(27) Versuchung
Hicks
Der Himmel tötete die Zeit. Hing die Körnchen des zersprungenen Glases in die Luft, formte aus ihnen Körper, Menschen, Drachen, nannte sie Astrid, nannte sie Schnüffler, Fischbein, Fleischklops, Hakenzahn, Rotzbakke. Knetete Zwillingsfigürchen, einen Dieb, einen Zipper, Klingenpeitschling und Kapuzenmädchen, schnitzte einen Nachtschatten und einen Einbeinigen.
Betrachtete amüsiert, wie sie umherpendelten, kreisten, kleine Rädchen ohne Sinn, wundernd, weshalb sie nicht vorankamen.
Er ließ sie tanzen, weiter, schneller, ließ sie vergessen, nahm das Ziel, ließ den Weg.
Atemfressende Eintönigkeit. Hirnschmelzendes Verlockungsplärren. Ich sah Astrid nicht mehr. Wieder dorrten meine Augen aus, das Tuch vor Mund und Nase wollte mich lieber erwürgen als schützen.
Und immer weiter schwang der Himmel seine Fäden, immer weiter wogten die Körner. Kein Ende.
Ich sollte bei Astrid sein. Dafür sorgen, dass sie sich in diesem zerfasernden Nichts nicht selbst verlor. Wenigstens einen mentalen Halt schenken, während die Welt verdunstete.
Stattdessen klammerte ich mich an Ohnezahns rhythmischen Bewegungen fest, versuchte, nicht zu hoffen, im nächsten Atemzug zwischen zwei Steinfronten zermahlt zu werden, um der Monotonie zu entfliehen.
Ohne Sinn. Zielverloren. Steter Kreis. Fadenreigen.
Ich hoffte es.
Zehn Schläge vorwärts. Graues Nichts. Totenbleiche Aschetupfen.
Vorwärts. Grau. Weiß.
Allein in der Unendlichkeit. Meine Freunde mussten in der Nähe sein, aber sie waren nicht da, nah und fern in einem, dröselten zu Verstandsgespenstern.
Aber sie mussten. Müssten die Flügelschlagswinde spüren.
Niemand hier. Nur Krächzen, Gestank, Feuerbleibsel.
So musste Astrid sich fühlen. An Einsamkeit und Gesellschaft gleichermaßen erstickend. Zu viel gefüllte Leere, zu wenig Zeit zur Flucht und dann gefangen.
Wenn ich das Tuch abnahm, vielleicht hörte jemand das Husten. Vielleicht gäbe es eine Antwort.
Nein, gäbe es nicht. Der Todsinger zerschlug die Töne vorher.
Was tat ich hier überhaupt? Moira und Nachtblitz waren ihm sicher längst auf den Leim gegangen, andernfalls hätte jemand sie bereits finden müssen. Jeder weitere Atemzug konnte das Signal zum Ersticken sein, die Hitze fraß sich langsam ins Wachs, lockerte es, trieb uns Tropfen für Tropfen in die Verdammnis. Und wenn ich vorhin noch glaubte, der Gesang könne uns leiten, so drohte ich nun, in ihm zu ertrinken. Überall war er, dicht gewebter Teppich, gedankenzertrümmernd laut, nahm kein Ende, kannte keinen Anfang.
Ich versuchte, die Flugrichtung des nächsten Eisenklumpen zu bestimmen. Am Ende lag ein Schiff, am Ende gab es Licht und Luft und Leben, harte Realität. Besser als Qualmgespinste.
Dann überholte uns eine Feuerkugel und meine Orientierung brutzelte erneut zu schrumpligen Knollen.
Vermutlich war es besser so, was hätte es auch gebracht? Sobald ich den Rauch überwand, würden sie mich zerfetzen, ich würde uns beide ausliefern. Lieber verdarbte ich im Giftdunst, als Ohnezahn das anzutun.
Es donnerte, die Gasschlacke erbebte. Schwarze Schlieren spülten über uns hinweg, Ohnezahn drehte sich panisch, versuchte, uns mit kraftstrotzenden Schüben von den Schattenwülsten fort zu sprengen. Seine Bemühungen kenterten krachend in einem Strudel rußtrunkenen Flammenschutts.
Er brüllte frustriert auf, ich spürte, wie er verzweifelt den Kopf schwenkte, den Dunkelheitsschleier abzuschütteln suchte. Wieder schrie er, flatterte ängstlich vor, fuhr herum, wich zurück.
Wieso nutzte er nicht seine Nachtorientierung?
Oh verdammt, ich war so ein Trottel! Das Wachs versiegelte seine Ohren, vielleicht nicht mehr lang, aber noch leistete es hervorragende Arbeit. Seine feine Nase wurde verätzt, jedes Licht verschlangen unsere wabernden Knebel.
