(18) Was danach bleibt
Moira
Leblos sackten die schlaffen Körper in sich zusammen. Totenstille peitschte durch den Wald, greller und eindringlicher als unsere vorangegangenen Schreie.
<Sind sie...>
Zögernd öffnete Nachtblitz ihre Augen einen winzigen Spalt breit. Ich musste sie nicht ansehen, um das Bangen zu spüren, das ihr ganzer Körper, ihre Seele, verstrahlte. Und doch war sie nahezu gleichgültig gegenüber Hicks und Wilfriede, aus denen bittere Erkenntnis und Verzweiflung nur so herausschlugen.
<Ja.>
Meine Freundin erschauderte. Bedrückt wandte sie ihren Blick von dem grausamen Bild, das sich uns allen bot, ab, neigte ihren Kopf gequält zur Seite.
<Das ist so ungerecht. Sie hat es dermaßen schwer gehabt, das hatte sie nicht verdient. Keiner.>
<Hm.>
Mehr konnte man dem nicht hinzufügen. Sie hatte alles gesagt. Alles. Und noch mehr.
Nur eine einzige Sache war ihr entfallen- weil ich sie sorgfältig abgeschirmt hatte.
<Ich hätte es ihr einfacher machen->
Sofort knallte eine hochexplosive Mischung aus Sorge und Wut gegen mein Bewusstsein.
<Wag es ja nicht, diesen Satz zu beenden. Du hast daran keinerlei Schuld!>
Bilder aus dem Wirtshaus blitzten auf, als ich sie stumm zu ihr schickte. Von wegen keine Schuld. Ich war die Hauptverantwortliche.
<Ich sehe nichts Falsches daran, Nira keinen Grund zum Töten gegeben zu haben.>
In meiner Kehle bildete sich ein Kloß, während ich unbewegt auf den abgekämpften, geschundenen Körper blickte. Auf den Körper einer Freundin, die ich erst jetzt als solche anerkannte. Dort lagen die Gebeine einer unglaublichen Kriegerin, einer Kämpferin, wie die Welt sie noch nie gesehen hatte. Unzählige Schlachten hatte sie schlagen müssen, die letzten zeitgleich auf mehreren Ebenen. Sie hätte eine ihr geweihte Stätte verdient, ein Monument, und nicht... das hier. Nicht diese Grube, die ich ihr geschaufelt hatte.
<Wenn ich ehrlicher gewesen wäre, hätte Nira nie eine Chance gehabt.>
Und dann sah ich sie, beide. Ein blaugelbes Bündel Lebensfreude und den blonden Inbegriff des Kampfgeistes, vertraut und unbeschwert, zusammen mit Hicks und Ohnezahn. Sie waren zeitvergessen, wie sie dort am Strand saßen und ruhten, von tiefem Frieden erfüllt und durch die Präsenz der Anderen vervollkommnet. Ein verschwommenes Bild, doch so klar sah man Zusammengehörigkeit nie.
„Ich versteh's nicht, Moira. Ich verstehe dich einfach nicht. Wir könnten neben ihnen sitzen, wenn du dieses eine Mal deinen unbegründeten Gerechtigkeitsdrang in das Loch gestoßen hättest, aus dem er gekrochen kam. Ich hatte dir gesagt, dass Toven keine Rücksicht nimmt. Mehrfach. Kind oder nicht, ihm ist das völlig egal. Feind bleibt Feind, ohne Gesicht, ohne Namen, ohne Wert."
Die Stimme schnaubte. Sie klang unwirklich in meinem Kopf, nicht nur, weil Nachtblitz nicht bei sich gewesen war, als die Erinnerung entstanden war. Nein, diese Stimme hallte gespenstisch durch mich hindurch, füllte jede Lücke mit scharfen Vokalen. So nah war sie mir, so real, als würde ihr materieller Ursprung jeden Moment aus dem Gebüsch treten, als würden Niras Augen mich genau taxieren, studieren, wie ich letztendlich doch nichts gekonnt hatte und die Wahrheit langsam in meinen Geist eindrang.
„Du willst den Schutzlosen helfen, meintest du immer. Unbelehrbar und vollständig überzeugt, obwohl du das Grauen mit eigenen Augen gesehen hast."
Hicks' Stimme wehte durch den Busch, hinter dem Nachtblitz kauerte. Der vorherige Wortwechsel war im Wellenrauschen verklungen. Jetzt unterbrach sein: „Bing! Bamm! Bumm! Zeigt euch bitte!" verhalten und leise das dumpfbittere Flüstern. Als sein Ausruf verhallte, schossen drei Donnertrommler aus den Wellen empor.
„So oft hatte ich dich gewarnt. So, so oft. Bis heute habe ich deinen Blick nicht vergessen, als du die Puzzleteile zusammengesetzt hast. Und bis heute frage ich mich... frage ich mich..."
Die Drachen begannen, freudig herumzutollen. Wasserstaub malte hauchfeine Regenbögen in die Luft. Ein krasser Kontrast zu Niras Mimik entstand, denn selbst die scheinheilige Stille konnte den Klang ihrer zunehmend düsteren Ausstrahlung nicht verschleiern.
„War es das, was du gewollt hast? Abgrenzung und Einsamkeit? Verstoßen zu werden und selbst zu verstoßen? Wobei, so neu dürfte das für dich gar nicht gewesen sein. Aber wofür? Wie hoch muss der Preis sein, dass dein ach so lobhafter Größenwahn endlich verreckt? Verbündete, klar doch. Dieses dämliche Reptil hier ist in Wahrheit doch alles, was für dich zählt. Ein Haufen Schuppen, der Feuer speien kann. Aber schön, war das je anders?"
Astrid und Hicks wurden von einem Schwall Wasser überrollt, als Sturmpfeil in den flachen Wellen vor ihnen eine Vollbremsung einlegte. Feine Tröpfchen rieselten auf Nachtblitz' Schuppen.
Wieder schnaubte Nira. Dann wurde ihr Flüstern noch leiser, der Ausdruck noch finsterer.
„Eigentlich sollte ich dir dankbar sein, dass du sie nicht an dich rangelassen hast. Dass der Schwindel funktioniert. Auf meinen nächsten Mord kann ich noch eine Weile warten."
Die Szene löste sich auf, verschwand wie dunkler Rauch vor dem kristallklaren Grauen vor mir, der Nachhall und das kalte Gefühl blieben.
<Wenn du ehrlicher gewesen wärst, wären sie noch früher gestorben.>
„Nein...", wisperte Hicks in den erstarrten Wind hinein. Obwohl er lauter sprach als in der Erinnerung, waren die Töne zerbrechlicher, so sehr, dass ihre Bestandteile nach wenigen Metern auseinanderfielen.
