(2) Vertrauen
Moira
Es war ein undurchdachte Notfalllösung gewesen, sonst wäre die dunkelgraue Wolke nicht auf der unscheinbaren Insel gelandet.
Es war eine undurchdachte Notfalllösung gewesen, als ich zu Nira gerannt war.
Es war eine undurchdachte Notfalllösung gewesen, die Rächerin wieder zu beleben.
Teilnahmslos und kalt lag der Armschutz in meinen Händen. So, wie der Charakter der Rächerin sein sollte.
Weiß und freundlich war er anzusehen. So hatte die Bedeutung des weißen Wesens sein sollen.
Ich hatte Licht in die Dunkelheit der Verzweiflung bringen wollen, wollte den Glauben an die Gerechtigkeit erhalten und die Hoffnung der Menschen stärken.
Damals war ich elf Jahre alt gewesen, also praktisch noch ein Kind.
Man könnte sagen, dass ich mir mit der Rächerin meine Kindheit genommen hätte, doch von der hätte ich auch so nicht viel mitbekommen, sie war quasi vorbei, als meine Mutter und ihre Freunde Berk erreicht hatten. Endgültig beendet war sie allerdings erst, als Nira und Kjell sich gegen die Rächerin verschworen.
Aber dafür hatte sich nie jemand interessiert und ich vermisste sie nicht. Wie konnte man etwas vermissen, was man kaum kannte?
Trotzdem war ich ein Kind gewesen. Das zeigte die Größe des Armschützers überdeutlich. Früher hatten sie mir wie angegossen gepasst, jetzt würde ich mir mit ihnen die Hände abschnüren.
Insgesamt fand ich vier weiße Rüstungen in der Kiste, alle unterschiedlich groß. Nur die kleinste hatte ich zusammengebastelt. Dafür hatte ich so ziemlich alles verwendet, was ich damals in die Finger bekommen hatte; Stöcke stabilisierten die Rückenplatte, am Brustbereich waren kleine, flache Steine, Münzen und weggeworfene Metallteile zum Schutz angebracht. Alles war mit dicken, mittlerweile vom Staub grau gefärbten Spinnweben der Seidenspanner überzogen.
Mit einem Seufzen dachte ich daran, wie pingelig ich darauf geachtet hatte, dass auch absolut jede Stelle strahlend weiß war. Naiv war ich gewesen, hatte in allem das Gute sehen wollen.
Ihr gegenüber hatte ich nie ein Wort darüber verloren, hatte mein Geheimnis ganz allein für mich behalten. Jetzt im Nachhinein wurde mir klar, dass meine... ja, was war sie überhaupt für mich? Eine dritte Mutter? Meine zweite Adoptivfamilie? Eine Vertraute?
Ich war mir nicht sicher. Aber Selma hatte vom ersten Auftritt der Rächerin an gewusst hatte, wer hinter der Maske steckte.
Nach meiner Gefangennahme hatte sie kontinuierlich eine neue Rüstung in der Größe gebaut, die sie glaubte, dass ich sie zu dieser Zeit hätte. Die neueste war mir nur minimal zu groß.
Sie hatte gewusst, dass ich wiederkommen würde, dass die Rächerin doch noch nicht gestorben war. Anscheinend hatte sie recht gehabt, auch wenn ich ihr vor ein paar Tagen noch äußerst lautstark widersprochen hatte.
Diesmal war das Verschließen der Truhe endgültig. Aus der stets weiß gekleideten Rächerin war eine schwarze Kriegerin geworden. Noch einmal hatte sich die Legende erhoben, jetzt würde ich meiner Vergangenheit ein für alle mal den Rücken zudrehen.
Jetzt war ich nicht mehr das naive Mädchen, das glaubte, die Welt verbessern zu können.
Jetzt war ich eine Kriegerin, die jeden Fehler nur einmal machen durfte.
Ich hatte dazugelernt. Hatte Dinge über mich selbst gelernt, nicht zuletzt durch den gestrigen Abend.
„Weil sie recht hatten. Es ist soweit."
Selma sah mich durchdringend an, wie vor acht Jahren, als ich ihr meinen Namen sagte. Und auch diesmal hatte mein Name eine wesentliche Bedeutung für das Folgende.
„Weißt du, dass nicht deine Mutter dich benannt hat? Es waren die Sterne, allen voran der Polarstern. Anders als meiner hat dein Name einen tieferen Sinn, Moira.
Er bedeutet: ‚die Widerspenstige', steht aber ebenfalls für ‚Schicksal'.
Und auch Mealla ist kein Zufall.
Blitz.
Sinngemäß zusammengesetzt heißt du also: ‚der widerspenstige Blitz'; Moira Mealla.
Es ist kein Zufall, dass du und Nachtblitz euch getroffen habt. Es war Schicksal.
Mehr darf ich dir dazu nicht sagen. Aber Moira, es tut mir leid."
Sie hatte nicht gesagt, was ihr leid tat. Das Klappen eines Fensters, welches verkündete, dass Kjell überstürzt, undurchdacht und ungeschickt die Hütte verlassen hatte, hatte mich auch vor den zwangsmäßigen Fragen der Drachenreiter bewahrt. Bis auf Astrid, die von selbst dahinter gekommen war, waren alle meine Verbündeten felsenfest der Meinung gewesen, Mealla und ich wären zwei verschiedene Personen.
Kjell hatten wir nicht wiedergefunden. Eine Stunde lang hatten wir gesucht, aber er blieb verschwunden. Vorhersehbar, wenn man mitten in der Nacht suchte.