Er war hier so aufgeschmissen wie ich.
„Hey, Kumpel. Wir schaffen das."
Natürlich hörte er mich nicht. Nichtmal ich vernahm meine Stimme, der beißende Gesang duldete keine Zwischentöne.
Aber was gesprochen war, war unveränderbar, unumkehrbar. Stabiler als Gedanken, greifbarer als die schwindende Hoffnung. Eine kleine Barriere im klaffenden Leck, durch das die Lebenskraft verrann.
„Irgendwie. Gemeinsam."
Die Schuppen auf seinem Kopf pulsierten fiebrig heiß. Ich streichelte sie dennoch, malte Schweißspuren, wieder und wieder, murmelte stumme Worte, beschwor einen seidenen Faden.
Die Schwärze flockte, mein Hals wurde mit einer scharfen Drahtbürste malträtiert, meine Lunge zerflog zu immer kleineren Fetzen.
Ohnezahn schnaubte energisch, sein Atem ging gezwungen. Ich spürte, wie sein Brustkorb sich gequält hob und senkte.
Der seidene Faden fächerte auseinander, Faser für Faser franste davon. Langsam schloss sich die Schicksalsschere um unsere Lebensschnüre.
Ein Bild blitzte in der Dunkelheit meiner Erinnerung auf. Hassbrennende Augen, wutstarrer Mund.
„Ich gehe."
Moiras gefrorene Stimme.
Jetzt verstand ich sie, ihren Hass, ihren Zorn, ihre Flüche.
Das Leben bürdete die hinterhältigsten Entscheidungen auf. Wir würden sterben, doch durften den Ort unseres Ablebens immerhin frei wählen. Wolkenunrat oder algenmorsche Planken.
Meine Hände kamen zum Erliegen. Die Daumenspitzen berührten sich. Schuppen schubberten rau unter zittrigen Fingern.
Einatmen. Ausatmen. Die Wut trieb die gereizte Haut meines Rachens zu einem Stein, stemmte ihn fest und schmerzhaft gegen meinen Hals. Kristallisierte Luft. Ein. Aus. Gedankenknäuel lösen.
Das Zittern verlief sich. Tränen tauten den Kloß weg, heiße Tränen mit brennend betäubenden Spuren. Mischten mit Perlenschweiß. Bebendes Herz, bäumende Angst.
Ich dachte an Astrid, ihre bodenlosen Augen, ihr zermodertes Lächeln. An die Tage, Nächte, Wochen, Jahre, die wir nebeneinander geflogen waren. Ihr strahlendes Duett mit Sturmpfeils Krächzen.
Ich dachte an meinen Vater, das warme Glimmen in seinen Augen, die Sturheit in seinen Falten. Die Liebe in seinen Worten, die Zärtlichkeit beim Tanz mit meiner Mutter.
Ich dachte an Ohnezahn. An alle glücksprudelnden Momente, an alle überwundenen Hindernisse.
Dann ließ ich los.
Der seidene Faden wehte davon, streute zu einzelnen Weben, schwebte in die Freiheit. In die Unerreichbarkeit.
Wir fielen. Schwarz wechselte zu gelblichem Grau. Ich lehnte dicht an Ohnezahns Hals, umringt von seinen Schwingen.
Zug in meinem Nacken. Der Knoten zog sich auf. Das Tuch riss weg.
Steingeschoss rechts. Metallstern links. Schallendes Getöse hinter uns.
Flammenkugel vor mir. Rechtsschraube. Wachsspritzer auf meinen Schultern.
Der Qualm nahm kein Ende.
Mehr Wachs. Richtungsänderung. Nuancen flacher.
Ohnezahn musste den Gesang hören können, verfolgte ihn. Vielleicht schafften wir es rechtzeitig, vielleicht konnten wir sie retten. Und sie Ohnezahn.
Meine Hände auf seinen Ohren. Hielten Wachsströme zurück. Flimmernder Rauch. Stockende Atmung.
Luftanhalten. Weiter machen.
Hustenreiz. Blutgeschmack.
Ohnezahn riss die Flügel auf, der Fall bremste mit kräftigem Ruck, Flughäute blähten, Qualm schwemmte um sie.
Rasendes Fauchen, fleischendes Brüllen, grollendes Knurren.
Überlagerte selbst den Todsinger.
„Du missratenes Stück Schuhsohle!"
Moiras Fluch schnitt durch das Kreischen.
Dann platzte der Rauch, wir fuhren in eine Luftblase. Nachtblitz' Tosen hatte sie erkämpft, wenige Meter Sicht geschaffen, durchbrochen von unregelmäßigen Qualmsporen.
In ihrer Mitte peitschte das Reptil seinen Körper zu Knoten, Schuppenzacken schrabbten durch Dunst, Flügel und Beine wrangen zu einem schlagenden Wirrwarr, sie krümmte, biss zähneschnappend in Leere, warf in blanker Raserei den Kopf herum.
