaftigkeit zu erzeugen. Ohnezahn musste es in einem Seitenblick erfasst haben, das Buckeln verlief sich. Einhändig hätte er mich ebenfalls runtergekantet.
„Was willst du?"
„Eine Reihe Unmöglichkeiten, aber für den Anfang wäre es ganz nett, wenn jemand euch Hohlköpfen von Wikingern einbläuen könnte, dass man mich einfach machen lässt. Mein Geduldsfaden hat die besondere Eigenschaft, beim Reißen Leichen zu erschaffen."
Ihre Finger kniffen fest ins Pergament, der Sturm riss vergeblich daran.
„Die Prophe- leg sie zurück!"
„Rupf sie dir nachher aus Sungirds Kehle. Oder wohin auch immer ich sie ihm sonst stopfen sollte."
Die Zöpfe schlugen in blinder Raserei um ihren Kopf, als sie sich weiter vorbeugte, mich aus dem Schraubgriff entließ und die Schnallen verschloss. Süße kroch in meine Nase, stach kurz Blut und Rauch aus. Was- blaue Blüte, eingesponnen in filziges Haar.
Nira musste mein Starren bemerkt haben. Ihre Stimme zischte vor zwanghafter Beiläufigkeit:
„Wenn's 'ne Spinne ist, keine Sorge, die ist tödlich."
Offenbar war sie mit der Schnalle fertig, die Fingerkuppen trafen den duftenden Knoten. Rissen ihn unsanft heraus.
„Ups. Macht nichts, ich hab gehört, ihr sollt Erfahrung mit dem Gegenmittel haben."
Haar und Pflanze flogen über ihre zuckende Schulter.
„Ach, super. Kannst ja doch mitdenken."
Infernos Griff hinterließ brennende Schmarren auf meiner Handfläche. Wie bei Odin konnte sie so schnell agieren? Legte der Orkan für sie eine Pause ein?
„Uääh. Das", sie drehte das Schwert in ihrer Hand, „ist Müll."
Meinen Rückholversuch blockte sie mit Leichtigkeit. Ihre Augenbraue wanderte nach oben, zog einen Teil der Gesichtszüge nach.
„Man fasst Frauen nicht an die Brust. Hab ich mal gehört."
Argh.
„Nira!"
„Fresse!"
Dann flimmerte ihr Gesicht, Wahnsinn bleckte in den Zwischenräumen sein Grinsen. Speichel klatschte mir bei jedem ihrer Worte auf die Haut.
„Du willst wissen, was ich vor habe? Wofür ich das brauche? Wie mein Plan lautet? Willst du das? Willst du? Nur zu, bitte, ich erzähl's dir! Was sollte die Zeit schon bedeuten, die ich damit verschwende? Wenn du nicht selbst denken kannst, alles vorgekaut brauchst, du Kümmerling von Anführer, bitte sehr! Es stürmt, du Oberidiot, wahrlich beschissene Voraussetzungen für Giftpfeile. Dolche sind schön und gut und zu kurz, um ihn vollständig zu durchbohren, während er an den Worten dieser wundervollen Prophezeiung verreckt. Also brauche ich diesen geschmiedeten Schrott hier und du betest besser, dass der Mist hält, wenn daran ein Mensch aufgespießt wird.
War das das, was du wolltest? Bitte sehr! Zufrieden?!"
„Heißt das-"
„Dass mein Gesicht das Letzte sein wird, was Sungird sieht? Oh, versprochen!"
Donner grölte, rüttelte am Weltengefüge, als hämmerte eine höhere Macht ihren Schwur in Yggdrasils innerstes Mark.
„Seit wann-"
„Interessieren mich deine Fragen? Noch nie. Halt die Klappe."
Nira gegen Sungird? Seitenwechsel? Was war passiert?
Und- knotete sie sich gerade Segeltuch um die Knöchel?!
„Willst du springen?!"
Todesblick ihrerseits.
„Och, wolltet ihr mich etwa in eurer unglaublichen Weitsicht zum Vulkan kutschieren? Nein? Dann ja, ich springe. Hab' noch nicht gelernt, über Luft zu laufen, Überraschung!"
„Aber-"
Warum diskutierte ich mit ihr?
„Wirbelsturm, du Genie. Aww, hast du die Asche nicht gesehen? Alles fegt zur Insel. Ein Stein mehr wird den Besen schon nicht kaputt machen, reg dich ab."
