
(24) Dämmerung
Valka
Diese Welt war klein. Winzig im Schatten der Großen, die sie zustande gebracht und nicht hatte halten können.
Zwei Vögel haschten einander hinterher. Für einen Moment schienen ihre Schwingen den Fels blinzeln zu lassen, dann schwirrten sie weiter. Alles schwirrte weiter.
Auch ich war weitergeschwirrt, von dannen gesegelt.
Jetzt stand ich still, hoffte, die Welt würde mich vergessen und allein weiterwandeln.
Sie hatte es schon einmal getan.
Unter seinem wachsamen Blick straffte ich die Schultern. Grauer Stein, Gebirgsmark. Mir fiel nichts ein, was besser geeignet gewesen wäre. Würdiger.
Haudraufs Profil im Herzen seiner geliebten Insel, an dem Ort, wo die große Veränderung gewurzelt hatte; dem Krähenkliff.
Gemetzt in Material, das seiner Sturheit in nichts nachstand, das schützte, nicht klein zu kriegen war und alles zusammenhielt, wenn man es nur ließ.
Ich hatte ihn nicht gelassen.
Ich war nicht zurückgekehrt, hatte nicht eine der unendlich vielen Möglichkeiten ergriffen.
Ja, diese Welt war klein, aber die Entfernungen waren groß.
„Es tut mir so leid."
Damit meinte ich alles und bewirkte nichts.
Das Denkmal war Hicks' Idee gewesen. Ich hatte Skizzen dafür quer über seinen Schreibtisch verstreut gefunden.
Eret wiederum hatte mich gefunden, halb über einen unter wirren Entwürfen vergrabenen Tisch gelehnt, die Hände gefüllt mit trockenem Papier, die Augen mit schmerzenden Erinnerungen.
„Valka, es gibt da ein... äh... Problem."
„Sag Sven, dass er für seinen Zaun endlich die längeren Nägel nehmen soll. Das ist jetzt das vierte Mal, dass die anderen nicht halten."
„Habe ich schon."
Unten wurde etwas genuschelt, was verdächtige Ähnlichkeit mit 'an die hundert Mal' aufwies.
Seine Stimme war wieder lauter geworden:
„Aber darum geht es diesmal- Wo bist du überhaupt?"
Ich hatte wirklich versucht, mich zu lösen. Aber die Leere in dem verlassenen Raum hatte mich für sich beansprucht und alles Andere verdrängt, bis ich mit ihr zu einem Standbild der Einsamkeit verschmolzen war.
„Valka! Wir brauchen wirklich ganz dringend wen mit- Was machst du da eigentlich?"
Dem Wunsch erliegen, ebenfalls zu Kohlestrichen auf Pergament zu verblassen, um die gestohlene Zeit zurückzugeben.
„Valka- weinst... weinst du?"
Als sein Schatten über Haudraufs Gesichtszüge gefallen war, hatte mich die Leere ausgespuckt.
„Was? Nein. Nein. Staub."
Ich hatte wirsch geblinzelt, doch das hier war definitiv nicht so einfach zu verscheuchen gewesen wie Staubgespinste. Es haftete auch jetzt noch an mir.
Eret hatte zu einer Erwiderung angesetzt. In diesem Raum war es unmöglich unordentlich gewesen, schwarze Schuppen und Entwurfsskizzen hatten die Dielen gepflastert, Lederreste und kleine Metallteile unregelmäßige Mosaike gebildet. Aber verglichen mit der großen Halle, den Sägewerken und den Drachenställen hatte es auffällig an Staub gemangelt.
Dann hatte er gesehen, was ich umklammert gehalten hatte.
„Oh."
„Wen braucht ihr?"
„Hm?"
„Du sprachst von einem Problem. Ihr braucht jemanden mit...?"
„Ach ja. Jemanden mit einem Händchen für Drachen."
Das letzte, was ich gebraucht hatte, war ein Scherzkeks. Meine Augenbraue hatte sich steil in die Höhe gezogen.
„Das ist Berk."
Er hatte einen Moment gebraucht, um meine Aussage zu begreifen.
„Äh, also, ich meinte, jemanden, der gut mit Drachen umgehen kann und Berk nicht auf Nimmerwiedersehen verlassen möchte."