Schrie, röchelte, hustete Kreischschwälle, schüttelte sich, als jage jemand Stromstöße durch ihre Muskeln.
Ihre Reiterin fluchte, riss an Sattelriemen, spuckte wutgärende Tonbrocken. War da Blut auf ihrem Handrücken?
Unsagbar, zu diesig, zu unruhig.
Ihre Knie unter den Flügelansätzen verkantet, jede Bewegung unwirsch abwürgend, um die Oberhand ringend. Bemerkte sonst nichts.
Schrilles Pfeifen, ich zog reflexartig den Kopf ein. Nachtblitz' Plasmaschuss feuerte aus der Blase, zerriss im Verdeckten eine Katapultladung. Sie schnaufte, raffte sich auf, jagte einen zweiten Blitz hinterdrein. Stille folgte seinem Verschwinden.
Moira schwieg, die Maske blickte teilnahmslos ins Graugeschwader. Nachtblitz wurde ruhiger, erspähte uns, brummelte erschöpft.
Schüttelte den Kopf.
Ohnezahn hielt uns an Ort und Stelle. Kein Versuch, dem andauernden Gesang Folge zu leisten. Hatte er von vornherein nicht den Todsinger, sondern Nachtblitz gehört?
Dann hielt das Wachs noch! Zäh und ausdauernd, wie die junge Dame, die es uns gegeben hatte. Ich würde Wilfriede persönlich dafür danken. Und ihr eine Urkunde erstellen, falls die Zwillinge darauf bestanden. Nein, ich würde ihr so oder so eine Urkunde geben. Oder was auch immer sie wollte.
Aber wenn das Wachs abdichtete, wie konnte er dann Nachtblitz hören?
Kräftiger Ruck, Moira wischte ruppig das Blut von den Händen, langsam drehte sich die Maske zu mir. Nur ein lebloses Stück. Aber hassflammende Augen. Ich hatte nie zuvor furchterregendere Züge gesehen.
„Fein. Wenn du niederträchtige Fehlschöpfung zu blöd zum Vorwärtsfliegen bist, dann verkriech dich eben im Schatten deiner nutzlosen Aufpasser. Gutes Gelingen beim Verrecken."
Schneidige Worte. Wut brodelte auf, befleckte mein erstarrtes Herz, kochte Schock und Unglauben. Mir fehlten die Laute, um Moiras Aussage passend zu erwidern, sie waren mitsamt des inneren Bodens fortgerissen, zusammengebrochen, weggestürzt.
Ich röchelte nach Atem, kämpfte um Gleichgewicht, Bewusstsein, blickte hilflos den hämischen Schuppenmustern entgegen.
Sie strich über die Maskenstirn, rollte mit den Schultern, packte den Sattel, schwang ihr Bein über den Rücken. Nachtblitz wimmerte panisch, legte sich schräg, hielt die junge Frau auf sich, streckte die Pfoten nach der schwarzen Rüstung aus. Tatzte daneben.
„Moira! Komm zu dir!"
Astrid platzte in die Blase. Dunstwirbel hinter ihr schimmerten um Schattenkörper.
„Bei Thor, was machst du da?!"
Heidruns Worte bereiteten ihrem Gesicht den Weg. Auch Fischbein entrann dem Qualm, grünliche Zipperhaut ergatterte Lichtreste. Dann musste das Schemenbild links zu Rotzbakke gehören.
Meine Freunde. Die Wut stockte, freundliche Wärme überfloss mein Herz, spülte Zornspritzer fort. Die Fäden waren zu nah geraten, hatten sich ineinander gedreht, einen festen Strang gebildet, die Körnchen zusammengeführt.
Die Freude verflog, als Nachtblitz erneut aufjaulte. Ihre Reiterin hatte sich vollständig vom Sattel gelöst, lehnte über den glitzernden Rumpf. Die Drachin wimmerte flehentlich. Weiter konnte sie sich nicht drehen, oder sie würde sich nicht länger in der Luft halten können.
Kohlekalte Augenlöcher schweiften durch die Runde, belegten jeden mit einem persönlichen Fluch.
„Moira, was-"
Raffs Stimme webte sich aus den Tönen ihrer Irritation.
Astrids Blick traf mich, sagte genau, was ich selbst soeben begriffen hatte.
„Das ist nicht Moira."
Seelenbindung, doppelte Stärke, doppelte Schwäche. Nachtblitz hatte sich gegen den Gesang wehren können. Moira nicht.
Kjell riss die Augen auf, streckte die Hände aus, als könne er noch irgendwas fangen, was nicht bereits dem Abgrund gehörte.
„Sie springt!"
Besagte Frau nickt ihm zu.