Der Knoten wurde so fest gezogen, dass den unter Garantie nie wieder jemand öffnen könnte. Nira spuckte eine Strähne aus, zwei neue verfingen sich in ihrem Mund. Ihr Blick war abschätzig, das nasse Glänzen in ihren Augen verächtlich. Sie- griff in eine versteckte Tasche, verdammt, was- zu schnell, etwas bohrte sich ins Leder meiner Rüstung. Dieses Blut in ihrem Gesicht, fremdes Blut, die Dolche, Giftpfeile-
„Nimm's für die Satteltasche. Eine ist kaputt, falls du Genie es übersehen hast. Und wenn du eh dabei bist, näh dir gleich noch den Mund zu, so wie dieser eine Gott, vor dem ihr euch alle ins Hemd macht. Um die Giftschlange kann ich mich kümmern."
Schwups, vom Sattel katapultiert. Wir schlingerten, ich packte meine Schulter- autsch!
Eine Nähnadel. Sie hatte mir eine Nähnadel zugesteckt. Samt Garn, das sauber um das Öhr gewickelt war und im Wind tanzte.
Grummelnd schüttelte Ohnezahn den Kopf. Wie Recht er hatte.
Wusste Nira selbst, auf welcher Seite sie stand?
Die Welt ließ mir nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie hatte lange auf diesen Tag gewartet, zu lange, um die Sekunden nicht genauestens eingeteilt zu haben. Zwei zum Wundern, mehr war unvereinbar. Eine, um den Kopf zu drehen, drei für sehen, erkennen, begreifen.
Gischt sprudelte um seine Zackenmähne, während der Überwilde den Körper durch das Wellengebirge grub. Zwischen den schuppigen Speeren thronte Tovens grünlicher Schatten.
Dann waren sie unter uns und weiter, Strudel bildeten eine wirbelnde Schleppe.
„Was?"
Kaum von meinen Lippen, schon sturmzerrissen.
Sie zogen weiter, schienen uns nicht bemerkt zu haben. Steuerten geradewegs auf die Insel zu. Alles zog zur Insel, alles und jeder und warum hatten wir überhaupt dagegen angekämpft?
Wirbelsturm. Wenn das Schicksal sprach, sollte man zuhören.
Klick-Klick, spitze Kurve, die Luftmassen nahmen uns freudig auf, trugen uns mit sich. Der Sturm war nicht böse, keine monströse Gewalt, gegen die man ankämpfen musste. Er wollte niemanden zerstören, er wollte dirigieren, aus Einzelteilen ein komplexes Schwarmmosaik zaubern, Töne zu Symphonien gliedern. Das war sein Handwerk, sein Wesen, wie er es seit jeher mit den Blättern des Weltenbaums tanzte. Abertausend unerzählte Legenden, schweigende Lieder, seidige Wahrheiten. Und wir waren ein Teil davon, wurden es, während die Ufer auf uns zu wuchsen und Blitze den Feuerregen beleuchteten.
Bilder und Formen wirbelten von dannen, verwuschen zu Umgebungsnebel. Die Wolkenmasse zwirbelte immer dickere Wurzeln herab, wollte eine einzige feste Knolle ins Erdreich bohren. Oder rankte ihr der Boden entgegen? Unmöglich zu sagen.
Unmöglich, unmöglich, unmöglich. Das war doch die Essenz des Ganzen, von Anfang an. Diese Schlacht, Sungird, der Sturm, der Mond, der seine Wanderung unterbrochen hatte und vor der Sonne eingerastet war. Nira, Wilfried und Wilfriede, Sturmpfeil, Selma- was war das mit dem Licht gewesen? Aber am unmöglichsten war diese stille Gewissheit, dass das hier richtig war, dass es nötig war, dass wir die Antwort wussten, ohne sie zu kennen. Ohne jemals die Frage gehört zu haben.
Dass wir, dass ich aufgehört hatte, zu fragen.
Stattdessen hatten wir uns eingereiht, gegen den Überwilden gekämpft, flogen zur Insel, trieben weiter, ohne jemals zu- BREMSEN!
Der Schwung drückte mich in den Sattel, Ohnezahn aus seiner Bahn, Schlingern, Taumeln, der Schatten zog haarscharf an uns vorbei. Druckwellen brandeten, spülten oben und unten zu Einheitsbrei, irgendwie konnten wir uns fangen, bremsen und Auge in Auge.
Seine waren blau, heller als Nachtblitz', die Schuppen im dunkelsten Violett. In seinem Blick lag die Antwort, der Kern der Gewissheit, Sicherheit. Jeder Bewegung, jedem Zucken wohnte eine Ruhe inne, die andere in ihrer Vollkommenheit fälschlicherweise als Apathie abstempeln würden.
Der Himmelsfluch wusste, was er tat, tun musste, um das hier zu gewinnen. Er würde es gewinnen.
