
(29) Klarheit
Astrid
Das Morgenbleich hielt die Sterne versteckt, spannte sich in jugendlicher Unschuld über die Giftfratzen, die Würgeleiber, unseren Kriegsrat.
Des Himmels Friedensgebot. Verstecken, was Gewissheit geben sollte.
Ich erkannte sie trotzdem, die unzähligen Silberfeuer. Spürte sie über uns wachen, vernahm ihre Kraft zwischen Moira und Nachtblitz, fühlte Selmas Strahlen, wusste, dass sie nicht allein waren, nie allein waren.
Und solange ich ihn nicht ansah, die Hand nicht auf gelb-schwarze Streifen legte, war ich es auch nicht. Hatte ich sie bei mir. Hier, heute, morgen, überall. Für immer. Hoffentlich.
Sie war aus dem Monster erwacht, das den Schmerz des Knochenbruchs absorbierte, ihn nicht in meinen langsam klärenden Gedankenweiher tropfen ließ. Sie hätte es laufen, hätte es umherspritzen lassen können, hätte das Bild des Grundes auf der kräuselnden Wasserfläche verzerren, zersplittern, zerrütten können. Dürfen.
Aber sie hielt es sauber, obwohl sie sah, was der Schlammfilm in den Felsuntergrund nagte.
Steinregen und Regenblut und Blutpfützen und eine Drachenjägerleiche.
Sturmpfeil wollte nicht, dass ich starb, doch sie akzeptierte meinen Entschluss. Auch, wenn jeder Rauchfaden wusste, wie ich ihn womöglich zu bezahlen hatte.
Sie war da, würde bleiben, wenn ich Enars Schädel spaltete oder bei dem Versuch ihren Spuren folgte. Ihr Einverständnis merzte jedes Gegenargument aus.
Ich brach die Stille.
„Wir haben einen Plan. Wir haben ein Ziel. Worauf warten wir?"
Darauf, dass ich meine Meinung änderte.
Sie brauchten nichts zu sagen, die Gedanken flüsterten durch ihre Augen.
Ich sah zu Hicks. Keine Schuldgefühle krochen in mein Herz, keine Wut, keine Angst. Er wusste, dass die Entscheidung allein bei mir lag. Ich musste mich nicht entschuldigen, nicht rechtfertigen. Es gab nichts zu verhandeln. Dieses eine Mal nicht.
Auch wenn sein Anblick Schwärme an Gegengründen vom Ufer des Weihers aufstoben ließ.
Natürlich, ich würde es bereuen, würde tausendfach um Vergebung bitten, den Ozean mit meinen Tränen speisen. Aber nicht für den Beschluss, sondern für mein Scheitern, meinen Tod.
Ich würde sie alle vermissen.
Oh, ich würde mich dafür verdammen, sie so brutal verlassen zu haben, Hicks solchen Schmerz aufzuerlegen, ihm nur Ohnezahn als Familie zu lassen. Und Heidrun? Raff, Taff? Fischbein? Rotzbakke? Moira?
Sie verdienten es besser, jeder von ihnen.
Und Sturmpfeil wollte dieses Risiko nicht.
Was war mit Wilfriede dort? Wollte ich diejenige sein, die ihr zum zweiten Male und endgültig den Schrecken der Welt offenbarte?
Wollte ich sie ihrer Glückseligkeit berauben?
Ich wusste doch, wie sehr es wehtat. Wie es von innen mit schartigen Klauen schlitzte, wie es ätzte und fraß. Hicks wusste es.
Ich konnte sie nicht dazu verurteilen. Niemanden.
Und Sturmpfeil wollte das nicht.
Nichts davon.
Aber dennoch:
„Wenn ich es nicht tue, gräme ich mich ins Grab."
Die Wahrheit, jetzt kannten sie sie.
Die Wahrheit, weil ich ihnen nichts Falsches geben wollte.
Die Wahrheit, weil Lügen die Seele verrotten ließen. Oder das, was von ihr übrig war, was die Trauer nicht verdaut hatte.
Ich würde mich ihr hinterherschwingen, mich im Gelb ihrer Augen spiegeln, sie wieder in die Arme schließen. Wenn nicht heute, dann in wenigen Wochen.
Für Moira und mich war dieser Kampf entweder der Untergang oder die Rettung.
Ich wusste es, sie wusste es, Nachtblitz wusste es. Vielleicht sogar Selma.
Hicks mahlte mit dem Kiefer, ehe er den Mund öffnete und die geschliffenen Worte freigeben wollte.