Zurück in der Hütte hatte Selma uns alle mehr oder weniger zur Nachtruhe gezwungen. Ich war die Einzige, die jetzt, während draußen noch die tiefrote Sonne über den Horizont kletterte, schon wach war.
Sobald alle Anderen wach waren, würde ich eine ganze Menge erzählen müssen.
Ich sah allerdings keine Notwendigkeit darin, ihnen alles zu erklären. Je weniger sie wussten, desto besser für sie.
Das wollte Hicks nur strickt nicht einsehen.
Vielleicht schaffte ich es, ihn wieder auszutricksen. Ich könnte denselben Trick anwenden wie damals in der Höhle: Antworten geben und dann ohne ein Wort verschwinden. Sie würden mich nicht finden können.
Ein leichtes Unterfangen, das meistens funktionierte.
Und ich würde sie damit nicht weiter in Gefahr bringen.
Es war eine harmlose, aber effektive Möglichkeit.
Genau das, was ich brauchte.
Selma würde bestimmt dafür sorgen, dass sie nach Berk zurückfanden.
Also gab es eigentlich keine Nachteile.
Aber warum konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen? Wie oft hatte ich schon Menschen an der Nase herumgeführt, sie ausgetrickst und reingelegt? Toven könnte es mir bestimmt im Detail aufzählen.
Mein Herz war dagegen. Das war das Problem. Denn es sah die Reiter mittlerweile als Freunde an, obwohl ich ihm das mehrmals untersagt hatte. Ich wollte ihnen nicht den Freund vorspielen und sie dann vor den Kopf stoßen. Und selbst, wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es nicht gekonnt. Als würde es eine unsichtbare Barriere geben, die das nicht zuließ. Vor drei oder vier Wochen war es kein Problem gewesen, doch jetzt kannte ich sie besser. Jetzt war zu viel passiert.
Aber jeder, der mir etwas bedeutete, fand sich in der Schusslinie Sungirds wieder. Ich wollte nicht, dass den Berkianern etwas zustieß.
Schon komisch; vor einem Monat hatte ich Berk und alles, was dazugehörte, mehr gehasst als das Leiden Odins, und jetzt bezeichnete ich sie fast als Freunde.
Freunde... Nein, das war etwas, was ich wohl nie haben würde. Nicht nur, weil eine Freundschaft mit mir unglaublich viel Gefahr mit sich brachte, sondern auch, weil meine letzten Freunde mich hatten töten wollen. Und es gerade erneut versuchten.
Er dachte wahrscheinlich, ich würde ihn nicht bemerken, aber ich wusste sogar, dass er einen Dolch mit beiden Händen umklammerte und schon ausgeholt hatte, um ihn mir in den Nacken zu rammen, während ich den Armschützer wieder in die Truhe legte.
„Kjell, wenn du das nächste Mal versuchst, jemanden hinterrücks umzubringen, achte auf deinen Schatten."
Ich warf noch einen letzten langen Blick in die Kiste. Vier Rüstungen, die größte deutlich mit Kratzern übersät und mit einem am Hinterkopf beschädigten Helm. Nira hatte mit meinen Haaren auch den Riemen, der den Maskenhelm an Ort und Stelle gehalten hatte, durchtrennt. Deshalb war sie mir heruntergefallen, als ich etwas mehr Schwung aufgebracht hatte.
Drei weitere Fratzen sahen mich emotionslos mit ihren tiefschwarzen Augenlöchern an. Ein weißes Seil lag ordentlich zusammengerollt obendrauf, ganz unten befand sich eine zweischneidige Axt. Die erste, die ich selbst gebaut hatte und das Zeichen der Rächerin. Leider war ihr Holz schon so morsch, dass ich sie nicht mehr hatte benutzen können.
Mit einem kleinen Lächeln schloss ich die Kiste. Für immer, denn ich hatte nicht vor, sie jemals wieder zu öffnen. Die Rächerin lebte, aber nicht als Geist der Gerechtigkeit, sondern als Teil meiner Vergangenheit.
Ich verschloss die mit Zahnrädern und sonstigem Kleinkram übersäte Kiste, indem ich an bestimmten Stelle drückte und hier und dort mal drehte oder zog. Schließlich öffnete sich ein verborgenes Schlüsselloch mit in ihm steckendem Schlüssel. Diesen zog ich heraus. Ab jetzt würde niemand mehr die Truhe öffnen können. Der uralte Mechanismus meines Stammes klemmte, bis man das fehlende Teil, also den Schlüssel, einsetzte. Mein Lächeln wurde breiter, als ich an Hicks' Gesicht dachte, während ich bei den Schneegeistern die unöffbare Schatulle geöffnet hatte. Tja, er konnte schließlich nicht wissen, dass so gut wie alles hier bei Selma mit diesem Mechanismus funktionierte.
Auch wenn die Truhe verschlossen bleiben würde, würde ich den Schlüssel immer bei mir tragen, schwor ich mir im Stillen. Als Erinnerung und Mahnung. Und, um im Erstfall immer einen kleinen metallenen Gegenstand zu haben.
Erst jetzt drehte ich mich zu Kjell um. Er war erstarrt und hatte seine Augenlider vor Entsetzen weit aufgerissen. Eine einzelne Schweißperle lief seine Schläfe hinab.
„Was ist? Willst du mich nochmal umbringen, aber diesmal endgültig?"
„N-nein, ich..."
„Wie oft willst du mich eigentlich noch töten?"
„Moira, ich... das..."
Warum ich so ruhig blieb, wusste ich selbst nicht. Er hätte mich schon längst töten können, doch stattdessen stand er seit geraumer Zeit hinter mir und rührte sich nicht. Nach den ersten zwei Sekunden hatte ich mich darauf verlassen, dass meine Reflexe mir das Leben retten würden, wenn er sich doch irgendwann zu einer weiteren Handlung entschieden hatte.