„Nein."
Von seinen Augen aus löste sich die alles vereinnahmende Starre. Unendliche Trauer bäumte sich in ihnen auf, konzentrierte Verzweiflung schlug rankenartig durch sein Gesicht, hinterließ bodenlose Falten und dunkelste Schatten als Spuren. Er rannte, raste, humpelte, stolperte, strauchelte, flog, sprang, kippte vorwärts, jeder Schritt schneller als der vorherige und zugleich träger, jede Bewegung hektischer und kraftloser. Zusammen mit seiner ersten Träne schlugen seine Knie auf der Erde auf, unmittelbar neben ihrem Oberkörper. Schlotternd streckte er seine Hand aus, versuchte, das zu fangen, was unerreichbar war, traute sich nicht, ihre Haut und all das Blut auf ihr zu berühren und wollte sie dabei am liebsten festhalten und nie wieder loslassen. Sein Gesicht war ein Spiegel des Schreckens, die Züge haltlos, ein schwacher Hinweis auf die Hoffnung, die immer tiefer und schneller in das bodenlose Loch fiel.
„Nein!", schallte es dröhnend und bebend in die Unendlichkeit.
„Astrid, d-du... du kannst nicht... nicht... Astrid!"
Endlich fanden seine Hände Halt an ihren Schultern, drehten sie herum, offenbarten das ganze unbeschönigte Ausmaß des Schreckens. Unnatürlich entspannt pendelte ihr Kopf hin und her, bremste vornübergekippt mit der Stirn an Hicks' Brust.
„Nein...", wimmerte das junge Oberhaupt erneut. Ein einziges Wort, ohne jegliche Knacklaute, doch man hörte überdeutlich, wie er mit dieser Silbe brach.
Bei seinem ersten Schluchzen stürzte die blanke Panik vor der Realität wie ein unersättliches, alles verschlingendes Monstrum auch auf Wilfriede über, ließ sie an Ort und Stelle zusammenbrechen, verkrampft zu ihrem Bruder krauchen, wandelte ihr gräuliches Haar zu trockenem Gras, das im Wind auf einem noch ungegrabenem Grab wehte.
Ihre Lippen bewegten sich stumm, nicht fähig, den Schmerz zu vertonen, den ihre Seele erlitt.
Zwei Körper bebten und krümmten sich, im aussichtslosen Versuch, das Unheil abzuschütteln, den Verlust ungeschehen zu machen.
Lange, knochige Finger umschlossen die Hand des blonden Jungen, von rötlicher Wolle bedeckte Arme den Oberkörper der Kriegerin, versuchten, das zu halten, was verschwunden war, Dinge zu wahren, die nur ein einziges Gefäß ein einziges Mal halten konnte. Und dieses eine Mal war verbraucht.
„Tu mir das nicht an..."
Tränenerstickt strich Hicks eine rostrot verfärbte Strähne aus dem blassen Gesicht. Astrids Mimik war entspannt, das milde Sonnenlicht verlieh ihr etwas Friedliches, weichte die harten Schatten unter ihren geschlossenen Augen auf. Als würde sie schlafen, ruhte ihr Kopf an der zitternden Hand. Ihre eigene lag halb geschlossen auf dem Boden, glänzend vor Blut. Die Fingerspitzen deuteten zu dem Quell des Übels, das ihr genauso entglitten war wie ihrer Lunge die Luft.
Unheilvoll verfärbt blinkte der Dolch. Fast schon gleichgültig lag er zwischen meinen Füßen und den Menschen, deren Schicksal alle besiegelt glaubten.
Von einer unbezwingbaren Macht getrieben überbrückte ich den Abstand zwischen der Waffe und mir. Schmaddrig zertretene Erde ließ meine Füße schnell Halt finden, als ich mich hinkniete.
Das war es also, das Werkzeug der Zeit. Unglaublich, dass dieses poröse Gebilde solch eine Bedeutung zugesprochen bekommen haben sollte. So ein brutales kleines Unheil. Vielleicht hatte Toven Recht gehabt, als er meinte, Sungirds Lösung sei die einzig richtige.
Wie viel Kummer den Trauernden erspart geblieben wäre, wenn das Mittel zum Zweck nicht hier gewesen wäre...
Verführerisch glänzte das befleckte Leder des Griffs. Das war das ungefährliche Ende, würde jeder sagen. Doch genau diese Annahme hatte zwei Gesichter, zwei Fratzen, bei der die eine lächelte und die andere unterdessen jegliches Leben restlos verschlang. Natürlich, die Klinge durchdrang letztendlich den Körper und verursachte den Schaden, doch eigentlich war sie unschuldig. Der Griff war das tödliche Ende, nur er allein verleitete zum Nutzen der Klinge. Die Schneide selbst wählte keine Seite, sie schnitt jeden gleichermaßen. Erst das Handstück zwang sie zur Wahl einer Seite. Eine schreckliche Wahl, welches Opfer sie auch forderte.
Anklagend schmückten rote Schlieren das kalte Metall. Kein Wunder, die Waffe war mit ihrer Bedeutung unzufrieden. Sie war nicht schuld, das wussten wir beide. Und doch sah ich die Visage des Verantwortlichen direkt vor mir, während ich auf den Dolch starrte.
Es war die dunkle Reflexion meiner Maske, die mich durch Blut und Schrammen sadistisch angrinste. Bis auf mich und das Messer hatte niemand diese Tatsache bemerkt, dabei hatte der kleine Gegenstand es vor aller Augen gezeigt, indem er seine Spitze unverwandt auf mich gerichtet hatte. Ganz so, als hätte er es mir am liebsten mit gleicher Münze heimgezahlt.
Andächtig hob ich ihn auf, wohl bedacht, seine Lage nicht zu verändern. Feuchtes Metall ruhte auf meiner einen, trockenes Griffmaterial auf meiner anderen Hand, die scharf geschliffenen Kanten gleißten angriffslustig auf. Auf Brusthöhe ließ ich meine Hände innehalten, die Spitze deutete geradewegs auf mein Herz.
Leben um Leben, Schuld um Schuld, hm?
Im kalten Wind wirkte das Zittern des dünnen Metalls wie ein grimmiges Nicken.
Also dann.
Fest umfasste ich das vergleichsweise leichte Gerät. Mein Entschluss stand fest. Ich würde sie beenden, all diese Qualen, hier und jetzt.
Aber nicht so, wie der Dolch es sich wünschte.