Er würde mich nicht umstimmen können.
„Nein. Kein Wort mehr dazu. Sie hat alles gesagt.", zischte Moira ihn an. „Jede Sekunde, die für diese Diskussion verwendet wird, kann die entscheidende sein, die zum Überleben fehlt. Das gilt nicht nur für Astrid, das gilt für alle von uns."
„Wir nehmen sie einfach in unsere Mitte, das machen die Gründlinge bei ihrem Nachwuchs immer so. Dann sollen sie mal sehen, wie sie an sie rankommen.", ergänzte Wilfriede.
Hicks schwieg. Unsere Blicke kollidierten. Stemmten gegeneinander.
Nachtblitz schnaubte ungeduldig.
Er gab nach.
Nasse Tücher versteckten die Hälfte aller Zweifel, pulsierten im Rhythmus des Atems, fingen ihn ein, sparten für die letzten Züge.
Ich würde alles dafür geben, dass sie es umsonst taten. Sungird hatte sich schon zu viel genommen.
Qualm stob auf, wich der Kraft hunderter Flügel. Über uns schrappten seine Fänge wieder zu, schluckten das letzte entschlossene Funkeln.
Der Himmel blickte uns in ausdruckslosem Aschweiß nach.
Zerflossenes Nichts, gewebte Vergangenheit.
Unbeschriebenes Blatt der Zukunft.
Heute Abend blutrot.
„Ich weiß."
Hicks' Stimme flüsterte direkt in mein Herz.
„Und ich verstehe dich. Ich wünschte, es gäbe einen anderen Weg. Ich... ich wollte dir sagen, dass ich dich unterstütze, soweit ich kann. Eigentlich hätte ich das gerade eben schon sagen müssen."
Er hustete.
„Wenn das jemand schafft, dann bist das du. Lass dir das von jemandem sagen, der dich viel zu oft an der Schwelle zu Walhalla gesehen hat, als ihm lieb ist. Aber du hast immer den letzten Schritt verweigert. Du bist immer zurückgekommen."
Ich wollte ihm antworten. Meine Gedanken verloren den Kontakt zur Zunge, dann zueinander.
Wie antworten? Was antworten?
Es blieb Schweigen.
„Sei... Sag mir nur bitte, dass du... versuchst, vorsichtig zu sein."
Er hatte es so formuliert, dass es kein Versprechen war. Dieses hätte ich ihm nicht geben können.
„Ich versuche es."
Er nickte, die Augen bodenlos vor Sorge. Ich sah kaum ihre glänzenden Schatten.
„Ich liebe dich, Astrid."
Vier Worte, tausend Ebenen. Ich liebe dich. Verlass mich nicht. Ich habe Angst um dich. Was auch passiert, ich stehe hinter dir. Du bist nicht allein. Sogar in der Welt der Lebenden.
Nichts kämpfte gegen meine Tränen an.
Ich liebe dich auch, Hicks.
Die Drachenjäger pflasterten den Himmel mit neuen Katapultladungen. Wussten sie, dass wir kamen?
Zungenschnalzen klackte durch die Qualmwolken.
„Mal so unter uns; Für einen superbösen Kerl hat er eine ziemlich armselige Treffsicherheit. So viele Schüsse habe nichtmal ich verpatzt. Und ich habe noch nie getroffen."
„Du, Wilfriede,", murmelte ihr Bruder, „vielleicht ist das nicht der richtige Zeitpunk-"
„Jaja, über seine Gegner macht man sich nicht lustig und außerdem schießt er blind und überhaupt. Ich meine ja nur, dass er entweder richtig miese Schützen hat oder zu viel Munition. Kann man überhaupt zu viel Munition haben? Bestimmt nicht, oder? Es sei denn, es passt nichts mehr aufs Schiff, aber irgendwie muss er das Zeug schließlich hier her geschleppt haben... apropos, wir müssen wieder die Bienen finden oder Selma schreiben, meine Kerzen sind jetzt alle. Und da hatte ich übrigens auch mal wieder recht, wir haben sie gebraucht. Eventuell brauchen wir meine Schneckensammlung also auch noch."
Sie holte Luft.
„Bis auf Keyun haben sich übrigens alle klaglos die Ohren verstopfen lassen. Aber dein Freund hat sich natürlich gesträubt. Als ob ich ihm nochmal Regenwürmer in die Nase schieben würde, also wirklich."