Er hatte sich auf die Lippe gebissen, kaum war sein Satz beendet gewesen.
„Ähm... Ich meine... Also... Du kannst doch sicher gut mit Donnertrommlern um, oder?"
Alle Menschen und Drachen hatten sich in ihre Hütten gezwängt, die Türen verrammelt und die Fenster eilig zugenagelt.
Nur ein kleiner Junge hatte auf dem Weg mit Steinen gespielt. Seine Mutter hatte ihn unsanft hochgezogen und in den Schutz ihres Hauses verfrachtet. Als sie Eret und mich erblickt hatte, hatte sie sich erleichtert aufs Herz gefasst: „Odin sei Dank!"
Dann war die Tür mit lautem Krachen zugeflogen.
Ich hatte Berks Hafen noch nie so verlassen gesehen.
Oder derart leise. Die Schiffe hatten friedlich im Einklang mit den Wellen gedümpelt, leises Schwappen hatte die Bucht erfüllt.
Nur zwei Donnertrommler hatten sich auf den Stegen gesonnt.
Auf einem Schiff hatte es laut gerumpelt. Die beiden Wasserdrachen waren aufgeschreckt. Ein dritter war schnellstmöglich übers Deck gewatschelt, hinter ihm polternde Fassstapel.
Ich hatte die Luft angehalten, als sie mit unglaublicher Geschwindigkeit losgedonnert waren. Kurz, bevor der grünliche Drache noch platter gewälzt worden war, hatte die Luft geplärrt. Fisch und geborstenes Holz waren über die Anleger geregnet, aber dem Drachen war es gut gegangen. Das violette Exemplar hatte resigniert den Kopf geschüttelt.
„Das ist das Problem?"
Eret hatte entschuldigend die Hände gehoben.
„Als sie aufgetaucht sind, ist blanke Panik ausgebrochen. Keiner wollte mich genauer aufklären."
Ich hatte leise geseufzt. Der Tag war immer besser geworden.
In Ermangelung sinnvollerer Ideen waren wir den Weg über den Steg angetreten. Und außergewöhnlich gefährlich hatten die drei nicht ausgesehen- für Donnertrommlermaßstäbe.
„Moment mal. Siehst du das auch?"
Eret hatte auf den blaugrünen Drachen gezeigt, dank dem meine Zöpfe mit Fischschleim und Fasssplittern gespickt waren.
„Wieso hat der eine Kiste am Bein?"
„Weil", hatte ich gelächelt, als ich den länglichen Gegenstand erkannt hatte, „manche Drachen den Weg nach Hause kennen."
Seitdem waren fünf Tage vergangen. Ungefähr. Möglicherweise auch erst fünf Stunden. Oder bereits Jahrzehnte.
Für mich und ihn spielte es keine Rolle.
Hier spielte es keine Rolle.
„Du hast dir wirklich eine feine Schwiegertochter ausgesucht."
Der Stein sah mich an. Sah über mich hinweg.
Ich sollte zurückgehen. Seit der Einweihung musste viel Zeit vergangen sein.
Stattdessen setzte ich mich neben den Tümpel, beobachtete, wie sich die wellengekräuselten Sonnenstrahlenspiegelbilder in dem gigantischen Bart brachen.
Die Zeit war schon verloren. Aufgebraucht. Ich hätte viel, viel mehr von ihr in Anspruch nehmen können.
Eret hatte mir dennoch auf die Schulter geklopft und gemeint: „Bis zum Abendessen werde ich wohl durchhalten."
Gestern hatte ich nicht gewusst, ob ich seinem Abbild überhaupt für die Dauer der Zeremonie gegenüberstehen konnte. Vorhin war alles andere verblasst, und von da an hatte ich den Blick nicht mehr abgewandt.
„Ich glaube, du würdest gern hören, was sie geschrieben hat."
Aber ich holte das Blatt nicht hervor. Ich dachte nur an das, was von ihren Worten noch durch meinen Geist spukte.
Die Worte formten sich von allein.
„Bing, Bamm und Bumm sind wieder da. Astrid hat sie getroffen. Aber keine Sorge, sie haben sich tüchtig entwickelt. Wir müssen nur ein paar Fässer ersetzen."
Warum legte sich meine Stimme so dickflüssig in das kleine Tal?
„Vielleicht hat Grobian das auch schon."