Bis zu Hicks waren es fünf Schritte. Entschlossen verstärkte ich meinen Griff. Nun gab es kein Zurück mehr.
Ein kurzer Blick in die Runde. Die Zwillinge hatten Mund und Augen weit geöffnet, einzelne Tränen glitzerten auf ihren Wangen. Gehalten im Arm des Anderen blendeten sie die Welt aus. Fischbein stand kurz vor dem Zusammenbruch, Rotzbakke war halb im Schritt eingefroren, einen Arm ausgestreckt, als hätte er sie zurückhalten wollen, die Hand des anderen Armes hatte er voller Schrecken vor seinen Mund geschlagen. Heidrun hingegen war gefangen zwischen Atmen und Weinen, ihr Blick schwamm in Tränen.
Die Drachen litten allesamt auf ihre eigene Weise, selbst die Gründlinge waren zurückgekehrt und versuchten verzweifelt, in den Büschen irgendwo den lebenden Wilfried zu finden, als wäre das nur ein Spiel oder ein sehr absurder Scherz.
Gut. Dann hatte mich noch niemand bemerkt.
Tief einatmen. Ich hatte mich entschieden. Und ich stand zu meinen Entscheidungen, wie schwer es auch sein mochte.
Langsam hob ich den Dolch an.
<Moira?! Was hast du->
Ein bitteres Lächeln umspielte meine Lippen. Was ich vorhatte? Nun, es würde wehtun.
„Hicks?"
„I-ich kann nicht, Moi-"
Er schluchzte laut auf. „Nicht jetzt..."
„Hicks!"
Diesmal reagierte er gar nicht.
Gut, dann eben auf die uneinfühlsame Weise.
Grob packte ich ihn am Oberarm und riss ihn von Astrid weg.
„Hey! Du-"
Als er den Dolch erkannte, den ich ihm unter die Nase hielt, stockte er erschrocken. Sein Blick schwankte zwischen Entsetzen und Fassungslosigkeit.
„Hier. Siehst du das?"
Viel zu deutlich, schrie sein Zittern.
„Moira, b-bitte, ich kann gerade w-irklich n-nicht..."
Sicherheitshalber packte ich seinen Arm fester. Jetzt kam der schwierige Teil.
„Und wie du kannst. Hier, schau ihn dir an. Das ist nur ein Dol-"
„Verdammt, ich weiß, was das für ein idiotisches Teil ist! Und ich weiß auch, dass dieses verfluchte Ding mir Astrid genommen hat, weil sie uns helfen wollte! ALSO LASS MICH VERDAMMT NOCHMAL LOS UND STECK DAS MISTSTÜCK IN IRGENDEIN VERMALEDEITES SUMPFLOCH!"
Wutentbrannt wollte er sich losreißen, doch mein Griff war stählern. Nicht anders als der Ton, in dem ich fortfuhr.
„Ach wirklich? Und was genau hatte sie mit dem Dolch vo-"
Trauernde Menschen zu provozieren war keine gute Idee. Nichtmal im entferntesten. Dagegen war es geradezu harmlos, sich bei Gewitter mit einem menschenhassenden Skrill anzulegen. Oder einer ganzen wütenden Skrillhorde inklusive einem Schwarm Grimmegel.
<Ich werde dir jetzt helfe->
<Nichts dergleichen. Ich bekomme das schon hin.>
Ironischerweise landete ich exakt mit dem Ende meines Satzes krachend auf dem Rücken. Hicks vor mir erinnerte mittlerweile eher an eine Furie als an einen Wikinger- zurecht, ich hatte es verdient.
Und obwohl irgendein Fünkchen Überlebensinstinkt sich zu melden wagte, fuhr ich unbeirrt und rücksichtslos fort.
„Wenn es dir so besser gefällt, ich kann auch im Liegen reden. Also, was hatte Astr-"
Um dieses Ausweichmanöver würden mich alle Mücken der Welt beneiden. Schnellstmöglich sprang ich wieder auf die Beine. Verteidigung war im Stehen einfacher.
Aber gegen Worte half selbst das nicht.
„SIE IST TOT, OKAY?! WAS WILLST DU JETZT VON MIR? SIE IST TOT UND ICH KONNTE SIE NICHT RETTEN UND DIESES MIESE STÜCK SCHROTT IN DEINER HAND IST DARAN AUCH SCHULD! UND JA, ICH WEIß, WAS SIE DAMIT WOLLTE! JEDER WEIß DAS, JEDER HAT ES GESEHEN, WEIL WIR ALLE EBEN NICHT NUR BESCHEUERTE HINTERWÄLDLER SIND! SIE HAT IHN DAMIT ERSTOCHEN UND ER HAT IHR DABEI DAS GENICK GEBROCHEN, OKAY? BIST DU JETZT ENDLICH ZUFRIEDEN? KANNST DU DIE LEUTE HIER, DIE GEFÜHLE HABEN, JETZT ENDLICH TRAUERN LASSEN? WENN'S DICH NERVT, DANN HAU DOCH EINFACH WIEDER AB, SO HAST DU ES BISHER DOCH AUCH IMMER GEHANDHABT!"
Ahja. Deshalb wollte ich keine Freunde mehr haben. Danke fürs Erinnern.
„Nein."
„WAS NEIN? DU BIST ZU EGOISTISCH, UM UNS IN RUHE ZU LASSEN UND HAST WIEDER DAS BEDÜRFNIS, IM MITTELPUNKT ZU STEHEN, EINFACH WEIL DU ES KANNST?ODER NEIN, WIR SIND DOCH ALLE BLÖDE, WEIL WIR NICHT MIT EINEM ACHSELZUCKEN WEITERMACHEN?"
„Nein, sie ist nicht-"
Er hatte mir gar nicht zugehört. Klar, seine Gefühle fraßen ihn für jeden sichtlich auf.
„DU SOLLST VERSCHWINDEN, HABE ICH GESAGT! DICH WILL HIER KEINER MEHR HABEN!"
Autsch.
<Moira, das meint er nicht so. Er ist nur überfordert und...>
<Ich weiß. Alles gut.>
Keine Frage, Nachtblitz hatte die Lüge schneller durchschaut als ich sie beendet hatte.
„Fein."
Diesen Ton hasste ich, obwohl ich ihn bis zur Perfektion beherrschte. Kein einziger wahrer Gedanke konnte durch ihn erraten werden, kalt und unnahbar war seine Natur- genau deshalb nutzte ich ihn so oft und genau deshalb war es Folter, ihn jetzt zu verwenden.
„Soll ich dir dann lieber vorher oder erst in Walhalla sagen, dass sie noch lebt?"