„Du hast ihm-"
„Ja, habe ich dir doch- oh, habe ich dir nie erzählt. Er hatte so schlimmen Schnupfen und ich dachte, ich hätte in Selmas Briefen was über Regenwürmer gelesen. Aber es waren Ringelblumen und ich glaube, die hat man nicht bei Schnupfen genommen. Naja, dann hatten die Vögel eben einmal gegrillte Würmer zum Abendessen. Seitdem werde ich immer misstrauisch beäugt, wenn ich auch nur in die Nähe seines Kopfes komme. Kannst du ihm da eigentlich mal erklären, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht? Ich weiß schon, was ich tue."
Wilfried versuchte, ihrem Wortgewitter zu folgen. Ich kam nicht von der Vorstellung los, wie sie dem dunklen Gründling Würmer in die- ugh.
„Keine Sorge Süße, ich lasse dich niemals mit ihr allei-"
Meine Hand tätschelte die falschen Schuppen.
„Bitte?", setzte das Mädchen nach.
Ihr Wort verklang ungehört in den Schluchten meiner Welt. Ich wandte den Blick ab, besah die Qualmbausche, tauchte in sie ein, driftete im Grau.
Schnüffler hatte einen anderen Schlagrhythmus als sie. Der Sattel war falsch. Jeder Atemzug drückte die Dornen tiefer in mein Herz.
Wieso war es wieder passiert? Wieso warf ich mich aufs Neue gegen die Fänge dieser Kluft? Wann fehlte mir endlich die Kraft dafür, wann zersprang ich endgültig zu Scherben?
Und wieso, wieso verdammt, wieso hatte ich sie nicht retten können? Wieso war ich zu langsam gewesen, zu engstirnig, zu verbohrt, zu konzentriert auf zu unwichtige Dinge?
Das Monster peitschte in meiner Brust, schnappte nach der Trauerwoge.
Aber Schnüffler war nicht Sturmpfeil.
Niemand war Sturmpfeil.
Die Welle brach über dem Ungeheuer zusammen, tunkte es in tristes Blau.
Sie war auch blau gewesen. Und Gelb. Lila. Orange. Braun. An manchen Stellen sogar grün. Alle Farben, und nirgendwo würden sie je schöner sein als in ihrem Schuppenkleid.
Die Bestie stürzte sich wieder auf mein Herz, fuhr Stacheln, Krallen, Zähne aus.
Umarmte es, kauerte sich darum zusammen, spaltete jeden Kummertropfen, der sich näherte.
Etwas streifte meine Wange. Ich schloss die Augen. Weiterer Windzug. Streicheln, wie sie es früher getan hatte. Eine tröstende Geste, ihr Kopf an meinem.
Früher.
So lange her, so weit zurück. So unglaublich klar vor meinen Augen.
Aber sie war doch hier. Sie hüllte doch mein Herz in ihre Schwingen, hielt die Trauersalze von süßen Gedächtnistümpeln fern.
Sie warf mir mein Versagen nicht vor. Hatte es mir nie vorgeworfen.
Ich würde sie wieder sehen. Eines Tages. Bis dahin hatte ich die Chance, all das gut zu machen, was ich verpasst hatte.
Diesmal war ich nicht zu langsam. Ich kannte mein Ziel.
Enar würde Blut mit Blut bezahlen. Und ich würde den Todsinger befreien. Jeden einzelnen Drachen, den ich noch retten konnte.
Ab jetzt wusste ich, was zählte.
Ich würde sie wiedersehen, würde aufrecht über die Brücke gehen, sie in die Arme schließen. Keine neue Reue.
Das Monster schnurrte, seine Schuppen glühten, von den Wellen blieben nur schwache Kalkränder.
Noch jemand an meiner Seite.
Wilfriede diskutierte noch. Blick nach vorn halten. Wir hatten nur die Zukunft.
Eisengespickte Zukunft.
„HICKS! FELS!"
Drachen und Menschen schrieen auf, das Geschoss pflügte durch die letzten Rauchschleier. Das Ungeheuer stieß mich flach auf Schnüfflers Rücken, wir schossen zur Seite, die Schiene drückte in meinen Bauch.
Schnell aufrichten. Überblick.
Keine weiteren Schreie. Gut. Niemand fiel. Gut. Hicks in Reichweite. Thor sei dank.
Er hatte bereits erkannt, wer fehlte. Sein Ruf klang seltsam melodisch im allgegenwärtigen Scheppern.
„Heidrun? Fischbein? Wir sind hier drüben! Hört ihr mich?"
Echo und Getöse.
Echo.
Echo.
Nein, das war Heidruns Stimme!
Ganz stumpf, endlich verstand ich sie.
„Hicks?"