Kjell rang mit sich, es sah so aus, als wolle er mir etwas sagen. Und aus irgendeinem Grund wollte ich hören, was er sagen würde.
„Ich dachte, ich hätte dich umgebracht."
Seine Stimme klang bedauernd, aber gleichzeitig auch erleichtert. Er war froh darüber, dass ich noch lebte, wollte mich zeitgleich jedoch erstechen.
Er hatte sich also nicht im Geringsten verändert. Ein Mensch der Widersprüche war er schon immer gewesen.
Händler Johann hatte ihn als ehrlichen Dieb auf diese Insel gebracht, ohne es zu bemerken. Ein blinder Passagier war Kjell gewesen, aber auf ganz legalem Weg, wie er erklärt hatte. Immerhin hätte er Johann dafür unbemerkt ein paar Münzen zugesteckt.
Händler Johann, der Verräter. Kein Wunder, dass Nira bei ihm in die Lehre ging und ebenfalls als Verräterin zurückkam. Oder war sie schon immer eine gewesen?
„Hast du."
„Aber du lebst doch?!"
„Ja, Kjell. Du hast mein früheres Ich getötet. Die naive Moira ist gestorben."
Und mit ihr auch die, die anderen vertrauen konnte.
Anstelle meines Lebens hatte ich diese Fähigkeit verloren. Auch wenn ich die Drachenreiter und Selma vielleicht in gewisser Hinsicht sehr gut leiden konnte, im Ernstfall gab es nur ein Wesen, zu dem ich ohne Zweifel gehen würde. Nachtblitz.
„Ich wollte das nicht. Ich habe mir jeden Tag Vorwürfe gemacht und nachts habe ich von dir geträumt. Ich habe es bereut."
„Leere Worte, wenn man währenddessen versucht, diese Person zu erdolchen."
„Ich will dich nicht umbringen..."
„Dann lass es. Leg den Dolch weg und bleib hier, denn hierher werde ich nicht nochmal kommen."
„Moira, ich muss dich töten. Mach es mir bitte nicht noch schwerer."
„Du hattest eine Minute lang Zeit, mir die Klinge in den Rücken zu rammen. Viel leichter kann ich's dir gar nicht machen."
Kjell hatte das offensichtlich überhört oder schlicht ignoriert.
„Wenn ich dich nicht töte, bringt Sungird mich um. Verstehst du nicht, dass ich dazu gezwungen werde?!"
Wie war Kjell denn zu Sungird gekommen?
Eigentlich dürfte er von ihm gar nichts gehört haben.
Aber viel schien er nicht über den Töter zu wissen.
„Und wenn ich tot bin? Hast du eine Garantie, dass er dich leben lässt?"
„Er lässt mich vielleicht laufen."
So, wie er es sagte, hatte er augenblicklich die Unzuverlässigkeit entdeckt.
„Vielleicht? Sungird lässt nie jemanden laufen. Du stirbst so oder so, sollst aber vorher noch die Drecksarbeit für ihn erledigen."
„Wenn ich die schwarze Kriegerin töte, habe ich eine Chance. Aber ich... ich wusste nicht... ich dachte, sie wäre... irgendwer... Unbekanntes."
Moment. Er sollte die schwarze Kriegerin töten, nicht Moira. Das hieß, Sungird kannte meine Identität nicht.
Warum nicht? Ich war fest davon ausgegangen, dass Nira es ihm gesagt hatte. Hatte sie es vergessen?
Nein, Nira verfügte über ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis. Sie hatte es ihm verschwiegen.
Dass meine ehemalige Freundin nur auf ihrer eigenen Seite stand, war mir bewusst. Aber welchen Vorteil bekam sie, wenn sie meine Identität verschwieg?
Natürlich! Sie wurde unersetzbar. Hätte sie meinen Namen genannt, würde Sungird sie nicht mehr brauchen. Jetzt wusste nur sie, wer ich war. Clever, auch wenn sie bestimmt nicht damit gerechnet hatte, dass sich ihr Schweigen zu meinem Vorteil entpuppte.
„Und warum ergreifst du deine Möglichkeit nicht? Du hast einen Dolch, ich bin unbewaffnet. Mit einem Stich könntest du drei Personen gleichzeitig töten: Moira, die Rächerin und die schwarze Kriegerin. Eine davon sollst du töten, eine wolltest du um jeden Preis entlarven, eine hast du bereits fast des Lebens beraubt. Was lässt dich zögern?"
Ich wusste, weshalb er es nicht getan hatte. Es war derselbe Grund, aus dem ich ihn nicht entwaffnete und ihm mit dem Dolch die Kehle durchschnitt.
Wir waren keine Mörder.
Kämpfer, Krieger, vielleicht auch Feinde, aber keine Mörder.
Kjells Blick lag auf dem Dolch. Es war eine schlichte Waffe, ohne jegliche Verzierungen. Wahrscheinlich hatte er ihn beim Schmied geklaut, als er gestern abgehauen war.
Wie lange er wohl schon wusste, wer die schwarze Kriegerin spielte?
Als er wieder zu mir sah, drehte er das Blatt um.
„Du hast mir das Leben gerettet. Warum? Warum hast du mich nicht einfach ertrinken lassen?"
Ja, warum eigentlich? Ich hätte ihn und das verrottende Stück Treibholz einfach ignorieren können. Es wäre kein Mord gewesen, man hätte mir keine Vorwürfe machen können.
<Mord? Moira, was ist bei dir los?!>
Hatte ich intuitiv Nachtblitz gefragt? Verdammt, das war nicht gut.
