(4) Für immer
Astrid
Ich hätte am liebsten irgendwas zerstört. Mit oder ohne Axt, ganz egal.
Wie konnten wir nur so blind sein?
Selma hatte von Anfang an alles gewusst; Wer wir waren, was wir wollten, wie die Lösung lautete. Einfach alles!
Praktischerweise kam sie damit erst jetzt um die Ecke. Klar, Nira hatte es nicht erfahren dürfen, aber warum hatte sie uns nicht einfach darüber aufgeklärt, dass Moira eben nicht Moira war? Warum musste sie aus absolut allem ein Geheimnis machen?
Bei Odin, klare, eindeutige Antworten waren verdammt nochmal kein Ding der Unmöglichkeit!
„Ist das dein Ernst? Du verteilst die ganzen Rätsel und siehst dann däumchendrehend dabei zu, wie wir an ihnen verzweifeln?!"
Mit dieser Reaktion hatte Selma wohl nicht gerechnet. Ihr Lächeln verschwand und ihre Haut wurde blasser. Kein Wunder, die Wut hatte bei jedem von uns die Überraschung aus den Gesichtern gespült und klang aus Meallas Worten mehr als deutlich heraus.
„Was hätte ich sonst tun sollen? Freiwillig wärst du hierher nicht zurückgekehrt."
„Ach, darum ging es also! Du wolltest nicht allein sein. Ehrlich, Selma, so ein jämmerliches Verhalten hätte ich dir nicht zugetraut."
Diese miese alte Kreatur von Frau!
Wir begaben uns tagelang in Gefahr, nur damit sie jemanden zum Labern hatte? Wie um Himmels Willen konnte ein Mensch so egoistisch sein? Besonders sie, die uns allen bisher die Fürsorgliche vorgespielt hatte?
Das würde sie noch bereuen!
Irgendwas zerbrach. Erschrocken fuhr Selmas Blick zu mir.
Blut tropfte in dünnen Rinnsalen von meiner Hand, in die sich die spitzen Scherben des Kompassglases bohrten. Die Nadel fiel leise klappernd auf den Tisch, ironischerweise exakt auf das Wort „Kompass" in dem Rätsel. Verwundert starrte ich auf meine Hände. Das Metallgehäuse der Orientierungshilfe war fest umschlossen von meiner Faust, die runde Form wies Dellen auf. Ich spürte nichtmal, wie ich das kleine Gerät weiter zerdrückte, ebenso wenig nahm ich den Schmerz der Schnitte wahr.
Es war genau so, wie man es immer sagte: Wut machte blind, obwohl man sah.
Ich hatte die Nase voll, und zwar gestrichen.
Dass Moira uns offensichtlich zu viel verschwieg, war die eine Sache. Es war nervenaufreibend, definitiv, aber es war ihre Entscheidung. Früher oder später würde sie sowieso nicht mehr ausweichen können, das wussten wir alle.
Aber jetzt zu erfahren, dass diese ganze Suche auf solch einem lächerlich eigensüchtigen Wunsch basierte, war zu viel.
Ich hatte Berk ganz sicher nicht verlassen und gegen Horden von Drachenjägern gekämpft, damit diese senile alte Schachtel ein bisschen Gesellschaft hatte!
Der nun unerkennbare Kompass zischte haarscharf an Selmas Ohr vorbei.
„Hast du überhaupt den leisesten Schimmer einer Ahnung, was wir für diese beschissenen Rätsel alles auf uns genommen haben?!"
Selma öffnete bedächtig ihren Mund.
Mein Herz beschleunigte, Blut raste durch meinen Körper, jeder ansatzweise rationale Gedanke wurde fortgespült.
Ein Wort, ein einziges Wort, und ich würde die Beherrschung verlieren. Ich wollte die Beherrschung verlieren. Ich wollte um mich schlagen, treten, diese verfluchte Hütte mit den dämlichen Rätseln zerstören. Es reichte, meine Grenze war endgültig überschritten. Selma war soeben lachend über sie hinweg getanzt. Selbst den Feigling von Johann hasste ich nicht so abgrundtief wie sie in diesem Moment.