Wenn Hicks' Geduldsfaden noch nicht zerrissen war, dann hatte ich ihn eben mit einem großen Knall endgültig zerstört.
Bebend vor Wut schritt er auf mich zu, jeder Katastrophale Kiesklops wirkte neben ihm wie ein verunsichertes Kücken.
Automatisch streckte ich den Rücken durch und hob mein Kinn. Mehr hassen als in diesem Moment konnte er mich nicht, weshalb sollte ich dann so tun, als würde mich sein Gehabe einschüchtern?
Als uns keine zwei Armlängen mehr trennten, hielt ich dennoch ruckartig die kleine Klinge vor mich, unentschlossen, ob es sich dabei um einen Schutz oder Beweis handelte. Vermutlich lief es auf eine Mischung aus beidem hinaus.
„Streng doch bitte ein letztes Mal dein hochgelobtes intellektuelles Fassungsvermögen an. Als Nicht-Hinterwäldler solltest du davon reichlich besitzen."
Mir war mehr als nur bewusst, wie sehr ich mich im Ausdruck vergriff, und es war mir mindestens ebenso egal. Wo Höflichkeit keine Beachtung fand, schenkte man unangemessenen Äußerungen immer vollstes Interesse. Mehr als das brauchte ich nicht.
„DU-"
„Na los, beneidenswerter Intelligenzchampion, wo sollte sich die Klinge jetzt befinden? Hm?"
Genau eine Sekunde gab ich ihm Zeit, bevor ich herablassend fortfuhr.
„Logischerweise in Wilfrieds Herz, sonst hätte sie ihn damit schlecht erstechen können. Jetzt die große Preisfrage: Wieso halte ich sie dann in der Hand? Und nein, das Teil hier besitzt keine teleportierenden Fähigkeiten, falls das deine erste Vermutung war."
In drei Phasen sickerte die Erkenntnis in Hicks' trauerverschleierten Verstand. Phase eins bestand aus schlagartig anschwellendem Zorn, der von der eiskalten Logik des folgenden Stadiums gnadenlos ausgerottet wurde. Und dann, eine kurzweilige Ewigkeit später, drehte er sich um und stürzte zu seiner Freundin. Endlich.
„A-Astrid? Du meinst, sie-"
„Ja, wie ich es bereits sagte. Keine Sorge, das konntest du gar nicht hören, du warst ganz in deine Schimpftirade vertieft."
„Aber wie? Ich habe es doch gesehen, sie sind-"
„Wie betäubt zusammengeklappt?"
„Ja."
Nach wie vor verwirrt nickte der Drachenreiter.
<Ich glaube, das musst du etwas deutlicher wiederholen. Er ist noch nicht ganz auf der Höhe.>
Als hätte er Nachtblitz gehört, riss Hicks die Augen auf.
„Heißt das, du hast sie..."
Vielsagend ruhte sein Blick auf meinen Unterarmen.
„Volltreffer."
<In zweierlei Hinsicht.>, ergänzte meine Freundin sachlich.
„Sie hat was?"
Kläglich schniefte Wilfriede.
„Was hast du gemacht? Kannst du sie zurückholen?"
Ihre großen, rotgeweinten Augen versetzten mir einen Stich. Ihr Kummer war meine Schuld. Ich hatte nichts Falsches getan, theoretisch. Aber ich hatte viel zu lang gewartet. Wenn ich gleich gesprochen hätte, sofort die Wahrheit herausposaunt...
Plötzlich flammte eine Erinnerung auf, so heftig, das ich jeden Bezug zur Realität verlor. Wie das blasse Mädchen zu mir, sah nun ich zu einer einige Jahre jüngeren Selma auf. In meinen Armen lag Tzires schlaffer und von ihren eigenen Spinnweben verklebter Körper. Professionell konserviertes Grauen jagte aus der Vergangenheit zu mir und lähmte damals wie heute mit unverbrauchter Heftigkeit meine gesamte Erscheinung. Nur mein Wissen hatte sich verfeinert, sodass angeeignete Muster aus greulichen Erfahrungen innerhalb eines Wimpernschlags die Gefühlslage behelfsmäßig normalisiert hatten. Weit genug zumindest, um meine Stimme mehr oder minder bewusst zu gebrauchen.
„Nein.", echoten die Erinnerungsselma und ich synchron. „Nein, das ist unmöglich."
Und während die sanfte Frau in meinem Kopf gutmütig lächelte, schloss ich traurig die Augen und atmete tief durch.
„Man kann nichts zurückholen, was nie weg war."
So, wie man nichts verlieren konnte, was man nie besessen hatte. Diese erweiterte Erkenntnis hatte ich mir nur wenige Jahre nach der hoffnungsversprühenden Weisheit auf die härteste Tour angeeignet, während meiner persönlichen Nacht der tausend Gedanken. Seitdem hatte sich meine Einstellung zu fast allem geändert- wohl eine totgeschwiegene Nebenwirkung von Verrat aus dem engsten Kreis. Oder dem bisher als Heimat angesehenen Fleckchen Insel. Wie gut, dass sich meine jahrelangen Irrtümer doch noch aufdecken lassen hatten und ich zwischen darbenden Drachen einsah, dass mein Leben bei Selma in so gut wie jedem Bereich eine von mir selbst erdachte Lüge gewesen war- und ich demnach nichts verloren hatte, ganz im Gegenteil. Ich hatte untrügbare Gewissheit erhalten, eine unbezahlbare Lektion, und daraus hatte ich die Kraft geschöpft, die mich bis zur Flucht und darüber hinaus am Leben erhalten hatte.
<Leg lieber den Dolch weg, bevor du aus Versehen doch zustichst.>
Irritiert blinzelte ich. Menschen, Gras, Drachen, Bäume... Wo-? Ach ja.
Energisch verbannte ich die imaginäre Präsenz der Vergangenheit aus meiner Wahrnehmung. Keine Holzhütte, Moira, du stehst auf einer Lichtung. Und nein, du umklammerst nicht unbeholfen Tzires- Moment mal, das war keine Einbildung. Ich grub meine Finger wirklich in etw- Dolch. Stimmt.
<Alles ok?>
<Schon, nur... irgendwie...>
<Du wolltest Wilfriede erklären, dass ihr Bruder nicht verloren ist.>
<Genau. Danke!>
Die schmale Klinge klemmte ich unter einen der Lederriemen an meinen Schuhen, dann schritt ich zügig zu den vier Personen vor mir.
„Da."
Hektisch folgte die junge Blondine meinem Zeigefinger.