<Moira? Entweder du antwortest oder ich sprenge die Tür weg und schaue selbst nach!>
<Kjell hat mich gefragt, warum ich ihn nicht ertrinken lassen habe.>
<Kjell?!>
Blitzschnell kickte ich den Dolch aus den Händen des jungen Mannes. Klappernd fiel er hinterm Bett zu Boden. Keine Sekunde zu früh, denn die Tür flog auf und offenbarte eine drohend blickende Nachtblitz mit geladenem Schuss.
Wenn Kjell mich nicht umbringen wollte, Nachtblitz' Leben würde ich nicht riskieren.
„Du hättest nicht zurückkommen sollen. Du hättest einfach irgendwo versteckt den Rest deines Lebens verbringen müssen."
Ich sprach im selben Tonfall, den ich sonst gegenüber Drachenjägern anwandte: kühl und ernst. Theoretisch könnte ich behaupten, einen kleinen Stich im Herzen zu spüren, so wie ich es erwartet hatte. Aber dann würde ich lügen.
Da war kein Bedauern, keine Reue, obwohl ich ihn früher fast zu meinen Freunden gezählt hatte.
Kein Mitleid regte sich in mir, als ich den verzweifelt wirkenden Jungen ansah.
Ich war schon seit langem über ihn hinweg, wie ich es mir eingeredet hatte. Kjells Platz in meinem Leben war verschwunden. Er war nur noch ein Teil meiner Vergangenheit, der in meiner Zukunft nichts verloren hatte.
Ich hatte es damals nicht für möglich gehalten, doch diese Wunde war verheilt und die hässliche Narbe hatte ich sooft zugenäht, dass man sie nicht mehr aufreißen konnte.
Der charmante Dieb war mir nun ein Fremder, dem ich das Leben gerettet hatte und der mich anschließend töten wollte. Das nächste Mal würde ich weitergehen und ihn nicht an Land ziehen.
Langsam ging er einen Schritt rückwärts. Sein Ziel war das Fenster hinter ihm, durch das er den Raum auch betreten hatte. Es stand noch offen.
Nachtblitz hatte sein Vorhaben ebenfalls bemerkt. Ein Blick zu ihr und wir hatten uns geeinigt.
Kraftvoll stieß sich meine Freundin vom Boden ab. Gleichzeitig ging ich in die Hocke, streckte eines meiner Beine aus und fegte mit ihm Kjells Füße weg. Er schlug dumpf auf dem Boden auf, Nachtblitz sauste über ihn hinweg, landete vor dem Fenster und versperrte somit seine einzige Fluchtmöglichkeit. Ich sprang wieder auf und drückte Kjell zu Boden. Er hatte keine Chance mehr.
„Bedank dich bei Selma dafür, dass sie mir Anstand beigebracht hat. Sonst würde hier tatsächlich jemand erstochen werden."
Ich meinte es genau so, wie ich es sagte. Als hätte jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt, war mir klar geworden, dass ich recht gehabt hatte. Es war nicht mehr so wie früher. Kjell und Nira waren keine Freunde mehr, die Zeiten der Rächerin waren vorbei.
Selma hatte sich getäuscht. An der Vergangenheit festzuhalten hätte mich gerade beinahe das Leben gekostet.
<Was machen wir jetzt mit ihm?>
<In ein Boot setzen und von der Strömung treiben->
Mit erhobenen Waffen stürmten Astrid, Hicks und Rotzbakke durch die noch immer geöffnete Tür.
Echt jetzt? Warum kamen sie immer dann, wenn man sie gerade nicht brauchte?
„Äh..."
Irritiert ließ Rotzbakke das Schwert sinken.
Astrid und Hicks warfen sich peinlich berührte Blicke zu und ich verstand.
Warum passierte sowas eigentlich immer mir?
Ich wollte lieber gar nicht wissen, was bei denen gerade alles durch den Kopf schwirrte.
Fassen wir kurz die Situation zusammen:
Ich saß auf Kjell drauf, unsere Köpfe waren in etwa auf einer Höhe und Nachtblitz bildete einen Sichtschutz fürs Fenster.
Ja, da konnte man durchaus auf andere Gedanken kommen als auf einen Mordanschlag.
„Ähm... Wir wollten nicht... es hat geknallt und wir dachten... naja... wir... äh... Wir gehen dann mal."
<Darf ich anmerken, dass Hicks' Interpretation der Situation irgendwo verständlich ist?>
<Nachtblitz!>
<Ich meine nur... Wenn man nicht weiß, dass er dich umbringen wollte, sieht das Ganze ziemlich eindeutig aus.>
<Haha.>
<Jedenfalls werden wir- oder besser du- ihnen jetzt davon erzählen müssen.>
<Nein, müssen wir nicht.>
<Du weißt, was sie dann denken werden?>
<Sie können denken, was sie wollen. Das ist mir egal.>
<Moira, das glaubst du doch selbst nicht.>
Leider hatte sie recht. Es war mir nicht egal, was sie dachten. Ich hätte Kjell einfach laufen lassen sollen, dann hätte ich ein Problem weniger.
Jetzt war es dafür zu spät, also würde ich wohl oder übel mit der Wahrheit herausrücken müssen.
„Wenn ihr wiederkommt, bringt ein Seil mit, damit er mich nicht nochmal fast ersticht."
Schlagartig drehte Hicks sich wieder um.
„Er wollte dich erstechen?!"
„Nachtblitz hat ihm den Fluchtweg versperrt und ich habe ihn überwältigt. Ihr seid exakt fünf Sekunden zu spät gekommen."