Mir fiel der genaue Wortlaut wieder ein.
Bitte nicht in Panik ausbrechen! Sie sind ruhiger geworden!
Erst danach kam die Anrede.
Jetzt lag das Schriftstück doch in meinen Händen. Das Wachs machte es ungewöhnlich schwer. Oder es kam mir nur so vor.
„Liebe Valka, die drei Donnertrommler hier heißen Bing, Bamm und Bumm. Und ja, die Namen stammen von den Zwillingen. Da jetzt auf Berk sicher der Ausnahmezustand herrscht, hier die Kurzform: Die drei waren sehr jung und haben ihre Namen sehr ernst genommen. Nur dank Haudrauf..."
Diese zwei Worte waren schwer zu lesen, denn die junge Frau hatte sich alle Mühe gegeben, sie wegzuwischen. Über den Erfolg ließ sich streiten.
„Das Gute daran ist, dass ich ziemlich sicher sein kann, dass das hier nicht in irgendwelche neugierigen Hände gerät.
Bisher geht es uns gut. Die Drachen sind wohlauf, nur ein bisschen übermüdet. Sturmpfeil wirft mir vorwurfsvolle Blicke zu, weil ich dir schreibe, anstatt zu schlafen. Allerdings werden wir die zwei Wochen um einiges überschreiten. Moira redet nicht viel, und wenn sie etwas sagt, verstrickt sie sich immer tiefer in Widersprüche, aber ich habe das Gefühl, dass wir noch am Anfang stehen. Trotzdem, wir haben einen weiteren Hinweis gefunden, nur sagt der leider nichts Nützliches aus. Dafür haben wir bereits mehrere Auseinandersetzungen mit Drachenjägern gehabt. Zu viele, als dass es mit den Rätseln nicht etwas Größeres auf sich hat, als Moira zugeben möchte. Bei ihr bin ich mir momentan auch bei nichts sicher. Da stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Hicks sieht das anders, ich hoffe, dass ihn das nicht irgendwann teuer zu stehen kommt.
Langweilig wird uns jedenfalls nicht so schnell. Euch auf Berk bestimmt auch nicht. Ich freue mich jetzt schon, zu sehen, wie sich alles verändert hat, wenn wir zurückkehren. Apropos: Ich habe Sturmpfeil vorhin als Entschädigung versprochen, dass sie auf meinem Dach ihre eigene Landestange bekommt und ich den zerfallenden Schuppen in eine Box umbaue. Also, bevor ihr übrige Bretter wegschmeißt, packt sie bitte neben meine Hütte. Danke!
Die drei Wildfänge da haben übrigens eine Vorliebe fürs Plantschen. Möglicherweise hilft das, die hysterischen Wikinger zu beruhigen... oder es verscheucht sämtliche Fischschwärme in Berks Umgebung.
Richte Eret bitte unseren Gruß aus.
Bis bald, Astrid.
Oh, und liebe Grüße von Hicks. Er sieht gerade so müde aus, wie ich mich fühle."
Er sagte nichts. Kein müder Kommentar gab seine Gedanken preis.
Stirnrunzelnd hob ich den Blick.
„Hau-"
Natürlich.
Räuspern versuchte, den kalten Klotz aus meiner Kehle zu erweichen.
Ich sollte wirklich zurück.
Da gab es nur noch eine Sache zu klären.
„Du weißt, dass ich wünschte, wir hätten mehr... mehr Wir gehabt."
Meine Stimme sackt weg.
Loslassen, Valka. Du musst loslassen.
„Aber..."
Mein Herz brach wieder. Ein Kreislauf. Flicken und Brechen, stündlicher Takt.
Durchatmen. Wegatmen. Freiatmen.
„Aber,", füllte der Ton klingend das Tal aus,
„ich habe trotzdem das Richtige getan."
Wenn ich zurückgekommen wäre, wären wir daran zerbrochen. Die Welt war nicht bereit gewesen.
Und er hatte mich nicht geheiratet, weil ich besonders nachgiebig war. Oder hilflos.
„Und wir hatten eine wunderbare Zeit. Und ich vermisse dich. Aber..."
Ich stand auf, stellte mich dem unnachgiebigen Blick.
„Aber ich bereue es nicht."