„Was ist-"
„An seinem Hals, etwas schwer zu erkennen, weil seine Haare im Weg sind. Siehst du die kleinen Splitter hier?"
„Ja, aber die haben sich nur in seinen Strähnen verfangen."
Jetzt schnell, gleich weint sie wieder.
„Nein, eben nicht."
Geschickt zog ich einen der winzigen Pfeile aus der blassen Haut. An der Einstichstelle bildete sich fast sofort ein kleiner Blutstropfen.
„Ich habe sie betäubt. Sie sind gelähmt. Mehr nicht."
„Wie konntest du- das ging doch viel zu schnell!"
Schon brannte mir eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge, doch ich beherrschte mich. Hicks klang einfach zu verzweifelt, um das wegstecken zu können.
„Während ich die Federn wieder eingespannt habe, sind mehrere Pfeile in den Schlot gerutscht und haben ihn verstopft. Als Astrid abgesprungen ist, war ich abgelenkt und habe die Federn so stark überspannt, dass sie die vielen Pfeile wie einen Korken rausgeschleudert haben. Leider ist etwas Ähnliches auch bei meinem anderen Arm passiert und die beiden haben eine sehr hohe Dosis abbekommen. Daher spürt man Puls und Atmung kaum, aber um an diesem Gift zu sterben, braucht es einiges mehr. Glücklicherweise hat die Wucht die Hölzer nicht komplett in ihren Hälsen versengt, sonst hätten sie ein großes Problem. Zieht die Pfeile raus und gebt ihnen etwas Zeit, bis die Wirkung verfliegt."
<Findest du noch immer, dass du nicht hättest zielen sollen?>
<Vielleicht.>
Nachtblitz schnaubte.
<Dich trifft an Astrids Situation keine Schuld, nach wie vor nicht. Und es ist nicht falsch, ihr weiterhin die Chance zu erhalten, wieder glücklich zu werden. Akzeptiere das, sonst kannst du zu Sungird laufen.>
Abwesend beobachtete ich, wie die anderen Drachenreiter die Wahrheit allmählich verstanden und ebenfalls zu der Blondine stürzten. Es war erschreckend und zugleich schön, den Wandel ihrer Gesichtszüge zu verfolgen, zu sehen, wie die verschwundene Hoffnung neu auflebte. Vielleicht. Vielleicht lag meine Gefährtin richtig. Aber wenn ich an ihre Augen dachte, an ihre Erscheinung... Ich hätte ihr diesen Schmerz nehmen können, ich hätte sie sich selbst... erlösen lassen können. Ich hatte es nicht, weil ich es nicht gewollt hatte. Wie hatte Hicks es genannt? Egoistisch. Was Astrid bevorzugte, war mir in diesem Moment egal gewesen. Doch was hätte sie gewollt?
Wieder fand mein Blick Hicks, der der Kriegerin vorsichtig blutverkrustete Haare aus der Stirn strich.
Unauffällig bewegte ich mich selbst in die entgegengesetzte Richtung, weg von der Gruppe und zu der abseits stehenden schwarzen Drachin.
<Ich versuch's.>
Die dunklen Augen glitzerten mich warm und verständnisvoll an, gleichzeitig strahlten sie jedoch eine Seriosität und Besorgtheit aus, die die Bedeutung dieses Themas für meine Freundin unmissverständlich aufzeigten.
<Das Laufen?>
<Das Lau->
Zu spät registrierte ich ihren neckenden Unterton.
<Nachtblitz!>
„Moira? Wo gehst du hin?"
Ohne anzuhalten zuckte ich mit den Schultern. Als ich Raffnuss antwortete, wallte meine Stimme gleichgültig durch die spärlichen Reste des Entsetzens, die sich mit aller Macht an den leisen Zweifeln festkrallten.
„Weg."
Und schon schwappte mir die nächste Schockwelle entgegen. Fassungslosigkeit beschrieb die erstarrten Gesichtsausdrücke der Reiter nur sporadisch, auch Erschütterung war zu mild.
Kurzerhand zog ich mich aus der Sicht meiner Freundin zurück. Die Reiter hätte ich sowieso nicht mehr lang sehen können, sie starrte mich nun ebenfalls groß an.
<Moira? Wirklich?>
„Ich dachte, ein einziges Mal könnte ich euch den Gefallen tun und auf eine Anweisung hören. Daher", behände schwang ich mich in den Sattel, „verschwinde ich jetzt, wie Hicks es wollte."
„Nein!", hallte es sowohl von außen als auch von innen gegen meinen Geist.
„Das hatte ich nicht so gemeint! Ich wollte nur, dass... Du kannst-"
Hicks' gestotterte Retuschierungsaktion ging in Nachtblitz Ansage unter.
<Oh nein, diesmal ganz sicher nicht. Sie wissen jetzt zu viel und zu wenig, wenn du sie allein lässt, bringen ihre Interpretationen sie unweigerlich um. Da mache ich nicht mit, vergiss es. Was du ihnen erzählst, kann ich nicht beeinflussen, aber wir werden unter Garantie nirgendwohin verschwinden. Nicht grundlos. Und nein, das war kein Grund. Basta.>
<Grund? Kjell.>
Blitzschnell fegte ihr Blick über die kleine Gruppe.
<Verdammt. Wie lange?>
<Bevor ich Hicks angesprochen habe.>
Augenblicklich spannten sich die Muskeln unter den schillernden Schuppen an. Die Sekunden vor dem Absprung nutzte ich, um das junge Oberhaupt mit einem kalten Blick zum Schweigen zu bringen.
„Doch.", ließ ich seine Erklärung zu Bedeutungslosigkeit zerfallen.
„Doch, du hast es ernst gemeint. Jedes Wort."
Mit einem Ruck schossen wir über die tränennassen Gesichter hinweg in den Himmel, wo stürmische Böen Wolkenfetzen zerrissen.
Der Wind tat gut. Scharf zischte er durch die Öffnungen der Maske, verwirbelte meine Haare und trieb die massenlose Schwere davon.
Aus einer Eingebung heraus befreite ich mich von dem Helm, gab der reißenden Luft eine größere Angriffsfläche. Strähnen peitschten um mich herum, Kälte schnitt mit unzähligen Stichen in meine Haut, meine Augen tränten und die Lippen rissen auf. Aber zugleich zerrten die Windstöße das dunkle Bündel, das sich seit der Erinnerung am Rand meines Bewusstseins angestaut hatte und hinterhältig begann, seine Wurzeln weiter vorzuschieben, hervor ins Licht und an die Luft, stießen es durch splitterscharfe Wolkentropfen und ließen es in der Freiheit des Himmels schmelzen wie Schatten in der Sonne. An seiner statt sog ich den Duft des sich anbahnenden Regens auf, füllte meine ganze Wahrnehmung mit der Kraft von Nachtblitz' Flügelschlägen und den wilden Sturmzügen. Zwischen den Bäumen spürte man den Wind kaum, doch hier oben tobte er, und ich genoss es. Wir trieben auf ihm davon, wogten auf und ab und entflohen der Kraft, die uns zum Boden ziehen wollte.