„Guten Flug."
Mit beiden Händen drückte sie sich von ihrer Freundin weg, fiel rücklings ins Rauchmeer, die Maske ein eisiges Grinsen, strudelte in meinen Schwindel, verblasste sekundenschnell.
Und Nachtblitz brüllte, brüllte, brüllte, zerschlug das Todsingerlocken zu Scherbenstaub, brüllte, prügelte ihre Verzweiflung in meinen Kopf, sprengte meine Ohren, brüllte, brüllte, dass die Sonne ertauben und der Qualm den Verstand verlieren musste, brüllte, bis jeder Knochen zitterte, brüllte, brüllte, brüllte.
Ich sollte mir die Hände an den Kopf pressen, mich vor dem brennenden Schmerz schützen, aber ich hatte sie fest am Sattel verankert, während sämtliche Orientierung allmählich zu pirouettieren begann. Fingernägel gruben sich in Leder, die Welt drehte langsamer. Ohnezahn war wieder unter mir, Nachtblitz mir zugewandt, Astrid, Heidrun, Raff, Taff, Fischbein, Kjell, Rotzbakke in ihrem Rücken, Augen und Ohren fest verschlossen.
Die Drachendame wirbelte herum, knallte zurück in ihre ursprüngliche Position, brüllte noch, peitschte mit den Flügeln, jagte scharfe Orkanschübe um sich. Ohnezahn strauchelte, Übelkeit und Schwindel schwappten in mir zu neuen Rekorden auf.
Die Schreie endeten in Atemringen, das Pochen, Klingen, Rauschen blieb, erstickte Gedankensprosslinge. Nachtblitz beugte sich zur wabernden Masse unter sich, zu Moiras kräuselndem Grab, zögerte, sah sich mit schreckgeweiteten Augen um, fordernd, hoffend, wartend.
Sie öffnete ihr Maul ein kleines Stück, vielleicht gurrte sie, vielleicht japste sie, ich hörte nur Knistern, Flackern, drückend leises Fiepen.
Bewegung kam in meine Freunde. Heidrun wirbelte erschrocken zu Astrid, nickte schwach, ihre Augen sprachen, wie sie es immer taten, wenn sich jemand über seine verzögerte Auffassung ärgerte. Fischbeins Gesichtszüge flimmerten, so schnell haspelte er, so unruhig huschte sein Blick umher. Seine Hände flitzten durch die Luft, Astrid nickte bestätigend, Rotzbakke sah besorgt zu Nachtblitz, die sich nur schwer davon abhalten konnte, ihrer Reiterin zu folgen. Raffnuss kramte hektisch in ihrer Satteltasche, riss triumphierend eine fahle Kerze in die Höhe. Sie sah in die Tiefe, wo sich langsam das Loch, das der schwarz gekleidete Körper hineingeschlagen hatte, schloss. Sah wieder auf, zu Nachtblitz, zu Kjell, zu ihrem Bruder, blitzbruchteilige Sekundensplitter, schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln, zerbrach die Kerze, warf ihrem Bruder die Hälfte zu, sprang von Kotz und verschwand kopfüber in dem gleichen Dunst wie Moira zuvor.
Ob ich rief? Vielleicht war es auch bloß ein kümmerliches Gurgeln. Ich schmeckte Blut, deutlich diesmal, wollten den Klumpen in meiner Kehle wegwürgen, das aushusten, was vom Flickenkleid meiner Lunge übrig war. Stimmen ploppten auf, zerfielen zu Rauschen, Schwindel packte zu, fester diesmal. Wieder kam dieses unbeständige Etwas, das an meinem Bewusstsein riss. Hitze hämmerte, stärker als zuvor, die Luft über meiner Zunge verdickte zu Staub. Kratzig, schwer, träge.
Energischer in den Sattel krallen. Ich verlor die Verbindung zu meinen Fingern, schickte den Befehl einfach in die Leere, hoffte, er würde reichen.
Bunte Flecken vor meinen Augen. Schwarz sog sich in die Ränder. Lauteres Rauschen, leisere Welt. Nein, ich musste bleiben. Zähne zusammenbeißen. Augen zu, auf. Mein Körper wurde so schwer, die Gedanken so leicht. Kopfschütteln. Verschwamm im Wahrnehmungstaumel.
Kein Gefühl mehr im Gesicht. Der Schmerz im Hals taubte ab, bis ich wie in Watte gepackt dahintrieb.
Dann purzelte ich zurück, verband wieder mit meinen Gliedern, spürte stechend die Krämpfe in meinen Fingern. Egal, fester halten. Ich durfte nicht wegkippen.
Und sie hielten weiter, klebten vor Wachs, zitterten unter ihrem eigenen Druck.