Nur ein einziges Wort, dann wären die Berserker nichts gegen mich.
Und ich hatte mich noch nie dermaßen über eine Entschuldigung aufgeregt.
Verdammt, konnte sie nicht einfach wieder lächeln? Dann hätte ich Grund genug gehabt, aufzuspringen und der ganzen aufgestauten Wut freien Lauf zu lassen.
Dann wäre nichts, rein gar nichts vor mir sicher gewesen, weder die staubigen Bücher noch die robust wirkenden Möbel.
Dann hätte ich endlich mal meinem inneren Drang nachgeben können.
Wie sollte ich das tun, wenn sie selbst so aussah, als würde sie es mehr bereuen als wir alle zusammen?
Verflucht, ich hasste es!
„Es tut mir Leid, Astrid. Ihr habt recht, es ist meine Schuld, dass ihr nun in diesen Krieg verwickelt seid. Eure Wut ist berechtigt.
Ich hätte niemals so leichtsinnig sein dürfen.
Aber in dieser einen Sache liegt ihr falsch. Jedes dieser Schriftstücke ist um viele Generationen älter als ich. Ich hatte nur die Aufgabe, sie dir im richtigen Moment zukommen zu lassen."
Jetzt sah sie Moira an.
„Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte deine Kindheit bedeutend anders ausgesehen. Doch war es meine Aufgabe, dich auf das hier vorzubereiten."
Schön, dann war eben nicht Selma Schuld. Oder doch, wie auch immer. Ich wollte einfach nur den Verantwortlichen finden und ihm einmal gehörig die Meinung geigen. War das denn zu viel verlangt?
Früher hatte ich behauptet, mit Ungewissheit gut klarzukommen. Eine Lüge, wie mir endlich bewusst wurde.
Ich brauchte jemanden, auf den ich sauer sein konnte. Den ich verfluchen konnte, dessen Gesicht ich vor mir sah, wenn ich mit meiner Axt Zielscheiben traf. Es mochte abstrakt klingen, doch es war so viel einfacher, die Ruhe zu bewahren, wenn man eine konkrete Person für alles hassen konnte.
Eigentlich trug diese Person den Namen Sungird, aber über den sprach ja niemand! Dementsprechend gab es kaum Anhaltspunkte, um sich ein passendes Gesicht vorzustellen. Möglicherweise lebte dieser Typ schon gar nicht mehr. Nicht, dass ich darüber traurig wäre.
Aber so brauchte mein Gehirn wen anders, auf den es die geballte Ladung Wut schießen konnte. Und derjenige konnte absolut jeder sein.
Dennoch war es unheimlich, wie schnell wir davon ausgegangen waren, dass Selma allein die Verantwortung trug. Andererseits... sie hatte uns allen Grund zu dieser Annahme gegeben. Und doch, wir hatten voreilig entschieden, ein hinterhältiger Fehler. Aber auch nur einer von tausenden.
Ich war daran gewöhnt, vorsichtig und vorausschauend handeln zu müssen, keine Frage.
Handeln, verdammt nochmal!
Zwischen handeln und tagelangem Grübeln klaffte ein Abgrund, durch den ein Taifumerang problemlos hätte fliegen können!
Verdammt, wir waren nun schon seit Tagen auf dieser vermaledeiten Insel und keinen Zentimeter weiter!
Normalerweise wäre ich jetzt samt Axt im Wald verschwunden, um irgendwie meinen Kopf frei zu kriegen. Doch von „normalerweise" konnten wir wohl schon lange nicht mehr sprechen. Also saß ich jetzt in dieser muffigen Hütte fest, eingepfercht zwischen Geheimniskrämern, Verrätern, Rätseln und Staub, umgeben von dem drückend warmen Geruch nach Rauch, trockenen Pflanzen und Staub. Raus konnte ich nicht, da ausgerechnet heute der Niederschlagsmangel der letzten Jahrhunderte ausgeglichen werden musste. Wahrlich die besten Voraussetzungen, um nicht die Nerven zu verlieren. Besonders, wenn zu allem Überfluss auch noch ein leichtes Beben den Boden erschütterte.