Kjell war schnell gefunden. Zusammengekauert hockte er auf einer mit Zielscheiben versehenen Lichtung, ein schmutzig brauner Punkt inmitten wogendem Grün.
„Hey...", murmelte er schwach, nachdem meine Freundin gelandet war.
„Ich hätte schneller sein müssen, oder?"
<Selbstredend. Fluchtartiges Davonschlendern hat sich nicht zufällig nicht durchgesetzt.>
Ich verschränkte die Arme und pflichtete der Drachin still bei. Meine Augen fixierten unterdessen den von einer abgewetzten Fellweste bedeckten Rücken.
„Wieso hat sie nicht gehört? Ich hatte doch... Wenn ich nur schneller gewesen wäre... oder lauter... oder..."
Genervt schnaubte ich.
„Gar geblieben wäre? Jedenfalls hättest du dann endlich kapiert, dass dir abhauen nichts bringt."
„Nein- also ja, aber- Was?"
Perplex drehte er sich um.
Ich hob vielsagend die Augenbrauen ein Stück an.
„Flucht ist sinnlos."
„Ich bin nicht ge- Schon, aber nicht... also doch, aber eigentlich wollte ich... Ich wollte nicht abhauen, sondern euch euren Freiraum lassen, weil... na, weil... ich im Moment wohl eine der letzten Personen bin, die ihr sehen wollt. Und außerdem habe ich versagt. Ich hätte schneller sein müssen, um euch davon zu berichten, aber ich war zu langsam und dann..."
Angeregt gestikulierte er.
„Zu spät."
Seine Arme plumpsten kraftlos zu Boden.
Hilfesuchend musterte er mein Gesicht. Vergeblich. Ich verzog keine Mine.
„Mist, Moira, ich hätte mich mehr beeilen sollen."
„In der Tat, wir sollten los. Wenn Astrid Wind davon bekommt, dass du weglaufen wolltest, reißt sie dir den Kopf ab."
Nein, seine Begriffsstutzigkeit hatte sich auch nach vielen Jahren nicht verändert.
„Astrid ist doch-"
„Beide sind nur betäubt, aber als ich das erklärt habe, warst du bereits vom Erdboden verschluckt. Und jetzt komm, sonst gibt es heute wirklich Tote."
Irritiert sah Rotzbakke von mir zur landenden Nachtblitz. Womöglich überlegte er, ob ich echt oder nur eine Halluzination war.
„Du..."
„Bin wieder da. Kjell war nicht allzu weit gekommen."
Jetzt bemerkte die restliche Truppe uns ebenfalls. Verwirrung nistete sich in jedem Blick ein, halb verflochten mit Erleichterung. Zu meiner heimlichen Freude fiel da der Dieb elegant wie ein Sack überlagerter Knollen hinter mir aus dem Sattel.
<Ups... Das war gaar nicht meine Absicht...>
„Kjell?! Wo kommt-"
Resigniert schlug sich Hicks gegen die Stirn.
„Nicht schon wieder..."
„Hä? Wir haben heute noch nichts... fast nichts... im durchschnittlichen Vergleich verschwindend geringfügigen Schaden verursacht!"
„Von dem Hörtest abgesehen."
„Joa, und die Schuhe sind nur schwach angekokelt."
Raffnuss nickte unterstützend, bis ihr urplötzlich etwas in den Sinn kam und sie erschrocken zu ihrem Bruder herumfuhr.
„Das Unterwasser-Atmungs-Kugelrund!"
„Ach du Schreck! Also, wir wollten wirklich etwas Anderes nehmen, aber nichts übertrifft dein Fernglas..."
„Wir haben es nur geborgt, du bekommst es zurück... nur, Äh... nicht heute..."
„Oder morgen..."
„Übermorgen..."
„Tja... eh..."
Taffnuss kratzte sich überlegend im Nacken.
„Am besten vergisst du einfach, uns danach zu fragen..."
„Bei Thor, was habt ihr beide diesmal- Puh, vergesst es. Ich will's lieber nicht wissen."
„Weise Entscheidung."
„Wahrlich vorausschauend."
Deutlich beruhigter atmeten die Zwillinge durch.
„Heißt das, wir haben ihn abermals vergessen?"
Fischbein sah zerknirscht zu dem Jungen, der schnaubend versuchte, Nachtblitz' Tatze von seiner Weste zu schieben. Sinnlos, ihr ganzes Gewicht lastete auf diesem Bein.
„Augenblick, dann ging es überhaupt nicht um uns?! Hicks, das war unfair!", ereiferten sich die Zipperreiter einstimmig.
„Wo wollt ihr ihn denn vergessen haben? Ich hab' ihn bisher noch nie gesehen."
Grübelnd musterte Wilfriede unseren unfreiwilligen Begleiter.
„Am Strand, hinter dem Stein. Meine Rufe habt ihr überhört,", er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, „weil jemand mich knebeln musste."
Zack, da flog die Aufmerksamkeit wieder zu mir. Na dann.
„Fast, Fischbein. Ihr habt ihn vergessen, das ist wahr und war mein Plan. Nach meinem Erkundungsflug war jener nämlich drauf und dran, mit Informationen um sich zu werfen. Um das zu verhindern und euch möglichst unwissend über Sungird und die Legende zu halten, habe ich dafür gesorgt, dass ihr ihn zurücklasst. Aber letztlich hat Wilfriede freundlicherweise den Part des Unterrichtens übernommen, sodass es nichts gebracht hat. Und jetzt wird's kompliziert."
Ein letztes Mal zog ich die Möglichkeit des Schweigens in Betracht, schloss meine Augen, atmete durch und verwarf sie. Meine Freundin hatte Recht, die Reiter wussten zu viel, um sie raushalten zu können, und zu wenig, um zu verstehen. Sie mussten die ganze Geschichte kennenlernen.
„Erinnert ihr euch an die Schatulle von Selma?"
Einstimmiges Nicken.
„Ich habe-"
„Woher kennst du Selma?!"
Die Stimme des jungen Mädchens überschlug sich und riss meinen roten Faden brausend mit davon. Sie kannte Selma? Das war unmöglich... oder allenfalls unwahrscheinlich. Doch woher? Und warum? Wie?