„Ja! Hier drüben!"
Hatte ich schon immer so gekrächzt?
„Ihr müsst hierher! Folgt einfach unseren Stimmen! Stimmen! Stimmen! Stimmen!"
„Wenn euch seine Stimme nervt, dann folgt meiner!"
„Klappe, Raff!"
„Wie sollen sie uns denn dann finden, Schafsgesicht?"
Wir stimmten einfach mit ein. Unsere Rufe verschmolzen zu einem schrägen Ton, grell genug, um zwei Schatten aus dem Feuernebel zu ziehen.
Erst jetzt vernahm ich ihr rasselndes Husten.
„Heidrun!"
Der Rauch reizte ihre grippebefallenen Lungen.
Wieso hatte sie Wilfriede nicht nach einem Mittel dagegen gefragt? Warum hatte ich sie nicht gefragt? Eine tolle Freundin gab ich ab.
Sie hustete meinen Namen. Ich verstand nur das A.
„Hier, wir sind hier!"
Das Tuch dämpfte meine Worte.
Wieder rief sie. Wedelte mit den Armen.
„Hier!", winkte ich zurück.
Fischbein schloss sich dem Fuchteln an. Was war da los? Hörten sie uns nicht?
„A...astrid... Astrid... Astrid..."
Wilfriedes Stimme hob sich kaum ab, als wäre das Mädchen unlängst selbst Rauchdickicht. Haar, Haut und Leinen hatten das Bleichgrau bereits aufgesogen.
„Astrid. Astrid."
Sie wurde lauter, Wuschellocken sträubten in Reichweite.
„Astrid. Astrid. Immer das gleiche. Oh, neue Form. Iiii... Eee... Oo-ä-ü?"
Ihr Mund verzog sich übertrieben, die Buchstaben schwangen besonders deutlich. Las sie Heidruns Lippen?
„Hier, kannst du mir mal eben helfen? Astra?"
Ein Vergrößerungsglas wurde auf meinen Schoß gedrückt.
„Achtung! Fels!"
Nicht Heidruns Stimme.
Knall, Scheppern, helle Streifen vor meinen Augen, Funken. Das Glas sprang in die Tiefe. Steinchen prasselten auf mich, Staub schoss in jede Spalte, Sand auf jeden Flecken Haut.
Ich fuhr herum, starrte in staubige Gesichter. Splitter rieselten aus Haaren, Kiesel wurden von den Satteln gewischt. Nur Moira war halbwegs sauber. Um sie kringelten die Schwaden dunkler.
Das war ihr Warnruf gewesen.
„Das werden sie gesehen haben. Wir sollten uns beeilen."
Laute, deutliche Aussprache. Sie redete taub.
Heidrun hatte mich nicht gerufen. Sie wollten uns vor dem Brocken warnen.
Ohne Nachtblitz hätte er uns davongefegt.
Licht fraß sich in meinen Augenwinkel.
Flammengeschoss.
Warnung brüllen, Schnüffler setzte los.
Untertauchen. Eisenkugel. Links. Eisenkugel. Rechts. Fels. Hoch. Rauchblind weiterhetzen.
Still. Orientierung. Hicks' Stimme.
„Leute, wo seid ihr?"
Schweigen, dann großes Stimmenflattern. Das Wirrwarr ließ Silben und Tonfarben verklumpen.
Ich hörte keine Richtungen mehr. Alles derselbe Ruf.
Wir gaben es auf. Weitere Katapultladungen krachten durch das Lautnetz, rissen die Fäden entzwei und trieben ihre Anker weiter auseinander.
Wir schlugen einen Bogen um eine Bola, als mich das Monster ein weiteres Mal vor dem Fall bewahrte. Aus dem Nichts schmiss es sich gegen mein Rückgrat, ich kippte rücklings nach hinten, ein schwarzer Flügel wischte über meine Stirn. Aufrecht hätte er mich in die Tiefe gestoßen. Schnüffler klackerte aufgebracht, stemmte sich gegen seine Geschwindigkeit.
„Oh, Astrid! Bei Thor, ist alles okay?"
Ich nickte, saß plötzlich wieder, vergaß völlig, dass nichts okay war.
Ohnezahn bremste scharf. Hicks musterte mich. Die tiefen Sorgengräben konnte der Qualm nicht verbergen.
„Juchu! Menschen! Ich sehe Menschen! Ich bin nicht blind!"
„Wilfriede, du kannst hier nicht einfach plötzlich irgendwo abbiegen!"
Wilfried klang weiter entfernt, mit jedem Wort verringerte sich der Abstand.