„Wir müssen-"
Mein Blick schoss zu Heidrun. Ihre Worte flimmerten in meinen Ohren, kämpften sich bruchstückhaft durch die Stille, verleimten mit Todsingerklängen.
Astrid schüttelte den Kopf. Ihr Mund bewegte sich, Wortketten zerfielen, nur Murmelsplitter erreichten mich.
Zwei pickte ich heraus, zwei ließen sich zu Sinnträgern erweitern.
Erst Nachtblitz.
Taffnuss lenkte Kotz und Würg in die Mitte der Blase, wo Moiras Freundin zwischen Beherrschung und Verlockung schwankte. Sie musste versuchen, ihre Reiterin Stück für Stück aus dem Bann des Gesangs zu befreien, nahm sich dafür beständig mehr ihres eigenen Widerstandes.
Wenige Flügelschläge brauchte der Zipper, dann war er so dicht an dem Himmelsfluch, dass nur wenige Fingerbreit zwischen seine Köpfe und ihre Schwingen passten.
Nicht nah genug. Taff kam nicht an ihre Ohren heran.
Angestrengt grübelnd wog er die Kerzenhälfte in seinen Händen. Hinter ihm strauchelte Kjell. Was versuchte er da? Links und rechts neben seiner Hüfte stützte er sich auf den Drachenrücken. Hatten wir ihm nicht vorsichtshalber die Hände zusammengebunden? Ja, hatten wir. Doch als wir Selmas Boot sahen, waren sie bereits frei gewesen. Wir hatten nur nicht darauf geachtet, waren abgelenkt gewesen. Jetzt zog er die Beine an, lehnte sich vor... Wollte er aufstehen?
Warum?
Er hatte den Kopf zu Taffnuss gewandt, schien etwas zu fokussieren. Das Wachs!
Oh nein, ich musste ihn aufhalten. Nachtblitz brauchte es dringend, jede Sekunde ließ ihre Schutzmauern stärker bröckeln.
Ohnezahn schoss vorwärts, Kjell stemmte hoch, schnappte sich den Wachsbalken. Zu schnell. Aber noch warf er es nicht weg, noch könnten wir ihn erreichen- er schlitterte zurück auf Kotz und Würgs Rücken, ging in die Knie, spannte seinen Körper an und stieß sich ab, flog knapp zwischen Ohnezahns Tatzen und Taffnuss' überrumpelten Gesicht hindurch, querte die Zipper und Himmelsfluch trennende Kluft, prallte auf den uns abgewandten schwarzen Flügel.
Nachtblitz fauchte erschrocken, kippte ob des plötzlichen Zusatzgewichts. Der Dieb war verschwunden, wahrscheinlich in ihrem Sichtschatten aus der Blase gestürzt.
Raumgreifende Flügelschläge. Sie schaffte es, ein Stückchen zurückzufedern, klemmte gefährlich schräg in einer schlagseitigen Balance. Drohte, im Lockklingen davonzuschwemmen.
Eine Hand zeichnete sich bleich vom schwarzen Körper ab, reckte weiter nach oben, packte den Sattelrand. Kjell zog sich am ledernen Brustriemen hoch, entschlossene Falten auf der Stirn, die Lippen zu blutleeren Strichen gepresst.
Er zerrte seinen Oberkörper auf die Sitzfläche. Und obwohl er ein mieser Dieb war, obwohl er uns mit wenigen Taten alle dem Verderben ausliefern konnte, hoffte ich, dass die Gurte und Schnallen hielten, dass Nachtblitz ihn nicht abwarf, dass er nicht bedeutungslos im Qualm verging, nur bittere Erinnerungen als Nachlass.
Der Sattel hielt. Kjell schaffte es, ein Bein über die Lederfläche zu schieben, hing eine Sekunde noch unsicher zwischen Schuppen und Leere, dann stieß er sich vollends auf Nachtblitz' Rücken. Die Drachin schüttelte wild den Kopf, weder zufrieden mit dem Menschen auf ihren Schultern, noch fähig, sich wesentlich länger dem Gesang zu verweigern.
Da hielt Kjell wieder die Wachsstange in der Hand. Gerade war sie noch leer gewesen, hatte mit aller Macht Strupfen umklammert.
Alter Taschenspielertrick.
Ich hatte ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht war es gar nicht schlecht, einen Betrüger an unserer Seite zu haben.
Er zerteilte den Balken, beugte sich vor, stockte. Drehte sich um, sah fragend zu mir. Lippenbewegung. Mich erreichte nichts.
Er deutete auf seinen Kopf, auf Nachtblitz' Nacken.
Was sollte das jetzt?
Wiederholung.
Nochmal.
Nicht sein Kopf, seine Ohren!
Ich zeigte ihm bei Ohnezahn die richtige Stelle. Wachskrusten zogen sich über die Schuppen. Je eher wir die brütende Hitze verließen, desto besser.