„Ich schätze, das ist jetzt mein Part."
Überrumpelt gab Nachtblitz die Weste frei und Kjell stand zögernd auf.
„A-also, nachdem ihr gegangen wart, habe ich die Fesseln durchgescheuert und habe mich auf die Suche nach euch gemacht. Schließlich fand ich eine offenbar bewohnte Höhle, aber dort war niemand. Während ich sie durchsucht habe, sind mir Briefe in die-"
„Warum hast du in meinen Sachen gekramt? Das ist privat!"
„Uhm, d-das war keine Absicht, ich habe... Naja, ich bin gestolpert und gegen ein schräges Brett an der Wand gefallen, woraufhin das Geschirr darauf runtergefallen ist und als ich es aufheben wollte, habe ich versehentlich eine Kettenreaktion ausgelöst und dann ist irgendwann eine Kiste mit diesen Briefen umgefallen."
„Oh. Na dann... Augenblick, DA STAND GESCHIRR DRAUF?! War das sauber oder dreckig?!"
„Benutzt, glaube ich?"
Das Mädchen lief rot an.
„WILFRIED! Das ist unfair! Ich war weg, da kannst du mir nicht einfach den Abwasch aufhalsen! Du doofer-!"
Grashalme stoben durch die Luft, als ihre Faust den Boden traf.
„Hast du es danach wieder auf das schiefe oder auf das gerade Brett daneben gestellt?"
„Öh... es... Äh... weder noch?"
Ihre Mine hellte sich auf.
„Gut, dann muss ich mich nachher nur beeilen und alles auf sein Brett türmen. Puh."
„Ja, jedenfalls..."
Planlos suchte Kjell nach Worten.
„Briefe. Wie auch immer, ich war neugierig und habe sie mir angesehen."
Stur erwiderte ich seinen intensiven Blick.
„Selma hat sie dazu aufgefordert, die Geräte zu bauen und ihnen regelmäßig Pakete mit Dingen, die sie brauchten, geschickt. Und sie hat ihnen erklärt, dass sie die Truhe dort beschützen sollen, bis..."
„... es soweit ist. Wir würden dann schon wissen, wann die Zeit ran ist."
Vorsichtig nickte der Dieb.
„Ich habe auch die Legende gefunden. Und da ist ein riesiges Missverständnis aufgetreten."
Ich stierte auf die mir gereichten Pergamentrollen. Keine Frage, das war Selmas Handschrift. Sogar ihr Geruch klebte an den Seiten wie alte Spinnweben. Und diese Seiten, solche fand man nur bei ihr. Fast weiß und ganz fein gemasert, an den Rändern standen dünne Fasern hervor, von den kleingeraspelten Wollresten, die sie zur Stabilität hinzufügte.
Früher hatte ich das Material geliebt. Wann immer ich in der Hütte gesessen hatte, malte und schrieb ich darauf herum, nur, um zu spüren, wie die Kohle über die weiche Oberfläche fuhr, und zu betrachten, wie winzige Farbpartikel an dem Pergament haften blieben. Als sie mir eines Morgens eine schlichte Feder und ein Fässchen Tinte vor die Nase gestellt hatte, war ich die nächsten Tage nicht mehr aus dem Strahlen herausgekommen. Die letzten Tropfen der edel anmutenden Substanz hatte ich verbraucht, um Nira ein Bild zum Abschied zu zeichnen. Es zeigte eine weite Landschaft voll fremder Kräuter, an den Rändern öffneten sich unerforschte Gebirge. Doch vor dem Horizont standen die Schatten zweier Mädchen überdauernder als jeder Berggipfel.
Wahrscheinlich hatte sie es auf ihrer Reise mit dem Schlangenzahn Johann verloren. Oder bewusst weggeschmissen, wer wusste das schon.
„Gebt bitte auf Kriemhild acht.", formten meine Lippen monoton.
Im Augenwinkel flogen Wilfriedes Haare, als sie energisch gestikulierend widersprach.
„Nein nein, ‚Nehmt euch bloß vor Kriemhild in acht.', heißt das."
Steif schüttelte ich den Kopf.
„Da fehlen ein Bogen, die bepunktete Schleife und das Zeichen für ‚vor'. Wenn man die Äquivokation der Symbole berücksichtigt, würde es höchstens ‚Nehmt bitte Kriemhild in acht.' lauten."
Monatelang hatte ich das üben müssen. Monatelang hatte ich darüber geschimpft.
Monatelang hatte Selma mir die Wichtigkeit begreifbar machen wollen.
Nach Jahren verstand ich ihre Bemühungen endlich.
„Sie war halt in Eile und hat es vergessen."
Ruckartig hob ich den Kopf.
„Hat Selma jemals einen noch so kleinen, überflüssigen Haken ausgelassen?"
„N-nein..? Oh."
Betretenes Schweigen machte sich breit.
„Dann ist Kriemhild nicht böse?"
„Nein.", murmelte Kjell. Zum ersten Mal überhaupt war ich ihm dankbar, dass er an meiner Statt antwortete. Meine Gedanken rasten, keiner hatte die Zeit, sich mit derartigen Fragen zu befassen.
Selma hatte das von langer Hand geplant. Sie hatte gewusst, dass ich eines Tages hier aufschlagen und nach der Truhe suchen würde. Deshalb hatte sie die Geschwister hier platziert, warum sonst?
Wieso hatte sie es mir nicht gesagt?
Noch wichtiger: Weshalb hatte sie gelogen?
Wohin eure Reise führt, weiß auch ich nicht.
Von wegen. Sie hatte es nicht nur gewusst, sie hatte es selbst geplant und eingefädelt.
<Da müssen wir etwas falsch verstanden haben. Sie lügt nie.>
<Es gibt immer ein erstes Mal.>
<Nicht dafür. Keiner von uns kann lügen, weder du noch Selma oder ich. Wir können uns Hintertürchen offen lassen, nur Teile der Wahrheit verraten oder ganz schweigen, aber keine bewussten Lügen verbreiten. Eine Seelenbindung macht das unmöglich.>
<Selma hat keine->
Ich stutzte. Die Seniorin hatte keinen Drachen an ihrer Seite, meines Wissens nach hatte sie das nie gehabt. Dementsprechend konnte keine Seelenbindung entstanden sein. Das ging nicht.