„Pff, als ob ich dich jemals abwimmeln könnte."
„Du solltest es lieber gar nicht erst versuchen."
„Aber... mal sehen."
Überall um uns spuckte die graue Pampe Gesichter aus. Alle, es waren alle da, alle noch unverletzt.
Welcher Gott hielt seine Hand über uns?
„Uuund er hat immer noch nix getroffen. Vielleicht sollte ich ihm Nachhilfe anbieten. In einem Moor voller Blutegel. Mit nackten Füßen.
Ja, schon gut, ich hör' auf. Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an! Wenn du ihm hilfst, trifft der noch tatsächlich- naja, mir hast du's auch noch nicht so richtig beibringen- bin schon still."
„Er- Ich glaube, er will uns nicht treffen."
Hicks. Sehr langsam kondensierte die Bedeutung seiner Aussage aus meiner Erleichterung.
„Warum schießt man, wenn man nicht treffen will?" Die junge Riesin schnappte nach Luft und pulte sich anschließend naserümpfend das Tuch aus dem Mund. Was sie in keinster Weise verstummen ließ.
„Oh nein, ist dir etwa wieder schwindlig? Brauchst du wieder ein leeres Glasdings? Wilfried, hast du noch sowas?"
„Er will uns auseinander treiben."
Da war keine Erleichterung mehr. Er sagte die Wahrheit, die unverhüllt grauenvolle Wahrheit.
„Aber du hast doch gesagt, dass wir nur alle zusammen als Gruppe eine... oooh!"
„Argh, Hakenzahn, was ist denn diesmaaaACH DU GROSSER THOR!"
Wir waren in Harpunenreichweite. Zehn, zwanzig Spitzen fletschten uns entgegen, ein tödlicher Schwarm hölzerner Riesenaale.
Wieder übernahm Schnüffler die Navigation. Ich hielt mich fest, übergab sämtliche Lenkung an ihn. Er müsste ähnliche Signale wie Sturmpfeil verstehen, waren sie sich im Körperbau doch ähnlich. Ein Stück zu ähnlich.
Ich würde nicht nochmal auf seinen Rücken steigen, ihren Namen nicht ein einziges weiteres Mal falsch verknüpfen.
Irgendwann verhallten unsere Rufe, irgendwann verblassten die Schemen,
irgendwann schmeckte ich Salz.
Das Auf und Ab der Flügelschläge wiederholte sich in unendlichen Rhythmen.
Kurz dachte ich, einen Zipper zu sehen. Später drehte ich den Kopf zu Fischbeins Worten. Seine Stimme war eine ferne Explosion. Der Zipper zerstob unter unserem Flugwind. Die Gründlingtruppe erwies sich als riesiges Wurfnetz.
Schnüffler wich allem zielgerichtet aus. Eines Tages würde ich ihn Dagur gegenüber dafür loben.
Seine Antwort klingelte schon in meinen Ohren.
„Meinen Schnüffler holt eben nichts vom Himmel! Das ist das Berserkerblut!"
Und dann würde er lachen, obwohl es nichts zu lachen gab.
Vielleicht würde ich es auch können.
Lichtschlieren flossen durch meine Sicht. Hell und silbrig.
Ich blinzelte, der Tränenschleier schmolz das Leuchten zu Nebel. Weg mit ihnen, aber ich schmierte nur Schweiß hinzu, Schweiß und Staub.
Das grobe Tuch brannte, ich hatte zu energisch gewischt, rauchiges Wasser stach zwischen meine Wimpern, in den Winkeln. Ich ließ den Lumpen zurück über mein Kinn plumpsen. So brachte es nichts.
Wenn ich etwas hätte, das die Säure nicht infiziert hatte... mein Wasserschlauch!
Warm und schwer traf das Wasser auf meine Stirn, spülte über zugekniffene Lider, stopfte die Luftporen im Tuch. Ich riss es runter, schnaubte aus, was sich auf den Weg in meine Lungen gemacht hatte.
Mein Handrücken hinterließ kratzende Streifen, weiteres Wasser schwappte aus der Öffnung in meine Nase.
Ach, verdammte Einhändigkeit!
Der Korken klemmte zwischen den Zähnen, aber es brauchte zu viele Anläufe, bis er endlich wieder im Flaschenhals versank. Waren diese Teile immer so schmal gewesen?
Wo war das Leuchten hin?
Dort, hinter uns! Flattern um es herum. Flügel. Drachen. Tatsächlich, ich erkannte Schemen, lebende Phantome.