Sternschnuppen jagten über seinen Körper, als er sich herumwarf, dem Überwilden entgegen, den wir mittlerweile eingeholt hatten.
Explosion zwischen den weißlichen Zacken. Noch eine. Noch eine. Waren das- Blitze? Ja, tatsächlich, der Himmelsfluch schoss, wieder, wieder, wieder, Plasmakugeln waren mit zuckenden Speeren durchsetzt. Wieder, wieder, Zacken brachen, hagelten ins Meer. Welches Limit hatten Himmelsflüche?
Tovens Schützling brüllte, warf sich herum, Schiffe zerbarsten. Feuer eingestellt- Ziel erreicht?
Ohnezahn knurrte, flammte blau auf. Wir schwebten noch an Ort und Stelle, setzten unseren Platzanspruch gegen den Sturm durch. Irgendwas lief schief- aber Toven würde nicht den Himmelsfluch- doch. Doch, genau das würde er.
Der dunkle Drache bebte, Rauch quoll- von seinem Schweifende?!
Er warf sich herum, kämpfte, wie Nachtblitz gekämpft hatte, bäumte und rang unter dem kalten Blick wässriger Augen um Kontrolle. Verharrte, trieb beinahe regungslos im Wind. Die Augenlieder halb geschlossen.
Nein. Nein. Bei allen Geistern, nein!
Ohnezahn setzte vor, der Himmelsfluch wirbelte herum, plötzlich hellwach, das Schweifende sprühte Funken, pfefferte in einer ausladenden Schwungschleife nieder, schleuderte dem Überwilden ein Plasamgeschoss entgegen, das sich selbst überholte.
Die Explosion wuchtete den Überwilden brutal ans Ufer. Die Druckwelle zerhackte Mäste und fetzte Segel aus den Tauen. Für einen Moment drängten sogar die Sturmspiralen aus ihren Bahnen.
Toven war in die Höhe gerissen worden, er zappelte und fuchtelte, als könne das den unglaublichen Schwung etwas abmildern. Als könne er den Fall verlangsamen und seine Knochen davor bewahren, an der Steilklippe zu zerschellen.
Ich sah zu, wie er den Zenit seiner Flugbahn überschritt. Trümmer zischten an ihm vorbei, manche trafen ihn, allesamt zu klein oder zu leicht, um ihm einen rettenden Stoß zu verpassen.
Ach, verdammt.
„Ohnezahn, los!"
Wir schossen vorwärts, an dem Himmelsfluch vorbei, quer durch die Windströme. Die Prothese beschwerte sich quietschend, aber sie würde halten, musste halten.
Wir waren schnell genug. Zum ersten Mal heute waren wir schnell genug. Es passte genau, fast zu perfekt, um- Ruck, kräftig, etwas Schweres krachte gegen meine Schulter, alarmierendes Klirren, Schwerelosigkeit.
Schwerelosigkeit? Oh nein.
Ich konnte den Sattel sehen. Ich konnte ihn sehen, denn ich saß nicht mehr drauf. Fallen, Luft, ich fiel, etwas hatte mich seitlich von Ohnezahns Rücken geworfen und zog mich mit sich in die Tiefe.
„Meine Fresse, du absolute Platzverschwendung!", keifte es schmerzhaft laut in mein Ohr.
Nicht etwas. Jemand. Jemand mit einer seltsamen weißen Toga, Wollarmschütz- bei Odin. Die Toga war Segeltuch und der jemand hieß Nira.
„Wenn du Vollidiot deine Augen nicht benutzt, kann ich sie dir auch gleich ausreißen!", fluchte sie weiter. Das haltsuchende Kratzen ihrer Nägel war plötzlich viel zu nah an meinem Gesicht.
Das würde sie nicht wagen.
Oder?
Au, nein, das war meine Wange gewesen und definitiv kein Zufall. Aah! Stirn, quer rüber.
Reflexartig presste ich meine linke Hand über die Augen. Nira kratzte weiter, der Schnitt an meinem Ohr riss auf, ich bekam zu wenig Luft.
„Ohnezahn!"
Hatte er mich gehört?
„Ohnezahn!"
Natürlich hörte er mich. Oder er sah mich. Wahrscheinlich war ihm früher als mir aufgefallen, dass sich unsere Wege getrennt hatten.
Au, verdammter Yakmist!
„Nira, hör auf!"
Da dachte sie nicht im Schlaf dran, ihre Nägel gruben umso unbarmherziger Rillen unter meine Finger.
„Au, hör auf, verdammt nochmal!"