Wir hatten drei Seile gebraucht, um Kjell zu fesseln. Wenigstens konnte er so garantiert nicht mehr abhauen.
„Und was genau machen wir jetzt mit ihm?"
Ich konnte an Astrids Gesichtsausdruck ablesen, dass sie ihn am liebsten hinter den Mond geschossen hätte. Dabei hätte sie meine vollste Unterstützung gehabt, nur war das leider keine ernstzunehmende Option.
„Wir könnten ihn in Moiras Kleid stecken und als Galionsfigur verkaufen."
Ich nehm's zurück. Hinter den Mond schießen war soeben zu einer Option geworden.
„Wir bräuchten noch eine Testperson für unsere neuesten Ideen..."
„Ja, zum Beispiel für das Unterwasser-Atmungs-Kugelrund.
Den dämlichen Namen hat Taffnuss festgelegt, ich war für Fischaugenblase."
Schmollend verschränkte Raff ihre Arme.
„Das einzige Dämliche in diesem Raum bist du!"
„Lieber dämlich als mein Bruder!"
„Ja, dein Bruder zu sein ist nicht leicht! Dafür hatte ich schon seit deiner Geburt einen Orden verdient!"
„Pah, den Orden hätte ich verdient! Denkst du, es ist leicht, einen idiotischen Bruder zu haben? Alles muss man mit dir teilen: den Drachen, die Hütte, das Hirn, einen Löffel, das ausgestopfte Yak, die Wildschweingrube, neulich sogar die Unterwäsche!"
<Das ist widerlich... absolut widerlich.>
<Ja, und ich wollte es so genau gar nicht wissen...>
„Raffnuss! Es reicht!"
Hicks klang fast schon panisch.
„Moment mal. Ihr teilt eure Unterwäsche?!"
„Rotzbakke!"
„Ich frag' ja nur..."
Abwehrend hob der Angesprochene die Hände.
Hicks sah so aus, als würde er seinen Kopf gern gegen den nächsten Baum schlagen.
„Ein für alle Mal: Kjell wird keine Testperson für Euer Fischaugen-Kugel-"
„Neinneinnein, es heißt: ‚Unterwasser-Atmungs-Kugelrund'. Vergiss Raffs Fischaugen."
„Wie auch immer, er wird keine Testperson!"
„Alles klar, dann hole ich schonmal das Kleid."
„TAFF! Er wird auch keine Galionsfigur!"
„Och komm schon!"
„Du bist total der Spielverderber!"
Vielleicht hätten wir die Zwillinge sich weiter prügeln lassen sollen, anstatt sie her zu holen.
Obwohl die Vorstellung von Kjell in dem feuerfarbenden Kleid schon extrem lustig war. Auf solche Ideen kamen aber auch nur die beiden Chaoten...
Unser... tja, da hätten wir auch schon die nächste Frage. Als Gefangenen würde ich ihn nicht bezeichnen, aber einen anderen Begriff gab es nicht.
Jedenfalls war er da anderer Meinung. Seinen zweifelnden Blicken nach überlegte er, ob ich mich tatsächlich mit den Drachenreitern zusammengeschlossen hatte oder ob das nicht doch alles ein blöder Scherz war.
„Wir könnten ihn hier lassen. Ohne Boot kommt er nicht weit."
Erleichtert über einen ernsthaften Vorschlag atmete Hicks aus.
„Danke, Astrid."
„Ich glaube nicht, dass das so gut wäre. Wir sollten ihn zur Sicherheit mitnehmen."
Nein, auf gar keinen Fall.
Vielleicht hatte Fischbein recht und es wäre sicherer, als ihn hier zu lassen. Im Hafen lagen haufenweise Schiffe, in wenigen Wochen wäre Kjell hier weg und wer weiß, wie sein Kurs aussehen wird.
Aber mitnehmen? Unter keinen Umständen. Da könnten wir auch den nächstbesten Drachenjäger aufgabeln. Nur, dass dieser wahrscheinlich nicht vor das Ultimatum gestellt wurde, zu töten oder getötet zu werden.
„Das klingt bestimmt undurchdacht, aber wenn wir ihn mitnehmen, kann er uns weder verfolgen noch überraschend angreifen.", versuchte er es erneut, da nicht nur ich ihn entgeistert ansah.
Theoretisch hatte er recht. Wir wüssten, wo er war, das von ihm ausgehende Risiko wäre kleiner.
Und da er von Sungird kam, wusste er, wo sich dieser aufhielt- oder es getan hatte.
Wenn wir ihn mitnehmen würden, könnte ich also mit ihm unbemerkt verschwinden und den Töter angreifen, ohne die Reiter in Gefahr zu bringen. Dann wären sie aus der ganzen Sache fein raus, nachdem meine ersten Bemühungen dazu erfolgreich gescheitert waren.
Ich müsste ihn nur irgendwie auf Nachtblitz kriegen, sie könnte sich tarnen und Zack- Astrid, Hicks und co waren kein Teil dieser Angelegenheit mehr.
„Fischbein hat recht. Wir sollten ihn mitnehmen und abwechselnd auf ihn aufpassen. Sonst könnte er direkt zu Sungird segeln und ihm Informationen über uns bringen. Das würde ich nicht riskieren, vor allem nicht jetzt, da ich meine Rüstung zerstört habe."
Leider war es wahr; Der Kampf gegen Nira hatte überdeutlich seine Spuren auf meiner schwarzen Rüstung hinterlassen. Um das zu reparieren, brauchte ich Material und mindestens ein bis zwei Tage. Besonders letzteres hatten wir durch Nachtblitz' Vergiftung nicht.
„Oh, äh, wartet mal kurz!"