Ich hörte sie, die Stimmen, die Schreie, die Feuertreffer. Der Rauch war dünner.
Schnüffler verstand, brachte uns tiefer.
Segel zeichneten sich ab, Wellen vertausendfachten das Blitzen hunderter Schüsse. Der Todsinger setzte ein neues Lied an, spielte die Melodie zur Klageballade Midgards. Stoppte.
Ich roch Tang, Salz, Holz, frisches Feuer. Verbranntes Fleisch. Blut.
Farben. Blau.
Rauschte haarscharf an uns vorbei, Süße klebte im Rauch.
Schnüffler fauchte, brachte sprunghaft mehr Raum hinter sich.
Blauer Oleander. Hier waren wir richtig.
Dann regnete es Blumen. Wieder.
Abwärts, schneller, schneller, Schlag um Schlag, duftende Brandung hinter uns.
Ich ließ ihn, bremste seinen Instinkt nicht.
Die Segel offenbarten Wappen. Darunter Menschen, grauer Nebel umwaberte sie. Qualmdrachen tauchten aus ihm auf, in ihn ein, stürzten verwundet ins Meer, färbten die Wogen dunkelrot und gewitterschwarz. Jäger wurden hinterher geschleudert, mitgerissen, die Oberfläche spritzte nur so vor sinkenden Metallen. Andere löschten brennende Kameraden, manche Gliedmaßen ragten unbewegt aus der Qualmmasse hervor.
Blüten schwebten aufs Deck. Wieder.
Dunkle Leiber hasteten auf. Pfeile zischten, trafen, töteten. Als die letzte Blume landete, war kein lebender Drache mehr auf den Schiffen.
Nur feixende Rüstungen und Orden. Keiften ihnen hinterher, starrten voller Genugtuung zu uns auf. Dann boshafte Vorfreude. Aber er war nicht dabei.
„Da! Drachenreiter!"
Finger auf uns. Mastspitzen kratzten am Bauch der Rauchdecke.
Schnüffler tauchte tiefer in den panischen Drachenschwarm. Flattern verwischte das Gebrüll.
Einfach weiter.
Wie seltsam die Schatten hier fielen. Als stünde die Sonne fern vor uns. Schärfere Schatten. Nähere Sonne. Klare Schatten.
Ich folgte ihnen, fand den Fluchtpunkt.
Das Licht stand unter Sungirds Segel, das Wappen zerrann im heilenden Glühen.
Einzelne Funken flitzten aus seiner Mitte, schnitten Jäger um Jäger die Kehle entzwei.
Doch während die Menschen vor ihm flohen, schwirrten die Drachen, ich, jede Hoffnungsmotte zu ihm hin.
Schnüffler schuf sich Landefläche.
Drei Männer stürzten über die Reling.
Meine Füße trafen die Planken, Selma drehte sich um, das Monster schnurrte freudig.
„Astrid!"
Selbst ihre Stimme strahlte klar und hell.
Zwei Schritte, das Holz glitschig vor Blut. Meine Sohlen schmatzten.
Sie lächelte.
„Oh, und natürlich..."
Grüßendes Nicken. Das Monster schüttelte höflich die Flügel.
Schlagartig hob sie den Bogen, zog einen Pfeil vom Rücken, spannte, schoss. Der Jäger ging lautlos zu Boden. Bogen senken, Bewegung abgeschlossen.
Das Alter war von ihr gewichen und in sie gedrungen, ihr Gesicht schimmerte in jugendlichem Glanz, darunter und darüber bekannte Weisheit. Sie schien zwischen den Zeiten, war jung und betagt zugleich. Ein ganzes Leben, konzentriert in einem einzigen Augenblick.
Erfüllungsschein, so hatte Moira es genannt.
Erfüllung.
War es Moiras Schicksal, diesen Kampf zu fechten?
Weshalb hatte das Licht sie dann beinahe zerstört? Weshalb hielt es bei Selma, stärkte sie?
Ihre Konturen versickerten nicht in Helligkeit, stattdessen wurden sie aus dem Schein geboren. Alles an ihr strahlte, die glänzenden Silbersträhnen, die funkelnden Augen, die Schaftfedern über ihrer Schulter, der Pfeilrock, ihr glühender Bogen, dessen Metallspitzen.
Hand auf meiner Schulter, warm und weich.
„Geh. Bevor er dich erspäht. Du strebst zu einem anderen Ziel."
Unmöglich zu sagen, ob ihre Lippen ruhten oder beugten.