Kaum hatte Kjell seine Antwort, platzierte er die Kerzensubstanz. Nachtblitz sah überrascht auf, schüttelte sich befreit. Der Junge auf ihrem Rücken stieß einen so spitzen Schrei aus, dass sogar ich ihn hörte, krallte sich fest und zog den Kopf ein.
Gerade richtig, denn der dunkle Drache warf sich ohne Rücksicht auf den Dieb in einen rasanten Sturzflug. Qualm schäumte in die Blase, als ihre Schwingen die Grenze zerfetzten.
Ich klopfte auf Ohnezahns Hals und wir schossen ebenfalls in die Tiefe, tauchten erneut ins Meer des Erstickens, das innerhalb weniger Sekunden vier unserer Freunde verschlungen hatte. Jetzt schnappte es sich den Rest von uns.
Aber diesmal würde ich nicht loslassen, auch wenn jeder Atemzug nach Säure schmeckte und alles in Brand setzte.
Und der Todsinger kreischte, Felsen und Feuerbälle kollidierten mit Eisensternen, die Luft dampfte zu Gift, Hitze fraß die Schweißperlen, peinigte das Wachs.
Wieder legte ich meine Hände auf die viel zu weiche Masse. Wie schnell sie verrann, hinfort floss, der schwindenden Zeit voraus. Der Zeit, die der Himmel aus den Trümmern der letzten zusammengesetzt hatte, in deren Mitte sieben Drachen und neun Menschen ballten, eingeknäult in pulsierende Fäden.
Nachtblitz' Schwanzflosse flimmerte vor uns auf, jagte ins nächste Rauchgeschwür. Mein Hals musste sich häuten, meine Lungen pumpten nur noch blind. Wieder hielt ich die Luft an, wartete auf den Schwindel, spürte das Flattern am Rande meines Bewusstseins.
Der Schmerz zersetzte sich. Ich starrte auf meine Hände. Nochmal würden sie mich nicht halten können. Ich wusste nicht, was als Nächstes kam, wo wir landen würden, aber ich wusste, dass mir die Sekunden zum Feind wurden. Und doch, jede, die ich noch hatte, würde ich voll ausnutzen.
„Hab dich!"
War das Moiras Stimme?
Raffnuss platzte unmittelbar neben uns aus dem Qualm, ihre Füße zogen haarscharf an meinem Kopf vorbei. Sie beschrieb einen knappen Bogen, schwang wieder nach oben. Mein Blick folgte ihr, fand zwei blutende Hände, die sich um ihre Unterarme krallten. Moiras Gesicht wurde von Haaren umpeitscht, dunkle Spuren befleckten Kinn und Wangen. Ihre Lippe musste bluten.
Die Flügel an ihrem Rücken bogen sich vor Spannung, Metallstreben und Lederhäute hackten im Rauch nach Halt, bremsten die Wucht des Falles. Dann schlugen sie, schnitten ihre Trägerin vom Sog des Bodens ab.
Ohnezahn streckte ebenfalls seine Schwingen aus, fing uns ab, folgte den Mädchen.
Schemenweise machte ich sie aus, projizierte Bilder durch graue Schwaden hindurch.
Noch immer segelten sie vorwärts, noch immer trennte nur ein blutender Griff Raffnuss vom Sturz, noch immer kreisten die Flügel, noch immer taumelten sie weiter hinab. Schneller, haltloser, unkontrollierter. Moiras Anzug war nur auf das Gewicht einer Person ausgelegt.
„Raff!"
Die Schemen trennten sich, rasten wieder beide in die Tiefe, der obere zog nutzlos wehende Lederkonstrukte hinter sich her. Auch unsere Flugrichtung änderte sich schlagartig, wieder pfiff die Welt in meinen Ohren, wieder schrieb ich den Schwindel meiner Fantasie zu.
Ohnezahn schwankte, schüttelte sich, pendelte stark vom Kurs der Fallenden ab.
„Ohnezahn, was ist- Oh nein."
Sofort presste ich die Hände fester auf seine Ohren, wissend, dass sie die Töne nicht verstummen lassen konnten. Das Wachs überzog seinen Nacken, tropfte auf den Sattelrand.
„Hey, Kumpel."
Jede Silbe biss und kratzte, hielt sich mit aller Macht in meiner Kehle fest.
„Wir-"
Husten. Metallischer Geschmack.
Er hörte mich sowieso nicht.
„Wir schaffen das."
Schmerzhaftes Krächzen. Schwarze Punkte. Sterbendes Gleichgewicht.