Hicks verschwand in dem Raum, in dem er und die anderen Reiter die Nacht verbracht hatten.
Was war ihm denn plötzlich eingefallen?
Er hatte doch nicht etwa-
Grinsend und mit vollen Armen kam er zurück.
Ich konnte es kaum glauben.
Meine Rüstung sah aus wie neu!
„Ich habe versucht, sie zu reparieren. Sie ist nicht so geworden, wie sie vorher war, aber hoffentlich geht es auch so. Ein paar Kratzer-"
„Hicks, gib sie ihr einfach. Sonst reißt Moira sie dir gleich aus den Armen."
Astrid lag nicht ganz falsch. Woher auch immer Hicks das Reparieren unterschiedlichster Dinge konnte, er hatte gewusst, was er tat.
Unsicher reichte er mir mein Markenzeichen.
Ich war sprachlos.
Es war ein Meisterwerk an Restaurationskünsten nötig gewesen, um die Schäden komplett zu beheben. Und das hatte Hicks geliefert.
Ich hätte es nicht besser hinbekommen.
„Wann hast du das denn geschafft?"
Staunend drehte ich den Körperschutz und begutachtete ihn von allen Seiten. Keine Frage, er sah so aus wie damals, bevor Nira meinen Platz eingenommen hatte. Obwohl, um ehrlich zu sein, war die Rüstung sogar noch besser. Die Schuppen funkelten in tiefem Blau-Schwarz, die Armschützer waren poliert, die Gelenke der Flügel geölt.
So sauber war sie lange nicht mehr gewesen.
Selbst die kleine Stelle im Schuh, wo ich einst durch einen Widerhaken einen Teil des Polsters verloren hatte, war gestopft worden. Von dem neu eingebauten Klickmechanismus zur Befestigung des Helmes ganz zu schweigen. Dank ihm würde ich meine Maske demnächst nicht so schnell verlieren.
„Naja, ich... brauchte eine Beschäftigung, während ihr gegen das Gift gekämpft habt, also..."
Verunsichert kratzte er sich im Nacken.
„D-danke!"
Ehe ich es verhindern konnte, huschte ein Lächeln durch mein Gesicht.
Völlig fokussiert auf die frisch reparierte Rüstung bemerkte ich Hicks' Verwirrung erst ein paar Sekunden später.
„Was?"
Er sah so aus, als würde er damit rechnen, jeden Moment von mir angeschrien zu werden.
„Du... Du bist nicht... ähm... sauer?"
Wieso sollte ich wütend sein? Er hatte doch nur meine Rüstung-
Ach ja, er hatte meine Rüstung repariert, obwohl ich mehrmals darauf beharrt hatte, dass sie von meinen Sachen fern bleiben sollten.
Ich musste besser aufpassen, sonst schloss ich die Drachenreiter doch irgendwann zu sehr in mein Herz und der geplante Alleingang wäre unwiderruflich zunichte.
Das Zusammenleben mit der Truppe tat mir nicht gut.
Wie sollte ich mich erfolgreich wegschleichen, wenn ich am liebsten für immer bei ihnen bleiben würde?
Das hier war kein Spiel, das hatte ich früh genug erfahren. Wenn ich zuließ, dass mir die Berkianer etwas bedeuteten, riskierte ich damit nicht nur eine weitere Schwäche, sondern auch ihre Leben. Kein noch so treuer Drache konnte sie vor Sungird retten.
Er tötete alles, was ihm im Weg war. Noch kannte ich sein Ziel nicht, doch ich konnte mit Sicherheit sagen, dass ich zwischen ihm und diesem stand und dass ich alles geben würde, um ihn am Vollenden seines Vorhabens, was auch immer es sein mochte, zu hindern. Wahrscheinlich würde ich das auch müssen.
Dies war ein Kampf zwischen Sungird und mir, es war mein Kampf.
Nicht der der Drachenreiter.
Ich wusste aus einem Gespräch zweier Drachenjäger, dass Berk gegen Drago Blutfaust gekämpft hatte. Dass sie gewonnen hatten. Aber ich hatte den Preis nicht gekannt.
Ich war davon ausgegangen, dass es ein Zwist zwischen den sturen Wikingern Berks und dem verrückten, machtbesessenen Drago gewesen war, der zu dieser Schlacht geführt hatte. Erst durch Valkas Erzählungen hatte ich die wahren Gründe erfahren. Und die Opfer.
Haudrauf war gefallen, um seinen Sohn zu retten. So sehr ich diesen Mann für alles, was er getan hatte, verabscheute, seinen Tod hatte ich dennoch bedauert.
Gleichzeitig war ich in meinem Entschluss, als Einzelgängerin zu arbeiten, bestärkt worden.
Ich wollte nicht, dass sich jemand dazwischenwarf, sollte einer von meinen Feinden den entscheidenen Schuss auslösen.
Denn es war meine Entscheidung gewesen, diesen Kampf aufzunehmen und nur ich würde dafür die Konsequenzen tragen.
Also versteckte ich mein Lächeln unter der altbekannten Maske.
Anders als vorhin bei Kjell spürte ich einen kleinen Stich in der Herzgegend, aber im Ignorieren dieser Sorte Schmerz konnte mir niemand das Wasser reichen.
„Diesmal nicht. Hättest du es nicht getan, würde ich entweder allen meine Identität offenbaren oder weitere Zeit verplempern müssen."
Ein unbehagliches Schweigen breitete sich aus. In Astrids Augen blitzte Enttäuschung auf. Ich wusste, dass sie gehofft hatte, ich würde offener werden. Diese Hoffnung hatte ich auch gehegt, aber Hoffnung ist nur das wunderschöne Trugbild der Realität. Wie eine Fata Morgana täuschte sie die Erfüllung deiner Wünsche vor, um im entscheidenden Augenblick einfach zu verpuffen, als wäre sie nichts weiter als eine Atemwolke an einem stürmischen Wintertag.