„Los!", rief sie. Schnüffler stakste vor zu mir, für ihn nur ein Schritt. Die Qualmdrachenreihen vereinigten sich zu einem Kreis, formten langsam eine Kuppel über dem Schiff. Ich spürte das Deck wanken, die Segel flappten, ehe sie den Flugwind fingen. Jäger strömten aus dem Unterdeck, krallten sich an Planken und Reling fest, Gesichter blass wie die Haut der jüngsten Wasserleichen.
Selma sah mich an und diesmal folgte ich ihrer Anweisung. Schnüffler schwang hoch, unter uns schloss sich die Kuppel endgültig.
Ich hörte Holz bersten, Feuer knacken. Vereinzelt entschlüpften Flüche dem allgegenwärtigen Lärm. Lautes Krachen. Beim Umdrehen konnte ich nur noch ein Wrack erkennen, über das bereits der Schaum leckte. Auf dem nächsten Schiff teilten graue Schwingen silbriges Licht zu Speeren.
Schnüffler beschrieb einen weiten Kreis. Das Monster riskierte einen Blick in dessen Mitte, ich folgte seinem Beispiel.
Verwüstungsspur. Vier, fünf rußige Masten spickten den Wellenpanzer des Ozeans. Die Hauptsegel unbeschadet, das barbarische Wappen wallte und wellte, ersoff schleichend, unaufhaltsam.
Dreiviertelbogen. Das Licht nistete an der Spitze des Trümmerpfades.
Der Kreis blieb unvollendet, wir sausten schnurgerade Selmas Kurs nach.
Rotes Haar, düstere Rüstung, Bogen auf uns gerichtet. Schuss. Metallspitze zu Schnüfflers Herz.
Ein dünner Lichtstrahl fegte den Pfeil aus der Luft, stürzte mit ihm in die Blutwogen.
Sungird, wusste ich plötzlich. Das dort war Sungird.
Der Lichtblitz aber war Selmas Geschoss.
Sungird hatte es auch erkannt, wandte sich dem nahenden Leuchten zu. Wartete.
Ich verlor ihn, der Abstand war zu groß.
Enar nach wie vor unauffindbar. Weiter.
War das mein Name gewesen?
Niemand zu sehen, der ihn kannte.
Niemand zu sehen, den ich kannte. Wo steckten sie? Wo war Hicks?
Keine Schiffe mehr, bloß Meer und treibende Goldklumpen.
Dichter ans Wasser. Gold schwamm nicht.
Leicht war es, durchscheinend. Bernstein.
Dort ragte ein Bug auf.
Selbst das Ungeheuer hielt inne. Zu vertraut, diese Farben. Zu bekannt, seine Ketten. Er wehrte sich nicht. Vor zwei Tagen hatte er es noch.
Ich musste ihn befreien. Jetzt, bevor er sich für immer aufgab. Jetzt, wenn es nicht schon zu spät war.
Schnüffler landete nicht. Ich rammte meine Beine in seinen Brustkorb, riss am Sattel, bis Nähte platzten, er steuerte weiter.
Ich brüllte ihn an, fluchte, schimpfte. Der Kurs blieb.
Ich trommelte auf seinen Rücken, auch wenn zwei unbrauchbare Hände nicht helfen würden.
Rostrote Stempel glänzten auf Leder und Schuppen. Ich ging zum Verdammen zurück.
Monster und Verstand widersprachen meinem Wahn. Sagten, dass sie mitten in Selmas Bahn lag, dass sie ihr helfen wollte, dass sie nicht verloren war. Ich fühlte ihren strahlenden Blick, ihre Gewissheit, ihr Versprechen. Ja, schön, Selma hatte die Befreiung im Visier.
Aber ich hatte sie wieder im Stich gelassen. Ein drittes Mal.
Schnüffler flog stur geradeaus. Schiff, Bernstein, Blaugelblilaorangebraungrün verschwanden.
Nie, nie wieder setzte ich mich auf diese primitive Eidechse!
Ich fluchte, schrie, wetterte, wütete. Die Worte strömten nach, ich feuerte sie heraus, kannte weder Sinn noch Klang.
Immer lauter, lauter, lauter, sie sollten durch das Wachs schellen, ihn spüren lassen, was ich spürte.
Er schielte nichtmal zu mir.
Ich verdammte ihn tretend, verdammte Wilfriede für ihr Wachs, Selma für ihre Besänftigungsversuche, mich für meine Schwerfälligkeit. Ein gezielter Sprung! Ein einziger verfluchter Sprung!