Rücksichtslos stieß Selma sämtliche Gegenstände vom Tisch. Die Starre war in regelrechte Panik umgeschlagen, die sich schwach in ihren Augen spiegelte.
Kerzen zerbrachen, Buchseiten knickten um, die eine Tasse zersprang und die Kräuter verteilten sich quer durch den Raum.
Dafür sah ich zum ersten Mal die Mitte des reichlich verzierten Tisches- und mir stockte der Atem.
Ein Stern. Nichts weiter.
Ich hatte immer gedacht, dass sich hier eine besonders kunstvolle Schnitzerei befinden würde, aber es gab nur einen schlichten Stern mit fünf Ecken.
Allerdings bestand dieser Stern aus einem glänzend schwarzen Material, welches funkelte, als hätte man den Nachthimmel in ihm eingeschlossen.
Es erinnerte an Nachtblitz' Schuppen, war jedoch um einiges... majestätischer, geheimnisvoller, faszinierender. Über diesen Anblick verschwanden sogar die schwarzen Punkte vor meinen Augen und allmählich wurde ich von einer inneren Ruhe erfüllt. Ich wollte wütend sein, doch dieser Stern hielt meinen Blick gefangen und mit ihm meine Gedanken. Als würde man nach einem schlimmen Tag in den Nachthimmel blicken und alles für einen Moment vergessen, ob man wollte oder nicht.
„Hier liegt das letzte Teil, welches ich euch geben kann. Danach müsst ihr allein weiterkommen, ohne Rätsel. So leid es mir tut, aber wohin euch diese Reise führt, weiß auch ich nicht."
Dann drückte sie auf eine der hunderten ins Holz geritzten Formen und der Stern schob sich knackend ein Stück nach oben.
Als Selma ihn gänzlich anhob, kam eine Schatulle zum Vorschein, die sehr an das Exemplar bei den Schneegeistern erinnerte.
Geradezu ehrfürchtig legte die Frau, die mich jedes Mal aufs Neue vor die Frage stellte, ob ich sie mochte oder nicht, den Stern beiseite und reichte Moira die Kiste.
„Egal, was ihr als nächstes tut; Sungird darf unter keinen Umständen den Besitz dieser Dinge erlangen."
Wie aufs Stichwort erzitterte erneut die Erde.
Draußen war die Hölle los. Das konnte weder der Starkregen vertuschen noch das kleine Fenster verbergen.
Obwohl Selmas Hütte abseits der Siedlung stand, hörte man problemlos die panischen Schreie, während immer mehr Felsbrocken wie überdimensionale Regentropfen auf die Insel prasselten. Wann immer sie den Boden trafen, spritzen Schlamm und Trümmer in riesigen Schwallen durch die Luft. Es war pures Glück, dass wir nicht verschüttet worden waren, so dicht, wie der erste Stein an der Hütte gelandet war.
Erneut stob ein Teil des Bodens auseinander, diesmal etwas weiter von der Hütte entfernt in einem kleinen Wäldchen. Das Knacken der Bäume hörte sich in meinen Ohren an wie das Brechen von Knochen. Egal, was Moira über den Regen gesagt hatte, wir mussten hier weg, und zwar schnell. Wer auch immer diese Insel angriff -wahrscheinlich waren es Drachenjäger, wer auch sonst?- meinte es ernst.
Augenblick... Wieso sollten Drachenjäger diese Insel angreifen? Sie konnten doch eigentlich gar nicht wissen, dass wir hier waren und sonderlich viele Drachen gab es hier nicht.
Drachen... Bei Thor, nein! Wir hatten sie in genau dem Wäldchen versteckt, das gerade zerstört worden war!
„Sturmpfeil!"
Ich konnte mein Mädchen nirgends entdecken. Was, wenn sie- Nein, Sturmpfeil war schlau. Sie hatte den Felsbrocken rechtzeitig erkannt. Sie war nicht zerquetscht worden.