Als ich ging, fühlte es sich an, als würde das Bildnis in meinem Rücken lächeln.
Es war, als liefe ich über die hauchdünne Haut, die den brodelnde Magmasud im Rachen eines Vulkans bedeckte.
Außerhalb des Krähenkliffs verspannte sich die Erde, Vögel kreischtrillerten in heller Aufruhr, Sonnenstrahlen spießten in den Boden, forderten stumm, dass man an ihnen emporklettern und sich in Sicherheit bringen möge.
Das Herbstlaub der Bäume loderte rauschend, das Meer zitterte angespannt, wagte nur zaghaft, über den Strand zu lecken. Und der Himmel war so stumm, vernebelte am Horizont in furchtsamem Warten.
Die Strecke durch den Wald legte ich im Sprint zurück, in Flucht vor unsichtbaren Händen, im Versuch, nicht zerdrückt zu werden.
Schattenfratzen befleckten die zertrampelten Pfade, Licht krallte sich an alles, was ihm erreichbar war.
Die ersten Hütten schnitten den Wald ab. Ich jagte über ihre Grenze, die Unruhe packte mein Herz. Gras grapschte panisch nach meinen Schuhen, Stimmgewirr fraß sich in meine Ohren.
Schneller, schneller, schneller! Wir hatten nicht viel Zeit, ich durfte nicht zu spät sein.
Drohend fauchten ungeölte Scharniere. Kälte kroch meinen Rücken empor. Schweiß überzog rüstungsgleich meine Hände. Der Horizont ballte sich zusammen, die Schicksalsfaust holte aus.
Ich musste zu meiner Hütte, musste alle warnen, musste Wolkenspringer satteln, musste zu-
„Eret!"
Überrascht drehte er sich um. Sein Blick war viel zu unwissend. Wie konnte er ruhig bleiben?
Wie konnten sie alle so friedlich umherschlendern? Merkten sie es nicht? Sie mussten es doch spüren!
„Valka?"
Verdammt, wie langsam konnte man sich überhaupt bewegen? Er sollte seine prangenden Muskeln gefälligst sachgemäß benutzen!
„Ich dachte, du würdest... Was ist denn los?"
Alles war los. Aber irgendwie war hier jeder blind.
Ungläubig blieb ich stehen. Meine Lunge pfiff, mein Herz pfefferte gegen seinen Knochenkäfig, hinter mir türmte sich eine gesichtslose Gefahr auf, drängte immer weiter gegen meinen Rücken.
„Was los ist?"
Umgreifend gestikulierte ich. Himmel, Hütten, Wikinger, Boden, Horizont, alles bezogen die Schleifen mit ein. Ich sah sie brennen, sah sie alle von Schatten zerfleischt werden.
„Es..."
Es blieben Himmel, Hütten, Wikinger, Boden und Horizont. Sie hatten sich nicht im Geringsten verändert. Noch nicht.
„Ja?"
„Es..."
Aber etwas war anders. Etwas hatte sich verändert.
„Valka?"
„Bekommst du das wirklich nicht mit?"
Besorgt zog er die Augenbrauen zusammen.
Ganz toll.
„Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber vielleicht solltest du heute lieber-"
„Mir geht es gut."
„Wirklich, niemand hier würde es dir übel nehmen. Im Gegenteil, sie werden alle vollstes-"
„Welchen Teil von 'Es geht mir gut' hat dein Kopf nicht aufnehmen können?"
Die Runzeln auf seiner Stirn wurden tiefer.
Ich hatte mich gehörig im Ton vergriffen. Nicht hilfreich, wenn er an meinem Zustand zweifelte.
„Nimm dir die Zeit. Das ist in Ordnung."
Die Stirn war wieder glatt. Aus seiner Stimme sprach Mitgefühl.
Ich schnaubte frustriert.
„Das hat nichts mit Haudrauf zu tun."
Er glaubte mir nicht. Natürlich glaubte er mir nicht. Hätte ich an seiner Stelle auch nicht- Wenn sich die Luft nicht zum Explodieren gespannt hätte.
„Eret, bitte. Du musst mir vertrauen. Etwas Großes hat sich in Gang gesetzt. Uns steht irgendwas... irgendwas sehr Wichtiges bevor. Wir haben nicht viel Zeit, um uns darauf vorzubereiten."