Ich schlug zurück, zerrte an ihren Armen, doch die blieben, wo sie waren. Ich biss, rammte den Kopf in den Nacken, stechender Schmerz flammte auf. Unsere Schädel waren zusammengekracht, aber das interessierte sie nicht. Wieder biss ich, der Geschmack ihres Blutes drehte mir den Magen um. Ihre Hände arbeiteten weiter, Muskeln zuckten unter meinen Zähnen. Kein Schmerzenslaut, kein Innehalten. Nira kratzte und kniff, riss an meinen Haaren und würgte mich mit dem Tuch, das sich mir beim Ringen um den Hals gelegt hatte. Ich konnte treten, konnte boxen und schlagen, es interessierte sie nicht. Ich könnte ihr einen Dolch in die Hand rammen, in die Schulter, ins Herz, es würde sie nicht kümmern- bei Thor, sie fiel in den Tod und es interessierte sie nicht. Ihr Klammern war nicht panisch, es war wütend und hassend ich wusste mit einem Mal, dass sie weitermachen würde, auch wenn wir beide ertranken oder uns an den Steinen das Genick brachen. Sie würde weitermachen und keine Macht dieser Welt würde sie aufhalten.
Dann schnitten ihre Nägel besonders tiefe Furchen über meine Wangenknochen, ihr Gewicht verschwand ruckartig und der Fall endete.
„Danke, Ohne-"
Ich verschluckte mich an meiner Spucke. Der Himmelsfluch schenkte mir einen knappen Blick, festigte den Griff um meine Schultern, warf sich in den Sturzflug und setzte Nira nach. Für keine ganze Sekunde, denn die hatte ihren improvisierten Fluganzug bereits diensttauglich gemacht und kurvte um Mastspitzen. Als wäre nichts gewesen, doch das brennende Trümmerfeld um meine Augen bezeugte etwas Anderes.
Unsere Geschwindigkeit verringerte sich kaum merklich, je näher wir der Steilklippe kamen. Sah so aus, als würde ich dort abgesetzt werden. Und was war mit Ohnezahn? War er auch aufgefangen worden? Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich. Die Zeit hätte gereicht, wenn der Himmelsfluch in der Nähe gewesen war, hätte er erst Ohnezahn in Sicherheit bringen und danach mich fangen können. Es musste so sein. Es musste.
Und einmal hatte ich recht, einmal hielt sich die Welt an das, was ich zu glauben bereit war. Ohnezahn wartete auf der Klippe- Wobei 'warten' wohl nicht das richtige Wort war, wenn er ungeduldig auf und ab sprintete, in die Luft sprang und wie ein Wahnsinniger mit den Flügeln fuchtelte- falls das, was ich mir aus den verschwommenen Schemen zusammenreimte, der Wirklichkeit entsprach. Irgendwann hatte ich es aufgegeben, mir das Blut aus dem Sichtfeld zu wischen. Mit etwas Glück hatte ich irgendwas Verbandstaugliches am Boden der Satteltaschen vergessen.
Negativ. Lauter harte und kantige Gegenstände, mir war nie aufgefallen, dass ich so viele davon besaß und mit mir herumtrug. Ich könnte problemlos eine zweite und dritte Prothese schustern, aber keinen einzigen Schnitt verarzten. Dafür ging es Ohnezahn gut, das war für den Moment Glück genug. Musste es eben ohne Verband gehen. Irgendwie.
Irgendwie, irgendwie, irgendwie. Immer irgendwie. Irgendwie weiter, irgendwie rechtzeitig, irgendwie unmöglich.
Irgendwie und unmöglich. Irgendwie war alles und nichts unmöglich.
Beim Herausziehen streifte etwas Weiches meinen Handrücken. Dabei hatte ich nichts dergleichen- der Wasserschlauch!
Äußerst widerwillig schwappten die mageren Reste durch die Öffnung, ein Teil wurde sofort vom Sturm beansprucht. Was tatsächlich in meinem Gesicht landete, brannte wie Wechselflüglersäure, abertausend Nadeln rammten in die freigekratzten Gräben. Hatten die Zwillinge es mit Alkohol ausgetauscht?
Die Zwillinge, von denen nur Taff übrig war.
Böen peitschten, schockfrosteten Brandnadeln zu Eiszapfen und Schmerzflammen zu Kältetaubheit. Klirrende Taubheit, die bis tief ins Gewebe, bis in die Seele biss.
Gefallene Freunde und ich stand hier und wusch mich.
Gefallen.
Oh bei den Ahnen, Toven!
Nein, zu spät, ich war zu spät, Nira zu zeitraubend. Lebenssaugend. Hatte sie die Kollision beabsichtigt? Hatte sie nicht mit ihm auf einer Seite gekämpft? War das noch immer Teil ihres doppelten, dreifachen Spiels?