Vor uns brachen nachtfunkelnde Flügelspitzen aus dem grauen Meer. Nachtblitz schraubte sich hinterher, Kjell klammerte an ihrem Rücken, krümmte sich über etwas Dunklem, das er sich gegen die Brust drückte. Zumindest glaubte ich, dass es so war, womöglich wollte ich es nur sehen. Vielleicht war das ein Segel, vielleicht krachte ich gleich auf ein Deck, vielleicht erstarrten wir in Sekunden zu goldenen Figuren.
Ich wollte mir nur einreden, Moira und Raffnuss sicher in den Drachentatzen zu sehen, um ohne Schuldgefühle wegzufallen.
Vielleicht zählte das alles gar nicht mehr. Nur Bilder, die die Hoffnung malte, während Hitze und Tränen die Augenlider sinken ließen. Letzte Gedankenreste, während das Bewusstsein mit dem Wachs schmolz. Tröstende Versprechen über einer brennenden Lunge. Verwebt zu einem wunderschönen Traumtrug.
Etwas rammte von unten gegen uns, stieß uns ein gutes Stück nach oben. Hörte ich Fauchen? War es Wind? Einbildung?
Erneutes Rammen. Fühlte sich an, als würde ich jeden Moment aus dem Sattel fliegen. Waren wir eben vor dem Todsinger gelandet? Angeschossen worden?
Nochmal wurde Ohnezahn zurückgeworfen. Irgendwas hielt mich im Sattel. Bernstein? Flogen wir überhaupt? War das noch Realität?
Worte. Glaubte ich. So schwere Augenlider. So unendlich schwer.
Heben. Öffnen. Nur einen kleinen Spalt.
Grau. Zu hell. Fielen wieder zu.
Worte. Hoffte ich. Bekannte Stimme?
Bekannte Stimme. Taffnuss? Oder Fantasieklang.
Zuhören. Verstehen. Los, Konzentration.
Nur Rauschen. Schöne Klänge. Nichtssagenden Klänge.
Worte. Wünschte ich. Luftzug. Stete Aufwärtsbewegung?
Atmen. Luft holen.
Husten. Husten. Husten. Blut. Husten.
Schwindel in Gedankenschwärze. Fallen. Fliegen. Schweben. Gleiten. Stürzen. Rechts, links. Drehen. Drehen, drehen, drehen. Husten.
Schmerz.
Licht. Hell, hell, hell. Gleißend. Eruptodonschatten? Krampfendes Herz.
Taffnuss. Kotz und Würg, unmittelbar vor uns. Vielleicht. Zu hell.
So klar. Klarer. Verschwand der Rauch?
Schmerz. Husten. Keine Kraft mehr.
Ich kippte aus dem Sattel, fiel zurück in die Wolken. Über mir tausende Schatten, Punkte, Phantome. Wirbelten im Schwindel.
Kräftiger Ruck. Die Bilder verschwanden, nahmen Töne und Schmerzen mit.
„Hey, du musste jetzt aber schon aufwachen, das ist sonst ziemlich gemein."
Rütteln.
„Nein, nicht ziemlich. Das ist dann richtig gemein. Und du bist nicht gemein. Obwohl du mir nicht beim Abwasch geholfen hast. Und obwohl du mich nicht Ilfri genannt hast. Und obwohl... naja, das war wohl eher unsere Schuld. Hey, du hörst mich schon. Aufwachen!"
Stärkeres Rütteln.
Ich wusste, was die Worte bedeuteten, aber es drang nicht zu mir durch. An wen richteten sie sich?
Nicht an mich. Ich war nur da. Da und schwer. Wie ein Klotz Schmiedeabfall.
„Wer meine Geschichte hören wollte, darf nicht sterben, verstanden, Hinkebein?!"
Stechender Schmerz schoss durch meine Wange. Sofort vergaßen meine Muskeln, dass sie eben noch mit Blei gefüllt waren. Ich riss die Augen auf, fuhr nach oben, riss abwehrend die Arme hoch.
„Seht ihr? Es hat funktioniert! Ich hatte es euch gesagt!"
Das Gefühl kehrte in meinen Körper zurück. Plötzlich stand ich wieder in der Welt, driftete nicht länger neben ihr her.
Wilfriede grinste mich breit an. Hinter ihr breitete sich Erleichterung auf Heidruns und Rotzbakkes Gesichtern aus, die Zwillinge klatschten jubelnd ab. Kjell sah aus, als traue er sich seit Minuten wieder zu atmen, Fischbein wischte sich verstohlen über die Augen. Wo war Astrid?
Jemand packte mich an der Schulter, zog mich herum und ich fand mich in einer Umarmung wieder, blonde Strähnen wehten gegen meine Wange.
Astrids Brust bewegte sich stockend, ich spürte zitternden Atem. Aber kein Ton, kein Schluchzen. Sie hielt mich nur fest, den Kopf auf meiner Schulter, und ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ein Jahr zurück, als die Welt noch heil war.
„Bitte...", hauchte sie. „Lass mich nicht fallen."