Wunderschön, zeitlos und unerreichbar.
„Wir sollten unsere Route besprechen. Wer hat die Rätsel?"
Ich hasste mich selbst für die Emotionslosigkeit meiner Worte, aber es musste sein. Mit etwas Glück fingen sie irgendwann an, mich dafür ebenfalls zu hassen. Das würde einiges erleichtern, zum Beispiel mein Gewissen.
<Was hast du vor? Willst du ihnen unsere Vermutung mitteilen?>
<Ich weiß es noch nicht. Irgendwie müssen wir mit Kjell verschwinden, er weiß garantiert, wo Sungird steckt. Die Frage ist nur, wie wir das unbemerkt anstellen können.>
<Auf die Vertrauenssache fällt Hicks wahrscheinlich nicht nochmal herein. Und selbst wenn, Astrid würde es ahnen.>
Das war die größte Schwierigkeit an der ganzen Sache. Astrid durfte keinen Verdacht schöpfen, andernfalls würde sie unser Verschwinden zu schnell bemerken und uns vielleicht sogar finden.
„Hier."
So beendete Hicks das Gespräch meiner Freundin und mir.
Zwei Pergamente landeten auf dem Tisch.
„Wir sind allerdings noch nicht weitergekommen. Nira hatte entweder auch keine Idee für die Lösung oder sie wollte uns einfach nicht helfen."
„Hey, was ist eigentlich mit ihr? Sie würde in dem Kleid bestimmt viel besser aussehen als Kjell!"
Ja, was war mit Nira?
Den Drachenreitern und ihr hatte ich nur gesagt, dass Tzire auf sie aufpassen würde. Tatsächlich würde sie Nira, sobald diese schlief, auf eine kleine, bewohnte Insel bringen, zu der noch nie ein Händler gefahren war. Abgeschieden, klein und unbekannt, der perfekte Ort, um den Rest ihres Lebens dort zu leben. Keine Drachenjäger, und Drachen kamen auch nur selten dorthin.
Ich hatte diesen Ort entdeckt, als wir auf dem Weg nach Norden gewesen waren. Von Tzires Vorderpranken aus hatte ich eine einwandfreie Übersicht gehabt, auch wenn der Rauch der Qualmdrachen nicht selten die Sicht versperrt hatte. Genau deshalb produzierten sie ihn ja auch; niemand sollte die Horde aus Seidenspannern und kleinen grauen Drachen als solche sehen. Nur eine dunkle Wolke schob sich über den Himmel. Und dann kamen die Glutkessel, die in den Gewässern um die Insel, auf der wir schließlich notlanden mussten, jagten.
Theoretisch gab es die schwarze Kriegerin also nur aufgrund einiger äußerst aggressiver Glutkessel, die ziemlich schnell die Vorteile von Spinnennetz-Geschossen kennenlernten.
Schon denkwürdig, dass mir die Strömung, die sie durch ihre ständigen Jagdausflüge verursachten, vor einigen Tagen mehr oder weniger das Leben gerettet hatte. Und Kjell nebenbei bemerkt auch.
„Könntet ihr jetzt bitte endlich mal mit eurem Kleid aufhören?!"
Selbstverständlich wurde Rotzbakke sofort von Taffnuss berichtigt.
„Es ist nicht unser Kleid, es ist Moiras Kleid. Also echt, Raffnuss würde darin ja noch schlimmer aussehen als so schon! Stell dir das doch mal vor; langes Gesicht, stinkende Haare und ein hübsches Kleid dazu. Pff, immer diese Einfaltspinsel."
An sich mochte ich die Zwillinge. Sie hörten auf niemanden und legten ständig eine ansteckende Unbeschwertheit an den Tag, bekamen wenige bestimmte Sachverhalte schneller mit als Andere und reagierten darauf. Außerdem teilten sie meine Vorliebe für Explosionen jeglicher Art und mit ihnen konnte man den Anderen so wunderbar auf die Nerven gehen, dass man wenigstens für ein paar Minuten seine Ruhe hatte.
Aber manchmal wünschte ich mir, den Klumpen Harz nicht schon verbraucht zu haben.
Wenn man ihnen die Möglichkeit geben würde, würden die Geschwister hundertprozentig den ganzen Tag lang reden. Und den Tag danach auch noch. Ohne auch nur ein einziges Mal Luft zu holen.
Mit anderen Worten: meine ohnehin schon knappe Geduld erfuhr durch die Zipperreiter ganz neue Dimensionen des Nicht-mehr-Vorhandenseins.
„Niemand zieht das Kleid an und Nira bleibt genau da, wo sie ist."
Die Zwillinge waren klug genug, um auf meinen giftigen Tonfall hin den Rand zu halten.
Dummerweise taten alle Anderen es ihnen gleich, sodass eine unangenehme Ruhe entstand.
Ich weiß nicht, wie lange wir da standen und uns gegenseitig anschwiegen. Dabei gab es so vieles, was ungesagt in der Luft hing.
Wie schwere Gewitterwolken machten die unausgesprochenen Worte die Stille beklemmender.
Wie sagte man so schön; Es war die Ruhe vor dem Sturm. Die Ruhe, in der jeder darauf wartete, dass gleich etwas geschah.
Doch dieses Unwetter würde noch ein ganzes Stück wachsen müssen, ehe es los- und mein eisernes Schweigen brechen würde. Und zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Wege der Reiter und mir bereits getrennt, dafür werde ich sorgen.