Er schüttelte den Kopf. Schön, dann musste ich es eben ohne seine Unterstützung schaffen.
Wortlos stürmte ich weiter, mahlende Kiefer schnappten hinter mir ins Leere. Nein, noch würde ich mich nicht erwischen lassen. Ich hatte noch eine Chance.
Und da schwang sie gerade grinsend den Schmiedehammer, ein Metallzahn leuchtete im schwelenden Schein der Esse.
Ich wirbelte durch die Menge vor der Schmiede, stand schneller neben ihm, als ich realisieren konnte.
„Valka? Was machst'n du hier? Dachte, ich würd' dich heut' nich' mehr sehn."
„Ich brauche deine Hilfe."
Sein Bart hüpfte überrascht.
„So? Was'n los? Sind die Jungspunde zurück?"
„Nein, ich-"
„Ach, schade. Ich bräucht' echt 'ne Astrid, die Sven zeigt, wo der Hammer hängt. Zweihundert Nägel in zwei Tagen! Dem haben die Kobolde auch wat ins Met gemischt."
Grummelnd prügelte er weiter auf das glühende Metallstück vor ihm ein.
„Und Mehltau bräucht' mal wieder 'ne Lektion à la Zipperart."
Sein Blick schweifte über die Menge vor ihm. Als er darin den alten Herrn erblickte, hob er die Stimme: „Wenn du wieder wegen der Rüstung für dein Schafvieh hier bist, kannste gleich gehn! Nächste Woche vielleicht!"
Mehltau antwortete, aber seine Worte gingen im allgemeinen Getöse unter. Seine Gesten machten trotzdem alles deutlich.
„Alter Knausersenkel. Als gäb's nicht genug zu tun."
Zischend tauchte das glühende Objekt durch die Wasseroberfläche.
„Grobian, es ist soweit."
„Seit wann kannst'n du schmieden?"
„Ich meine nicht deine Türklinke, sondern..."
Wenn ich es nur in Worte fassen könnte.
„Sondern die Zeit."
„Wofür?"
„Für..."
Die Luft in der Schmiede schien zähflüssig zu werden, Hitze faltete sich in den Schatten zusammen, die Essenkohle züngelte ängstlich hoch, fiel knisternd in sich zusammen.
Wieder wetzte mein Herz los, wieder spannte ich erwartungsvoll die Beine an, damit ich jeden Moment losspringen konnte.
Wieder verdichtete sich alles auf die nahe Zukunft, zog sich zu ihr hin. Es gab kein Entrinnen.
„Du siehst nich gut aus. Nimm dir den Tag mal frei, wenn Eret damit 'n Problem hat, soll er zu mir kommen."
„Eret hat damit kein Problem, aber darum geht es nicht. Wir schweben in Gefahr."
Sofort verfinsterte sich sein Gesicht.
„Den' werd' ich 'ne Ansage machen. Trau'n sich was, jetzt hier anzutanzen. Muffel, wir müssen ein paar Drachenjägern die Segel rasieren!"
Er wandte sich seinem Sattel zu.
Aus einem Reflex heraus griff ich nach seinem Arm. Verwundertest er mich an, verwirrt starrte ich zurück. War das nicht genau das, was ich erreichen wollte?
Dennoch fühlte es sich falsch an, ihn nach Drachenjägern suchen zu lassen, auf die gleiche Weise, wie es sich falsch anfühlte, untätig zu bleiben.
„Nein, warte. Das sind keine Drachenjäger. Jedenfalls keine... keine wie sonst."
Sein Blick wurde noch finsterer.
„Was hast'n du dann gesehen?"
„Ich... nichts."
„Nichts?"
„Nein, nichts. Aber ich kann es spüren."
Und zwar so deutlich, dass er es auch fühlen müsste.
„Du spürst Drachenjäger?"
„Ich spüre eine Gefahr. Bitte, Grobian, du musst mir glauben! Irgendwas Enormes steht uns unmittelbar bevor."
„Valka..."
„Die ganze Insel ist unruhig! Nur ihr nicht, fällt dir das gar nicht auf? Kein Luftzug, das Vieh versteckt sich, die Vögel kreischen, die Drachen tänzeln nervös auf der Stelle. Uns läuft die Zeit davon, wir müssen uns wappnen!"