Sie konnte gar nicht erwischt worden sein.
„Sturmpfeil!"
Rund um den Krater verteilten sich Erhebungen, die verdächtig der ungefähren Größe von Drachen entsprachen.
Nein, denk gar nicht erst dran!
Es. Geht. Ihr. Gut! Sie ist schlau und schnell, sie ist in Sicherheit.
Aber was, wenn sie gerade geschlafen hatte? Wenn der Stein sie während eines Traumes zermalmt hatte?
Oder wenn sie sich irgendwo verfangen hatte? Und was war mit ihrem toten Winkel?
„STURMPFEIL!"
Sicherlich hörte man meinen panischen Schrei noch in Meilen Entfernung. Egal, solange sie ihn hörte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, meine Rufe zu ignorieren. Ein Grund mehr, der mein Herz zu einem Sprintmarathon anfeuerte.
Mein Blick irrte durch die Gegend, ohne dass ich etwas sah.
Blau, blau, ich brauchte einfach nur etwas Blaues! Das war doch in diesem grau-braunen Gemisch namens Umwelt kaum zu übersehen!
„Komm schon, komm schon! STURMPFEIL!"
Wieder nichts. Bestimmt war sie weggeflogen und wartete nun in einer Höhle auf der anderen Seite der Insel. Bestimmt. Oder sie suchte mich gerade von der Luft aus.
Doch auch am Himmel konnte ich kein wunderschönes Himmelblau ausmachen. Das lag garantiert nur an diesem bescheuerten und dazu auch noch klirrend kalten Regen! Ich musste einfach weiter rufen, dann würde sie gleich fröhlich krächzend und mit strahlenden honiggelben Augen zu mir sausen.
Gelb, natürlich! Los, Astrid, das war ja nun wirklich unmöglich zu übersehen!
Gelb und blau, gelb und blau, gelb und blau...
Konnte dieser dämliche Wolkenbruch nicht irgendwann mal sein Ende finden?! Ernsthaft, wenn ich könnte, würde ich ihn-
BUMM!
Urplötzlich hatte ich jeglichen Halt verloren und purzelte orientierungslos durch die Luft, wenn man diesen Wasserfall denn als solche bezeichnen wollte. Selbstverständlich schwappte eine Flutwelle an Erdreich nur kurz nach mir, aber mit dafür deutlich höherer Geschwindigkeit meterhoch vor mir in die Höhe. Wie in Zeitlupe bäumte sich das schlammige Monstrum vor mir auf, streckte seine modrigen Zähne nach mir aus und wuchs immer und immer höher, bis ich mich im gigantischen Schatten wiederfand.
Dann taten die Naturgesetze -Taff würde jetzt auf den Begriff ‚Schwerkraft' beharren- ihr Übriges und ich wurde von einem Gemisch aus Wasser, Erde, Pflanzen und Steinen mit- und schließlich zu Boden gerissen.
Hustens spuckte ich den Matsch aus und wischte mir das Zeug aus den Augen. Naja, letzteres versuchte ich jedenfalls.
Alles tat weh. Verdammt weh. Gift war rein gar nichts dagegen. Und noch schlimmer; Mein linker Arm reagierte nicht. Das konnte doch nicht wahr sein!
Okay, ein gebrochener Arm war nichts Neues. Einfach die Ruhe bewahren und auf den eigenen Körper vertrauen. Bloß nicht in Panik verfallen, das machte alles nur noch- Bei Krogans krummen Zehen, was in aller Welt war das? Die Ruhe bewahren, von wegen! Das Gebilde unterhalb meiner Schulter konnte unmöglich jemals im Entferntesten auch nur eine ansatzweise Ähnlichkeit mit einem Arm gehabt haben!