„Wow, und ich dachte immer, ihr wüsstet genau, was ihr als nächstes machen werdet."
Augenblicklich fand sich Kjell mit Astrids Dolch am Hals wieder. Durch seine Worte verschwand das drückende Gefühl und der stumme Gewittersturm wurde unsichtbar. Dennoch konnte man seine Anwesenheit spüren. Er war der Platzhalter zwischen dem Team und mir, der Anker, der mich daran hinderte, einen gewaltigen Fehler zu begehen. Solange so viel Ungesagtes zwischen uns stand, konnten wir uns nicht als Freunde bezeichnen. Ein Grund mehr, Hicks' Suche nach Antworten als vergeblich zu gestalten.
„Sonst noch irgendwelche klugen Einwände?"
Vorsichtig, um sich nicht selbst an der Klinge zu schneiden, schüttelte Kjell den Kopf.
Irgendwie hatte ich gehofft, er würde wirklich noch etwas sagen. Nicht, dass ich mich über seinen Kommentar freute, ganz im Gegenteil; Nur mit großer Mühe unterdrückte ich jegliche Art von genervter Ausstrahlung. Aber es wäre eine Ablenkung von mir gewesen, die ich durchaus willkommen hieß. Jetzt ruhten nämlich alle Blicke wieder auf mir.
Verständlich, denn wenn einer von uns mit diesen erwirrenden, nichtssagenden Zeilen etwas anfangen konnte, dann ich. So abwegig war dies auch nicht, denn was das allererste Rätsel betraf, hegten Nachtblitz und ich eine Vermutung. Dummerweise hatte ich Astrid bereits in diese eingeweiht, als ich unachtsam geworden war. Bei Sungirds hässlichster Narbe, ich hätte anfangs um Welten vorsichtiger sein und schnellstmöglich den imaginären Herz-stumm-stell-Schalter reparieren sollen.
Wie auch immer, nun war es zu spät und ich musste das Beste aus der Situation machen.
„Der Polarstern den Norden zeigt, doch euer Weg vielleicht nach Süden weißt.
Ost und West ist nah zusammen, der Kompass ist verloren gegangen."
Das ergab noch immer genauso viel Sinn wie beim ersten Lesen.
<Schindest du gerade Zeit?>
Meine Seelenverwandte kannte mich eindeutig viel zu gut.
<Überleg dir lieber schonmal, wie wir unbemerkt mit Kjell verschwinden können.>
Grummelnd verdreht Nachtblitz die Augen, blieb daraufhin aber still.
„Vielleicht sollen wir uns nicht mehr an den Himmelsrichtungen orientieren. Aber das haben wir vorher auch nicht. Der Kompass hat sowieso nicht funktioniert, weil ihn irgendwas abgelenkt hat. Damit wären wir wieder beim Sternbild."
Und dass dieses eher nicht gemeint war, hatten wir schon zehnmal ausdiskutiert. Es gab weder Hinweise auf eine neue Orientierungshilfe noch auf den Verbleib des nächsten Rätsels oder was auch immer uns hiernach erwartete. Also waren wir entweder in einer Sackgasse gelandet, was wir relativ schnell ausgeschlossen hatten, oder das Sternbild war nicht gemeint, wodurch die Frage nach dem Sinn hinter den Worten erneut ins Mittelfeld rückte.
„Argh!"
Missmutig ließ sich Hicks auf einen Stuhl fallen und fuhr sich mit der einen Hand durchs Haar, während er die andere zur Faust ballte.
„Es muss doch eine Lösung geben!"
Auch die übrigen Wikinger schnaubten genervt.
„Wie wäre es denn mal mit einem schlichten: ‚Fliegt in diese Richtung!'?! Das kann ja wohl nicht allzu schwer sein!"
Ausnahmsweise erwiderten die Zwillinge nichts auf Rotzbakkes Empörung. Kein Wunder, wenn wir alle derselben Meinung waren.
Sogar Kjell sah ratlos aus. Seine graubraunen Augen fixierten das Pergament, von dem ich soeben vorgelesen hatte. Seine Lippen bewegten sich kaum, als er die Worte, an die er sich erinnerte, wiederholte. Ablesen konnte er sie schlecht, denn zum Einen kannte er die Schrift meines Stammes nicht und zum Anderen lag das Blatt so, dass Fischbeins Übersetzung für ihn auf dem Kopf stand.
Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Rätsel hatten ihm noch nie gelegen.
Plötzlich richtete sich sein Blick auf etwas Anderes. Ein schnelles Schielen in diese Richtung reichte, dass ich wusste, was er entdeckt hatte.
Das Wappen der Drachenjäger, welches ich vor sechs Jahren an die Wand gemalt hatte.
Überraschung spiegelte sich in seinem Gesicht wieder. Er hatte es also erkannt. Und er verstand anscheinend auch den Sinn dahinter, da er mich zwei Sekunden später direkt ansah.
Ich erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich lächelte nicht, starrte ihn einfach nur kalt an. Keine einzige Emotion war in meinem Gesicht zu sehen, die lang trainierte Maske war perfekt.
Handelte es sich überhaupt um eine Maske oder entsprach meine Gefühllosigkeit gegenüber Kjell total der Wahrheit?
Er wandte seinen Blick ab und ich horchte in mich hinein. Nein, vorhin im Zimmer hatte ich wirklich die Wahrheit erkannt. Diese Maske war echt geworden.
Und ich bedauerte es nicht.
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Den Drachen oben habe ich gemalt und mithilfe von PicsArt bearbeitet. Die Rechte liegen also bei mir.
Wörter insgesamt: 5801
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