„Bist du dir sicher?"
Bei Thor nochmal!
„Ja."
Grobian musterte den Himmel.
„Sieht nach 'nem verspäteten Hitzegewitter aus."
Mein Magen rebellierte. Ich stand zu lang untätig herum.
Vergeblich, offenbar.
Und jetzt? Mir fiel niemand mehr ein, der mich verstehen würde, wenn selbst Eret und Grobian meine Warnungen leichtfertig abtaten.
Doch. Einen gab es noch. Einen, der mich besser kannte als die meisten hier und nicht zweifeln würde.
„Hey, wo willst'n du jetz' hin?"
Zum Stall, so schnell ich konnte. Der Himmel verwelkte allmählich zu einem dünnen Orange, die Sonne fing schon an zu bluten. Aus dem nebligen Horizontbangen schraubten sich Wolkenberge in unsere Richtung.
Der Boden flog nur so dahin, jeder Schritt hallte knallend wieder. Ohne zu bremsen riss ich die Stalltür auf, fegte zu Wolkenspringers Box. Erwartungsvoll beobachtete er, wie ich mich gegen den verflixten Riegel stemmte. Ausgerechnet heute musste das Teil klemmen!
Endlich sprang er beiseite, Wolkenspringer stieß die Tür auf. Und dann waren wir plötzlich in der Luft, brausten um Gothis Hütte und der Sonne hinterher. Vorwärts, einfach nur vorwärts.
Der reißende Flugwind war so viel angenehmer als die erzwungene Ruhe und die Dumpfheit Berks. Lieber ertrank ich hier oben in dem Farbenbad, verbrühte mich am Signalfeuer der Nacht. Breit und kräftig beanspruchte es den blauen Zunder, zog gleißende Rauchschwaden hinter sich her, sprang gar auf die Wellen über. Wolkenspringers Schuppen reihten sich mit natürlicher Intensität in den Himmelsbrand ein, meine eigene Haut flammte in sattem Orange auf.
Hier fühlte ich mich richtig. Hier, in Bewegung, in der schmalen Schlucht zwischen allen Gewalten dieser Welt. Hier, wo ich das Fitzelchen Unmöglichkeit sein konnte, das zwischen Tag und Nacht spross, in kaltem Feuer gedieh, sich aus Luft und Wasser zehrte, das Land verschmähte und auf der Flucht vor der Gegenwart seine Bestimmung in der Zukunft fand.
Wind flutete auf, Wellen wuchsen langsam heran, meine Nervosität sickerte zu milder Gewissheit. Wir waren auf dem richtigen Weg, allmählich fanden wir in die vorgesehene Spur zurück.
Bald. Bald war es soweit. Das hier war die Kante der Welt, nur ein Umschlag trennte uns von dem, was wir zu sein geboren waren.
Kalte Luftströme flossen unter die Schichten meines Kleides. Wie Federn flatterte es, so leicht und kraftvoll. Wolkenspringer katapultierte uns energischer nach vorn, zielte auf die Spalte zwischen dem roten Glutball und der ruhigen Kühle des ersten Sterns.
Der erste Stern. Er sah zurück, nickte mir zu. Bestätigte unseren Flug.
Jetzt Vorwärtsgang. Auf nach dort, wo alles war und nichts länger wartete, weg von dort, wo alles wartete und nichts länger war. Voran. Voran zur Unendlichkeit, voran zur Erfüllung, voran zur Wirklichkeit.
Auf nach dort, wo wir sein sollten, wo wir sein durften. Wo wir vollkommen waren. Wo es kein Zurück mehr gab, die Macht aller Zeiten sich vereinigte, die Grenzen verschwanden, sich alles neu formte und gesünder emporblühte. Ohne Angst, ohne Sorge, ohne Zweifel. Auf nach dort, wo das Leben zischte und blinkte, wieder alles stimmte, nichts verloren ging.
Wo Hass und Tod zu Licht und Atem verschmolzen.
Alles in mir rief, drängte, flehte. Meine Seele vibrierte in ihrem Grund. Nicht mehr lang. Ich klopfte auf die Schulter meines langjährigen Freundes. Er gurrte. Ein Versprechen ohne Worte.
Ein Versprechen bis zum Schluss.