Mein Unterarm war in genau die falsche Richtung angewinkelt und das, was ich vor einigen Sekunden noch als Oberarm bezeichnet hatte, war unerkennbar. Schlamm wurde von Blut überflossen, welches als schmutzig rote Tropfen neben mich plumpste. Der Ursprungsort der roten Flüssigkeit war eine Wunde, die jedem noch so abgehärteten Wikinger zwei Wochen lang Alpträume bescheren würde. Wie zerschlissene Segelfetzen hing meine Haut herunter, aufgeschlitzt von den scharfen, spitzen Zacken des gänzlich gebrochenen Knochens. Regentropfen schlugen rücksichtslos auf die Wunde ein, jeder Tropfen fühlte sich an wie ein Messerstich, und wuschen innerhalb von Sekundenbruchteilen das zerfetzte Gewebe davon, sodass mich die Spitzen milchig weiß anfunkelten.
Ich riss mich aus meiner Starre und schloss schnellstmöglich die Augen. Das Bild blieb trotzdem klar und deutlich sichtbar.
Okay, alles gut. Rechts war alles heile, also war alles gut. Ich musste nur ruhig atmen, dann war alles-
Nein, nichts war gut! Verdammt nochmal, Sturmpfeil war weg, mein Arm war hinüber, die Insel stand unter heftigem Beschuss und dieser verblödete Regen wollte einfach nicht weniger werden!
Wütend und frustriert schlug ich mit meiner heilen Hand auf den Boden. Yakdung, das hätte ich nicht tun sollen. Jetzt spritzte mir zum zweiten Mal in zwei Minuten Schlammwasser ins Gesicht. Ich hatte ja ausgerechnet die übergroße Pfütze treffen müssen.
„ARGGHH!"
Mein Schrei wurde mit einer weiteren Welle an Felsblöcken quittiert. Ich spürte bereits das Beben, ehe der erste Stein den Boden berührte.
Hoffentlich hatten meine Freunde mehr Glück bei ihrer Suche. Ich wusste nichtmal, wo sie sich derzeit aufhielten. Wir alle waren durch die Tür gestürmt und hatten unsere Drachen gerufen, ich hatte sie irgendwann aus den Augen verloren. Wie sehr ich Moira doch um ihre Seelenbindung beneidet hatte.
Ausgelaugt ließ ich mich nach hinten fallen- und traf prompt auf Widerstand.
Direkt hinter mir türmte sich eine der vielen drachengroßen Erhebungen auf.
Eine undefinierbar lange Zeit starrte ich den Haufen hinter mir an. Der Regen trommelte unablässig weiter auf die Erde, immer wieder in Begleitung von schweren Geschossen.
Und langsam, ganz gemächlich, wusch er die Erde ab.
Jeder Tropfen spülte eine Messerspitze Dreck von dem Ding hinter mir.
Und dann schimmerten immer deutlicher gelbe und blaue Schuppen unter den Erdklümpchen hervor.
„S... Sturmpfeil...?"
Als ich mit meiner Hand über den Haufen fuhr, schien die Zeit stillzustehen.
Das war sie.
Das war mein Mädchen.
Meine beste Freundin.
Ich hatte sie gefunden.
Unaufhörlich flüsterte ich ihren Namen, während meine Hand sich selbstständig machte und immer schneller über diese wundervollen Schuppen strich.
Eindeutig, das war Sturmpfeil.
Meine Sturmpfeil.
Reglos vor mir.
Meine Finger berührten sanft ihre Nase, die Stelle, an der ich sie das erste Mal richtig berührt hatte, die Stelle, an der meine Hand lag, als Hicks mir gezeigt hatte, wie man Drachen zähmte.
Wieder spürte ich das leichte Kribbeln, ihren heißen Atem von damals. Wie sie mich angeblinzelt hatte. Als würden wir uns schon ewig kennen.
Meine Finger zuckten zurück. Halt, falsch, ihre Nase zuckte! Sie lebte!
„Sturmpfeil!"
Ein sehr leises, schwaches Gurren war die Antwort. Aber es war genug, um mein Herz vor Freude Purzelbäume schlagen zu lassen.
„Hey, Süße, alles gut. Ich bin hier."
Jetzt öffnete sich ihr Auge flatternd einen Spalt breit. Treuherzig und unendlich traurig sah sie mich an. Das war der Moment, in dem mein Innerstes zerbrach.