Und diese Blumen, diese scheußlichen Blumen, ihr grässliches Blau, ihre heuchlerische Schönheit, verrotten sollten sie allesamt! So hatte es angefangen, so hatten wir Moira verloren, uns Nira, diese Parasitin, eingetreten, die Insel gefunden, Selma getroffen, uns in Zeilen verirrt.
Sie schunkelten duftend auf dem Meeresspiegel, tausende Spiegelbilder der Vergangenheit, Risse im Zeitkontinuum.
Wieder.
Unschuldige Mörder.
Jetzt nahm ich die Schiffe wahr, die sich ewig in alle Richtungen erstreckten. Vereinzelte Rümpfe reckten ihre gesplitterten Gebeine flehend zu mir hoch.
Sie passten nicht. Hier wurde nicht gekämpft, nur Katapulte beladen und der Rauch durchbohrt.
Schnüffler schlängelte sich um die Felsen, um die Netze, die Eisenkugeln, die Flammenbälle.
Jemand brüllte: „Fall!", klarer Schrei in dem sonst leisen Treiben.
Stein traf auf Holz, Krieger sprangen in die Takelage, schwangen auf die Nachbarrümpfe. Ihr altes Deck zersplitterte krachend.
Was war mit den Leuten unter Deck? Das waren zu wenige Menschen.
Kalkulierten sie mit dem Tod ihrer Kameraden?
Keine Schreie, keine Ertrinkenden.
Das Wrack bleckte grinsend seine Trümmerzähne.
Ich begriff.
Sie opferten Schiffe, um auch in ihren eigenen Reihen den Feind zermalmen zu können.
Hitze im Nacken.
Schnüffler brüllte erschrocken, riss zur Seite aus, aber das Feuergeschoss rammte uns, schleuderte mich von ihm, meine Axt aus der Sattelhalterung, ihn aus seiner Bahn.
Das Ungeheuer schlug mit seinen Stachelflügeln, bremste den Fall vielleicht, korrigierte meine Bahn, war das überhaupt möglich?
Der Himmel war zu Ende, ich schlug auf Holz.
Schnellte auf. Meine Axt, wo war meine Axt?
Da!
Griff in meiner Hand, der Feuerball krachte neben mir ins Meer. Zischend heißes Wasser brandete in die Höhe, die Meereswand wuchs, wuchs, wuchs, schraubte sich höher, immer höher.
Donnerte nieder.
Mir wurde jeglicher Halt entrissen, ich purzelte orientierungslos durch die Luft, wenn man diesen Wasserfall denn als solche bezeichnen wollte. Wieder.
Schwemmte übers Deck.
Die Lederbänder drückten sich in meinen Handballen. Nicht. Loslassen.
Mein linker Arm reagierte nicht. Offener Bruch.
Wieder? Nein, noch immer.
Das erlebte ich nicht zum ersten Mal. Nur ein anderer Ort, eine andere Zeit, andere Umstände.
Aber sie war schon gestorben. Sie blieb tot.
Für immer.
Und doch war sie hier, hier bei mir, jetzt. Für immer.
Ich stand auf. Die Jäger hatten den Abstand fast überbrückt. Sollten sie ruhig kommen.
Alle Sinne auf Hochtour. Das Monster verband sich mit meinem Körper, schenkte mir seine Stacheln, seine Wahrnehmung, seinen Puls. Ich hatte nie so viel gerochen, gehört, nie so viel Kraft gehabt.
Die Welt war noch nie so klar gewesen.
Ich hörte Blumen fallen. Blick nach oben. Blauer Schnee schwebte herab.
Blutrünstiges Drachenjägergrinsen um mir, Streben eines Käfigs, rückte näher. Sie bauten sich ihren eigenen Sarg.
Berührung auf meinem Kopf, federleicht. Blütenflocke.
An ihr haftete der Geruch nach Leinen.
Da, da hinten! Das Hauptsegel blähte sich, die letzten Pflanzen nahm der Wind ihm ab. Ein zweites Segel war gespannt, die übrigen bildeten dicke Rollen, prall gefüllt mit Giftblumen.
Das Schiff schimmerte bläulich, formte die Wurzel des Verderbenskrauts. In der Luft lag ein eigenartiger Geruch, ganz schwach nur. Der Geruch blutig-sauberer Hände, verkümmerten Herzens, schwarzer Seele.
Der Geruch nach braunem Haar und blauen Augen.
Der Geruch nach Rache.
Dann erklang ein Lachen.
Ein böses Lachen.
Ein sehr böses Lachen, das dafür sorgte, dass sich bei mir sämtliche Härchen aufstellten.
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