Stärkerer Wind wusch die abendlichen Kringelböen davon, wälzte seinen massiven Wolkenteppich aus. Schwerer als Pech verklebte er die Lichtstrahlen, fraß sich über die Welt. Der Stern erstickte in rauchgrauer Brunst. Das war nicht gut, gar nicht gut.
Wie ein sich langsam schließendes Grab schob die Masse ihren düsteren Dunst über uns. Der Grad, auf dem ich mich eben noch willkommen gefühlt hatte, schrumpelte zusammen, klemmte uns ein. Die Wellen schaukelten höher, erste Gischt sprühte auf. Schatten wucherten den Horizont hinauf, gerade noch strahlendes Wasser wurde blind und seelenlos.
Der Wind puppte zu einem jungen Sturm, zerrte uns zurück nach Berk.
Wolkenspringer klappte die Schwingen auseinander. Wir konnten nicht zurück. Nicht so früh. Dort draußen wartete es auf uns, lockte ungeduldig, dass wir es endlich fanden.
Und wenn mein Federkleid zitterte und spannte, wenn meine Flügel jeden Moment ausrissen, es war es wert.
Schubweise gruben sich die Flughäute in die Sturmschlacke, peitschten uns verbissen nach vorn. Seine Schuppen standen nach wie vor in Flammen, die Sonne schüttete all ihre Kraft auf uns nieder. Schwertgleich jagten ihre Arme unter die Wolkenmonsterdecke. Bildeten fächernde Wege. Setzte die dunkelgrauen Gewitterbäuche in Glut, zersprang am Meeresspiegel zu Diamantfunken.
Sie baute uns ein Plateau, ein Sprungbrett, von dem aus wir das nebelhafte Erdrosselungsgetüm durchstießen, uns durch Gewitterdickicht nach oben bohrten. Bedrohlich bemächtigten sich die Schleier meines Atems, wollten mich fetzenweise ersticken. Meine Sicht trübte sich, Wolkenspringers Kopf versank in undurchdringlichem Grau. Es war kalt, Nässe riss an mir, wollte mich vom Himmel schleudern, in ihren salzigen Gruften bestatten.
Der gärende Sturm stach, schlug, kratzte, wo er nur konnte. Astrids Brief fiel schlotternd seinen Klauen zum Opfer. Feixend schmiss er ihn herum, presste ihn zusammen und peitschte ihn glatt.
Und dann formte sich aus dem malträtierten Pergament ein Kopf, Runen flochten sich zu Augen, Lippen und Nase, schwarze Schwaden überlagerten zu einem langen Zopf. Moira flog neben mir, wirbelte mit harter Mine umher. Tiefes Feuer flammte in ihren Augen, durchzogen von ewigen Schatten. Sie sah mich an, sah durch die Wolkenmasse. Ihr Zopf löste sich auf, kinnlange Strähnen schwammen über ihre Wangen. Die Härte grub sich stärker in ihre Züge, Narben von Wille und Verzweiflung. Das Geflecht unaufhaltbarer Entschlossenheit.
Mit ihr stimmt etwas ganz und gar nicht, hatte Astrid erwähnt. Sie wäre eine Gefahr, sie sollten ihr nicht vertrauen.
Ich wusste, dass die Kriegerin sich irrte. Es musste ein Missverständnis sein, denn Moira würde sie nicht verraten oder belügen. Man konnte ihr nicht nur vertrauen, man musste.
Ich wusste es, ich spürte es, wie ich spürte, dass die Welt bald kippte, wir bald die Kante passierten.
Nochmal änderte sich ihre Erscheinung, wurde fahl, schien dann von innen her zu leuchten, flog über uns. Eines ihrer Augen verdunkelte sich, zerfloss wieder zu Runen, löste den restlichen Zauber. Das Pergament rauschte davon, an seine Stelle trat ein heller Stern. Der Polarstern.
Wir hatten die Wand durchbrochen.
Schwerelosigkeit ergriff Besitz von mir. Oder nein, ich wurde zu Schwerelosigkeit. Über uns öffnete der Nachthimmel schläfrig seine Augen, vor uns legte sich ein glutroter Bogen im Meer zur Ruhe, deckte sich mit Gewitterdaunen zu. Die letzten Lichtdolche tünchten die Masse unter uns rötlich, befleckten die Schlachtbank mit dem Blut der kommenden Opfer.