Sie gurrte nochmal, entschuldigend.
„E-es ist a-alles gut. W-wir kriegen das schon wieder... hin, irgendwie..."
Ihr Blick flog kurz auf ihren restlichen Körper, dann fixierte sie wieder mich.
Zertrümmert.
Meine beste Freundin, meine treueste Begleiterin, das schönste Wesen dieser Welt war zerbrochen, wortwörtlich. Ihr Flügel hing in komischen Verrenkungen über dem Großteil des majestätischen Rumpfes. Dunkles Blut versickerte in riesigen Pfützen. Meine Hand war blutig. Es war keine Matschpfütze gewesen, in die ich geschlagen hatte.
Ich schluckte.
Ihre Beine sahen schlimmer aus als mein Arm, ihr prächtiger Schweif mit den beeindrucken Stacheln war ein Abbild puren Elends. Und überall flossen dicke, zähe Ströme auf die Erde. Das war viel zu viel Blut in viel zu kurzer Zeit.
Sturmpfeil krächzte leise. Es war das kläglichste Geräusch, das ich jemals gehört hatte.
„N-nein. W-wir schaffen das... d-du sch-schaffst das. E-es w-wird alles..."
Sie gurrte. Beruhigend, einfühlsam.
Wie ein „Ist schon okay.".
„B-bitte..."
Sie starb. Bei Thor, sie STARB!
Das freundlichste Geschöpf der Erde, meine tapfere, kluge, schöne Begleiterin. Meine Lebensretterin, mehrmals. Mein kleiner Wirbelwind.
Lag hier und starb. Im Dreck. Als wäre sie wertlos. Und es stand nicht in meiner Macht, auch nur eine kleine Sache daran zu ändern.
Zitternd hob ich ihren Kopf ein Stückchen an und robbte darunter.
Jetzt lag ihr bildhübsches Haupt auf meinem Schoß, wie sonst immer. Ein letztes Mal. Ich hätte die Male davor mehr wertschätzen sollen. Ich hätte ihre Anwesenheit mehr schätzen sollen. Mehr bei ihr sein sollen.
Ich zwang das Zittern fort. Für Sturmpfeil.
Langsam streichelte ich sie. Von der Nasenspitze bis zum Hornkranz, in ständiger Wiederholung.
Sie gurrte wieder. Noch leiser, dankender und entschuldigender.
„Psst, alles gut. Ich bin hier. Ich pass' auf dich auf. So wie immer. Für immer."
Ein dankbares Schnauben. Mit aller Macht unterdrückte ich den Kloß in meinem Hals. Dann begann ich, leise eine Melodie zu summen.
Sturmpfeil liebte diese Tonfolge. Es war ein altes Kinderlied, noch aus der Zeit, als wir Drachen gejagt und getötet hatten. Deshalb ließ ich den brutalen Text weg, summte einfach die schlichte Melodie, wenn sie zu mir kam, sich auf mich und mein Bett kuschelte, weil sie nicht einschlafen konnte. Wenige Minuten später schliefen wir beide jedes Mal tief und fest, in stiller Eintracht aneinander gekuschelt.
So wie jetzt auch. Eng an mich gedrückt blinzelte sie mich liebevoll an, bis ihr allmählich die Augen zufielen. Als würde sie einschlafen. Friedlich in meinen Armen. Nicht halb zerdrückt in knöcheltiefem blutigen Schlamm, bei Unwetter und Todesgeschossen.
Von Mal zu Mal weiteten sich ihre Nüstern etwas weniger, wenn sie atmete.
Ich summte und summte und fuhr ihr sanft über die Schuppen, unaufhörlich, in einem ewigen, bedrückenden Mantra.
Mit jeder Sekunde zog sich mein Hals mehr zusammen, wurde meine Stimme belegter, brannten die Tränen mehr in meinen Augen. Aber ich machte weiter. Weiter und weiter. Ignorierte alles um mich herum, sogar mich selbst. In diesem Moment zählte nur Sturmpfeil, nichts Anderes.