Später. Jetzt mussten wir weiter, mussten- wohin auch immer. Zu Rotzbakke vielleicht, der dort flog. Was hatte er mit der Person in Hakenzahns Krallen vor?
Augenblick, nein, war das etwa... Fernglas, Fernglas, ich hatte es vorhin doch, wo war es jetzt, weshalb hatte ich es nicht gleich- endlich. Und jetzt- au, verflucht nochmal, bloß nicht mein Gesicht berühren. Schön, dass das Blut halbwegs weg war, aber verschwollene Lider machten die Sicht nicht unbedingt besser. Glücklicherweise konnte man sich auf mangelnde Kleidungsvielfalt verlassen und die Zipperlederweste leuchtete in kräftigem Grün. Rotzbakke hatte ihn gefangen, gerettet. Nur der Polarstern wusste, weshalb-
Der wer?!
Aber er hatte ihn gerettet, das war alles, was-
Keine zwei Millimeter musste ich das Fernglas bewegen, um die Erleichterung als den fadenscheinigen Rauchmantel zu enthüllen, der sie war und in den sich die verzerrte Fratze der Verzweiflung gewickelt hatte.
Sungird hat Hakenzahn!, das hatte Rotzbakke uns zugerufen, laut und beschwörend.
Nira würde ihr Ziel auf der Insel nicht finden.
Yakmist.
Ohnezahn hatte nur darauf gewartet, dass ich wieder aufstieg. Wir feuerten auf das Dreiergespann zu, das plötzlich in den Landeanflug glitt. Was hatten sie vor?
Oft hatte Sungird einen Drachen noch nicht landen müssen, daran ließen die Massen an spritzendem Sand keinen Zweifel. Armer Hakenzahn, ihm wurde heute aufs Übelste mitgespielt. Aber wir mussten abwarten, hätten gegen die beiden Jäger und den Überwilden, der sich den Sand von der Stirn schüttelte, keine Chance. Jetzt erklommen sie seinen Stoßzahn, hangelten sich zur Mähne empor und er trottete zurück ins Meer, schwamm auf die Schiffsflotte zu.
Hakenzahn rappelte sich auf, sichtlich verwirrt, schüttelte mehrfach den Kopf und hob schließlich ab, wurde von den gurgelnden Wellen vertrieben, sein Kurs führte ihn zu einem Fleck unbeschadeten Waldes auf der glühenden Insel.
Wem folgen?
Dem Überwilden, denn Hakenzahn war erstmal außer Gefahr. Und er musste sich ausruhen, bei dem taumelnden Flug.
Sungird kletterte auf eines der Schiffe, sein langes Haar peitschte. Der Steuermann trat bereitwillig zurück. Abrupt stoppten die Feuersalven, statt zu schießen, schüttelten alle Drachen am Himmel wie wild ihre Köpfe. Es dauerte vielleicht zehn Sekunden, dann hatten sie die Beherrschung zurück, doch die kurze Pause reichte der Besatzung allemal, um auf Befehl hin die Ruder zu packen. Bewegung kam in den Schiffsrumpf, dutzende Holzblätter schaufelten das Gefährt von der Insel weg.
Wieder befiel eine allgemeine Desorientierung sämtliche Drachen, auch Ohnezahn entwich ein ungestümes Knurren. Wenige Sekunden, wie bei einem Puls- einem Impuls. Das musste Tovens Werk sein. Der Überwilde konnte diese Massen nicht kontrollieren, er sollte es auch nicht, nur immer wieder an den Strippen ziehen und so lange wie möglich halten. Ein Ablenkungsmanöver, um einen Rückzug ohne noch größere Verluste zu ermöglichen.
Ein Rückzug. War es das wirklich?
Mein Blick schweifte umher, doch er fand nichts als rotierende Ruder und Menschen, die sich mit letzter Kraft aus den Trümmern an Bord retteten. Hände wurden gereicht, Seile zu brennenden Wracks geworfen, bis niemand mehr zu retten war. Eingerollte Segel trotzten dem Wind, Stück für Stück schob sich die Armada von der Insel weg. Und wieder war es das falsche Wort. Das war keine Armada mehr. Von den unzähligen Schiffen war die Hälfte gesunken und ein Teil gerade dabei. Auf dem, was noch schwamm, wurden Feuer ausgetreten oder Löcher mit Trümmern geflickt.
Sie waren nicht vernichtet, wir hatten sie noch nicht geschlagen, aber sie zogen sich zurück. Waren verdrängt worden.
Es fühlte sich nicht nach Sieg an.
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4072 Wörter
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