Wir glitten über das Blutmeer, über uns unendliche Weite. Freiheit pirschte um uns, trug Wolkenspringers Schwingen. Ich fröstelte, Flugwind und dunstfeuchte Kleider vertrugen sich nicht gut. Doch das Kribbeln stammte nicht von den Temperaturen, im Gegenteil. Es heizte meine Muskeln, hüllte mich in wohlige Wärme. Schauer liefen über meinen Rücken, fast wie Vorfreude.
Ein Stück noch, versprachen die Sterne. Ein Stück noch bis zur Erfüllung.
Wir waren fast am Ziel.
Die Sonne verschwand, als die Nacht gänzlich erwachte. Ich glaubte nicht, dass die Sterne je so kraftvoll gestrahlt hatten, dass die Dunkelheit sie je so prunkvoll geziert hatte.
Die Wolken wurden dichter, falteten höher. Die Sterne verschwammen. Kein gutes Zeichen.
Wir mussten runter. Schnell.
Wolkenspringer tauchte ab, ehe ich ihm ein Zeichen geben konnte. Wieder drängte das matte Schwarz auf uns ein, doch diesmal half es uns freudig, schob uns nach unten. In der Ferne grummelte es hämisch.
Wolkenfetzen fledderten unter seinen Flügeln, Gischt sprühte uns entgegen. Das Meer wogte. Wind schlug Wände, drängte gewaltsam in die Richtung, aus der wir kamen.
Der erste Blitz brach sich in den Fluten, schnitt Silhouetten aus dem Horizont. Schiffe, unzählige Schiffe. Der zweite Blitz ließ die aufgespießten Drachen auf den Segeln qualvoll krampfen.
Ich hatte dieses Wappen nie gesehen und kannte es doch. Es versprach Tod, einen sicheren, gewissenlosen Tod.
Und der Wind führte ihn nach Berk.
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3899 Wörter
Liebe Lerser*innen,
ich kann versprechen, dass es jetzt (endlich) zu dem kommt, worauf ihr sicher alle gewartet habt.
Das stellt für mich allerdings eine riesige Herausforderung dar, denn ich habe viel für diese Szenen geplant und weiß nicht, ob ich das alles so umsetzen kann, wie ich es gern möchte.
Daher werden die Updates leider erstmal in recht großen Abständen kommen.
Außerdem möchte ich an dieser Stelle um Feedback bitten. Es geht mir nicht darum, irgendeine Platzierung zu erreichen oder Kommentare zu hamstern, sonder einfach darum, dass ich weiß, wie das, wofür ich einen guten Teil meiner Freizeit verwende, bei euch ankommt.
Denn ehrlich, wenn man insgesamt mindestens zehn bis zwölf Stunden an einem Kapitel arbeitet und fast keine Rückmeldung bekommt, fragt man sich, ob es die Mühe wert ist.
Natürlich schreibe ich Sternenfluch auch für mich, aber (mittlerweile) kenne ich den Plot und mehr oder weniger die gesamte Handlung. Dazu kommen viele andere Ideen für Geschichten, sodass ich immer wieder überlege, Sternenfluch auf Eis zu legen und mich voll und ganz diesen zu widmen.
Ich kann nicht behaupten, dass ich komplett leer ausgehen würde, aber wenn aus über 850 Reads, also ca. 28 Lesern pro Kapitel, höchstens, und wirklich höchstens, fünf eine Rückmeldung geben, sind das nichtmal 18%. Was an sich erstmal mehr als 15% ist, aber wenn diese fünf Leute mal verhindert sind, ist es echt still. Was schriftliches Feedback betrifft, ist es sogar (im Schnitt) nur eine Person von 30. Der bin ich im übrigen für jedes Wort dankbar, das sie schreibt.
Und ja, das frustriert. Und ja, manchmal frage ich mich auch, ob ich die Zeit lieber anders nutzen sollte.
Bitte, teilt mir einfach ab und an mit, ob ihr etwas gut findet oder nicht. Ich weiß aus Erfahrung, dass das nicht weh tut und ich verurteile auch niemanden, wenn er Kritik äußert.
Ansonsten: Ja, das Foto ist von mir. Bearbeitet mit PicsArt.
Liebe Grüße, Hektorianja
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