<Moira, das Leben spielt oft unfair. Auch ein zerrissenes Band bleibt ein Band.>
<Sie hatte...>
Ich schluckte hart. So wenig wusste ich über die Frau, die mich über Jahre gelehrt und großgezogen hatte. Zu wenig. Aber natürlich, nur so ergab sich ein -reichlich verworrener- Sinn. Daher kannte Selma alle Vorteile und Tücken der Seelenbindung, aus diesem Grund wusste sie, wie das Gift zu bekämpfen gewesen war.
Vermutlich hatte sie auch deshalb mit aller Macht die zerbrochenen Vertrauensstreben zwischen Nira und mir zu flicken versucht.
„Solch eine Freundschaft ist wertvoller, als du derzeit erahnen kannst."
Heute erschien ihre Aussage viel eindringlicher, durchdrungen von bitterdumpfen Nachhallen eines weltenverschlingenden Verlustes.
<Ich bezweifle, dass Selma unsere Flugroute meinte. Vielmehr...>
<Das, was danach kommt.>
<Und die Erfahrungen.>
„Ich wundere mich..."
„Oh ja, ich mich auch..."
Unisono schwenkten die Zwillinge ihre anklagenden Zeigefinger auf Kjells Rumpf.
„Seit wann kannst du diese verschnörkelten Striche lesen?"
Wenn die Midgardschlange direkt neben uns ihren Schlund öffnen würde, der Junge spränge ohne Zögern hinein. Tat sie jedoch nicht, also begnügte er sich unwillig mit nervösem Händekneten.
„Ich... Äh... Hm... Tja, das... also..."
Drucksend wand er sich unter den auffordernden Blicken, bedacht, bloß nicht in meine Richtung zu schauen.
Das sprach für sich.
„Kjell. Antwort. Jetzt."
Mit meinem Ton hätte man Feuer einfrieren können, dafür interessierte ich mich gerade allerdings herzlich wenig. Offensichtlich hatte seine neu erworbene Fähigkeit mit mir zu tun und da gab es für mich kein Pardon. Nicht bei ihm.
„I-ich habe geübt..."
Zweifelnd verschränkten sich meine Arme. Er dachte doch nicht ernsthaft, dass ich ihm das abkaufte.
„Geübt?"
„J-ja."
Ich kniff die Augen ein Stück zusammen. Kjell zog den Kopf ein.
„Aha. Geübt also."
Sein Aufatmen war nicht zu überhören, als ich mich abwandte.
„Ich hoffe, dir ist bewusst, dass deine ‚Übungen' keinen Wert mehr haben. Könnte sonst peinlich für dich werden."
Man hörte ihn hart schlucken.
„Wenn ich gewusst hätte, was das ist, hätte ich es nie angerührt, wirklich!"
Ein genervtes Seufzen verließ meine Lippen, ehe ich es verhindern konnte. Betont langsam sah ich über meine Schulter zu ihm zurück.
„Es ist mir egal, Kjell. Vollkommen egal. Ich bin fertig damit und gut ist."
„Aber-"
„Aber was? Da stand Persönliches drin? Du hast mal nebenbei meine frühere Privatsphäre zerstört? Ja, stimmt. Und? Sieh's endlich ein, diese Briefe sind überholt."
Niedergeschlagen sah der Gauner zu Boden. Ich drehte mich nach vorn, schwach überrascht von der Irrelevanz dieses Themas für mich. Wann hatte ich diesen Strich gezogen?
So sehr ich auch überlegte, ich kam nicht drauf. Es war ein schleichender Prozess gewesen, aber ich bereute ihn nicht. Kjell sollte allmählich dasselbe tun, es blieb ihm irgendwann keine andere Wahl. Selbst jemand wie er konnte nicht ewig in der Vergangenheit leben und sich damit nicht selbst verlieren.
<Briefe?>
<Briefe.>
<An?>
<Alle.>
Kurz überlegte ich.
<Vor allem für meine Mutter und Nira.>
Briefe, randvoll mit Geheimnissen, großen und kleinen Erlebnissen, Gefühlen, Vorstellungen, Träumen, Ängsten... Ich hatte dort alles hineingeschrieben. Wie stolz ich nach dem ersten Auftreten der Rächerin war, was für Fortschritte ich im Training machte, meine Enttäuschung, wenn ich jeden Morgen bereits vor Sonnenaufgang zum Hafen rannte und fest überzeugt war, diesmal Johanns Schiff mit meiner besten Freundin vorzufinden, schlussendlich aber lediglich leere Stege oder andere Boote antraf. Alles. Selbst die Eskalation der Lage und meinen unerschütterlichen Widerstand gegen die Drachenjäger waren dort konserviert, sauber verschnürt als Briefe, die ihren Adressaten niemals erreichen konnten, in dem Fall meiner Mutter, und sollten, was Nira betraf. Selbstverständlich blieb das Herzflattern, das Kjell bei mir die ersten paar Wochen ausgelöst hatte, genauso wenig verschwiegen wie detailgenaue Ausführungen über kommende Aktionen als Rächerin.
Getarnt hatte ich den bedeutungsschweren Block inmitten eines Stapels alter Schreibübungen. Kein Mensch würde jemals da suchen, war ich mir sicher gewesen. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass jemand die Nachrichten zufällig entdeckte, weil er die von mir für uninteressant erklärten, alten Übungen haben wollte.
Heute würde ich die Blätter nehmen, mich in den Himmel schwingen und sie ausschweifend über der Welt verteilen. Flatternde Geheimnisse, Briefe, die nach Jahren vergeblichen Wartens schließlich gelesen wurden. Und für mich der letzte Schritt weg aus der schwarzstaubigen Zeit.
„Los, wir sollten sie lieber in die Höhle bringen. Heidrun braucht außerdem dringend eine Behandlung."
Wie auf Kommando schüttelte sich der Körper der Schwarzhaarigen schmerzhaft unter rauen Hustenschüben. Gerade noch rechtzeitig hechtete Fischbein vor und stützte sie, bevor ihre Beine nachgaben und sie keuchend in seinen Armen zusammenbrach. Allerdings nur solange, bis sie ihren Helfer erkannte und sich schleunigst von ihm losmachte, sich kratzend räusperte und unter enormen Kraftaufgebot zurück in den Sattel hievte.
„Worauf wartet ihr?"
Jeder Blinde hätte mitbekommen, wie gezielt sie den sorgenvollen Blicken des Blonden auswich. Er wollte eben den Mund öffnen, überlegte es sich jedoch in selbiger Sekunde anders und trottete mit schlecht überspieltem bedrückten Gesichtsausdruck zu Fleischklops, die ihn vergeblich aufmunterte.
„Ja,", murmelte er schwach, tonlos.
„Ja, wir sollten los."
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6408 Wörter
Und ja, den Dolch oben habe ich gezeichnet.
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