Ich erwiderte die Umarmung. Ebenso wortlos wie sie.
„Ähm, Kriem- Moira, er ist- ach ja."
Wilfried war auch hier? Dumme Frage, er würde seine Schwester nach allem, was ich bisher von den beiden beobachten konnte, sicher nicht allein lassen.
Wo waren wir überhaupt?
Blauer Himmel und dunkler Nebel. Nein, kein Nebel. Rauch. Und es war kühl. Kalt.
Wir flogen am Rand der Qualmwolke. Ich saß vor Astrid auf- Schnüffler. Natürlich auf Schnüffler.
„Beeindruckend, nicht wahr? Größere Qualmsäulen kenne ich nur von Vulkanausbrüchen. Du kennst doch Vulkane, oder? Klar, musst du ja, ihr hattet vorhin schließlich einen Eruptodon dabei. Wo ist der eigentlich hin? Hm, hat sich vielleicht im Rauch verflogen. Nicht so wichtig. Also schon, aber halt nicht jetzt. Eigentlich wollte ich dir sagen, dass du ganz schön viel ungesundes Zeug eingeatmet hast. Das hat dich wortwörtlich aus dem Sattel gehauen. Aber keine Sorge, ich hab' dich gefangen, da warst du aber schon ohnmächtig. Dann hat Wilfried dir irgendwas gegeben und noch eine ganze Menge anderes Zeug gemacht- ich wusste nichtmal, dass wir so eine seltsame Maske haben, aber obwohl die Flasche daran leer war, hat es dir geholfen. Nehme ich mal an, weil du ja wieder wach bist. Das nennt man dann wohl Magie."
„Die Flasche war nicht leer, sie war-"
„Mit Luft gefüllt, schon klar."
Wilfriede schnaubte.
„Ach, und guck mal, ich bin die ganze Strecke hierher geflogen und nicht ein einziges Mal gestürzt!"
Stolz streckte sie die Arme in die Höhe.
Tatsächlich, sie saß auf- war das etwa...?
Ich blinzelte, doch der lange hellgraue Körper blieb, wo er war. Das blasse Mädchen ritt auf dem hellen Gründling, der uns im Wald überrascht hatte.
Mein Blick flog zu Wilfried, der noch immer ein Stück abseits wartete. Er wurde von dem schwarzen Exemplar getragen.
„Wie..."
Ungläubig erkannte ich den Rest meiner Umgebung. Unzählige bunte Muster strahlten im Sonnenlicht, lange Körper wanden um Flügelschläge. Das musste die ganze Herde sein!
„Wie habt ihr..."
„Sie alle zusammengetrommelt? Hat schon eine ganze Weile gedauert, dein Nachtschatten hat wirklich Eindruck hinterlassen. Deshalb sind wir so spät. Naja, deswegen, und weil Wilfried für jedes Gegenargument acht Entkräftigungen hören musste. Wo sind die beiden eigentlich schon wieder hin?"
Wilfriede drehte einen Kreis um uns, zuckte mit den Schultern.
„Die werden schon wieder auftauchen. Vermute ich mal. Das ist übrigens Kaida."
Sie strich dem grauen Gründling über den Kopf.
„Und sie ist der allerschönste Drache auf der ganzen unglaublich großen Welt! Und sie ist schlau. Guck mal, das habe ich ihr schon alles beigebracht!"
Damit rauschte sie in die Höhe, beschrieben verschiedene Kurven, variierten im Tempo und brausten an uns vorbei nach unten, wiederholten alles, schlingerten wieder einige Meter hoch, nahmen neue Bögen in Angriff. Wilfriede jauchzte ununterbrochen Kommandos.
Ich strich über Astrids Haar. Kaida raste mitten durch eine Gruppe ihrer Rudelmitglieder. Die grauen Schuppen verschwanden hinter roten, gelben, grünen, blauen.
„Ich... es tut mir leid. Ich hätte nicht..."
Das Bewusstsein verlieren sollen. So viele Dinge übersehen dürfen. Zweifeln sollen. Zulassen dürfen, was Sturmpfeil angetan wurde.
Ich hätte die Wendungen erahnen, besser handeln müssen. Die Spielchen schneller durchschauen sollen.
Aber vor allem hätte ich verhindern müssen, dass dich sowas ereilt.
Astrid schüttelte leicht den Kopf.
„Denen sollte es leidtun."
Schweigen. Bildete ich es mir nur ein, oder spannten sich ihre Muskeln an?
„Denen wird es leidtun."
Irgendwo unter uns kollidierten zwei Geschosse unter lautem Donnern. Am Rand des Rauches blitzte das Meer kalt, als wären seine Wellen eisige Wiederklänge ihrer Worte.
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Frohes neues Jahr! Ich wünsche euch allen, dass es besser wird das vorherige!
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