Dann war ich jäh eine körperlose Hülle, ein Geist, ein unsichtbarer Beobachter, der dabei zusah, wie mein Körper das Mantra fortsetzte. Und dann war es wieder ich, die Sturmpfeil in den Armen hielt. Und dann wieder ein Anderer. Je mehr ich darum kämpfte, da zu sein, desto weiter wurde ich fortgedrängt.
Bis Sturmpfeil sich zum allerletzten Mal mit all ihrer Kraft zurückkämpfte, den Kopf hochriss, mir in die Augen sah und durch mein Gesicht leckte. Sie krächzte laut und liebevoll, blies mir ihren letzten warmen Atem ins Gesicht und fiel haltlos zurück auf meinen Schoß. Nein, nicht haltlos. Leblos.
„Sturm..."
Meine Stimme brach, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.
Jetzt war es sowieso bedeutungslos. Sie konnte mich nicht mehr hören. Sie war fort. Für immer.
Auf einen Schlag brachen sämtliche Wälle. Ich schlotterte unkontrolliert, bekam keine Luft mehr, schluchzte trotzdem und meine Tränen rannen mein Kinn hinab auf ihr Haupt. Ihr wundervolles, totes Haupt. Wie hatte ich mir jemals wünschen können, diejenige zu sein, die es ihr abschlug?
Und obwohl ich sie liebte, war ich nun doch für ihren Tod verantwortlich. Ich, ganz allein.
Was war ich für eine verabscheuungswürdige Reiterin, die ihre beste Freundin aussperrte? Sie hätte bei mir sein müssen. Nein, ich hätte an ihrer Stelle hier sein müssen. Der Stein hätte mich treffen sollen. Ich hatte es verdient. Nicht sie. Sie war immer gut gewesen. Immer. Sie war selbstlos, freundlich, einfühlsam und immer für mich da. Sie hätte in Sicherheit sein sollen.
Aber was war passiert? Ich war drinnen gewesen. Ich hatte mich mit lieber mit banalen Dingen beschäftigt, als auf sie zu achten. Verflucht, wen interessierten schon diese dummen Rätsel? Sie waren belanglos, unwichtig, eine Zeitverschwendung, gefühllos, verdammt, sie waren einfach nicht wichtig! Und Moiras Rollen und Geheimnisse ebenso wenig. Alles nur sinnloser Quatsch, mit dem ich mich lieber herumgeschlagen hatte, als bei ihr zu sein. Und jetzt war es zu spät. Für alles.
Ich war schwach. Selbsverliebt, dumm und schwach. Und deshalb war Sturmpfeil tot.
Meinetwegen.
Ein Schrei zerriss die Luft, übertönte sogar noch das Krachen der auftreffenden Geschosse. Mein Schrei.
Ich schrie und schrie und schlug in die Luft und schrie und weinte und schlug mit den Füßen auf den Boden und schrie. Meine Lunge brannte vor Luftmangel, doch ich schrie unaufhörlich weiter. Der Schmerz war nebensächlich, denn mein Herz brannte und erfror gleichzeitig, ausgehend von dem riesigen Loch in seiner Mitte, das einst von blauen und gelben Schuppen gefüllt war. Dieser Schmerz fraß mich von innen her auf, so sehr, dass alles andere nicht zu spüren war.
Irgendwann hatte ich endgültig keine Luft mehr. Das Atmen tat weh, das Sprechen noch mehr. Jemand hatte mir eine riesige Metallkugel in den Hals gerammt, die alles kalt erstickte.
Ich wusste nicht mehr, ob ich weinte. Vielleicht war es auch der Regen. Wahrscheinlich, denn ich war leer. Hohl und schwer, so unendlich schwer fühlte ich mich.
Endlich gaben meine Muskeln nach.
Ich brach zusammen. Über Sturmpfeils schlaffem Körper. Willenlos, taub.
Wieso sollte ich auch aufrecht sitzen bleiben, wenn alles um mich herum zerbrach?
Es ergab keinen Sinn mehr. Nichts ergab noch Sinn.
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