Erster Akt
Ein weiteres Mal verfliegt die Zeit,
Und der Teufelskreis zieht sich weiter bis in die Unendlichkeit.
Ein Neubeginn wird starten,
Voller Hoffnung und Glück wird es auf sie warten.
Das Schicksal hat erneut seine Finger im Spiel,
Doch diesmal hegte es ein and'res Ziel.
Es würden Blüten regnen von himmlisch blauer Gestalt,
Die erinnern an Seelenspiegel gefärbt in tiefem Kobalt.
Worte und Gesten aus vergangener Zeit
Kämen zurück nach all dem vielen Leid.
Sie trägen Früchte, sie trägen Leben,
Sie trägen Liebe, die sie sich schon lang' erstreben.
Vielleicht fänden sie in dieser Zeit ihr letztes Happy End,
Bevor sich der Kreis der Reinkarnation endgültig vollend'.
Ihre Herzen rufen, ihre Seelen weinen,
Bis sie sich endlich wieder können vereinen.
Bis sie sich endlich finden in früher Morgenstund',
Und sich alte Erinnerungen machen kund.
{unbekannt}
~♡~
Staubige Straßen, das Brummen vorbeifahrender Autos, Stimmen, die in den verschiedensten Sprachen und Tonlagen Geschichten und Erlebnisse erzählen und das bedrückende Gefühl, von der massiven Anzahl der Menschen erdrückt zu werden; es waren ganz alltägliche Dinge in der Großstadt. Umzingelt von Geschäften und großen Warenhäusern schlängelten sich die Einwohner und Touristen des Landes durch die belebten Straßen. Manche ließen sich Zeit, andere wiederum waren vom akuten Stress geplagt. Sie alle trugen ihre eigenen Erfahrungen mit sich; eine lange und weit verzweigte Geschichte, die wie das Individuum, das sie zu beschreiben versuchte, einzigartig war.
Jede Geschichte war anders.
Jede Geschichte verfolgte andere Werte und Vorstellungen.
Jede Geschichte offenbarte neue Seiten des Lebens und beschrieb diese neu.
Jede Geschichte existierte nur ein einziges Mal auf der Welt.
Doch niemand würde jemals erahnen, wenn sie einer Person begegnen, deren Geschichte tiefer reichte, als ihr momentanes Lebensjahr. Eine Geschichte, die Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte zurück ging und immer wieder von Neuem gesponnen wurde. Eine immerwährende Geschichte, die ihr Ziel nicht kannte. Eine Geschichte, ohne Ende.
Oft wussten die davon Betroffenen nicht einmal, wie schicksalhaft ihr Leben weitergereicht wurde. Sie wussten von nichts, aber sie spürten es. Sie spürten, dass etwas in ihrem Leben fehlte, dass sie eine Aufgabe haben...Und dieser Aufgabe würden sie, trotz fehlender Orientierung, über hunderte Jahre hinweg hinterherlaufen. Denn sie fühlten, dass das Erreichen dieser Träume ihnen eine neue Seite des Lebens offenbarten, dass sie das Tor zum ewigen Glück waren.
Ein Träger dieses Phänomens wurde in einem jungen Mann in Deutschland gefunden. Seine Seele sei seit hunderten von Jahren auf dieser Erde, doch etwas hielt sie davon ab, letzten Endes zu ruhen.
Etwas jagte ihn durch viele Jahrhunderte.
Etwas ließ ihn immer wieder von Neuem beginnen.
Etwas Wichtiges wurde ihm genommen; etwas, das er schon so oft versuchte, zu erreichen und dann doch wieder verlor.
Diese Unvollständigkeit, die in seinem Herzen wohnte, machte ihn nur zu einem halben Menschen. Ihm fehlte seine andere Hälfte; ihm fehlte das, nach was sein Herz tagtäglich schrie; ihm fehlte, das, was ihn wieder zu einer ganzen Person zusammenflickte. Das, was ihn ergänzte und die Leere seines Herzens mit Fülle beglückte. Das, was seine gebrochene Seele wieder heilen konnte.
Je älter er wurde, desto mehr rief sein Herz nach diesem Etwas. Manchmal würde er mitten in der Nacht aufwachen, das rasante Klopfen seines Herzens wahrnehmen und bemerken, dass stille Tränen seine Wangen runterliefen. Er wusste früher nie, woher sie kamen, weswegen er oftmals verwirrt aus dem Fenster sah, um nachzudenken und die Sterne zu beobachten. Die hellen Sterne schenkten ihm oft inneren Frieden und Ruhe, die ihm der stressige Alltag verwehrte. Gleichzeitig verspürte er eine gewisse Verbundenheit, ein unsichtbares Band, zwischen ihm und den Nachthimmel. Und jedes Mal, wenn er diese Verbundenheit spürte, breitete sich ein ungewohnt familiäres Gefühl in seiner Brust aus, das ihm das Gefühl gab, einer ihm bislang unbekannten Person unglaublich nahe zu stehen. Einer Person, die sein Kopf nicht kannte, jedoch sein Herz und seine Seele. Und wenn diese Verbundenheit ihn in jenen Nächten heimsuchte, dann würde er abermals die Hand der glatten, kalten Fensterscheibe entgegenstrecken, seinem Herzschlag lauschen und den hellsten Stern am Himmelszelt betrachten. Eine blasse Silhouette würde sich dann erneut vor seinen Augen aufbauen, die mit einem kurzen Wimpernzucken wieder verschwand, aber das Empfinden bliebe erhalten. Er spüre die Wärme einer Handfläche auf der anderen Seite seines Fensters, ohne ein dazugehöriges Gesicht zu erblicken. Aber es war immer jemand da. Nur einen Katzensprung entfernt und doch erschien es ihm so unglaublich weit weg. Die Welt würde dann ein weiteres Mal in einen Strudel der Dunkelheit gesogen werden, aber ein kleiner, lauer Funken Licht würde ihm aufgeweckt entgegen leuchten. Und er würde leise wispern:
,,Woher kenne ich dich nur?"
***
17.Juli 2026
[03:54 Uhr, Deutschland]
"Oi, Zwerg! Gib Gas oder wir bleiben wegen dir in einem Stau stecken!", brüllte eine laute, dezent schrille Stimme vom unteren Treppengelände des Hauses in den ersten Stock hinauf und weckte dabei wohl alle lebende Geschöpfe des Hauses, mitunter die Hunde Blackie, Berlitz und Aster.
"Dein komisches Gedichtszeug kannst du dir auch noch im Auto reinziehen, komm jetzt oder ich fahre alleine! Dann darfst du zu Fuß nach Italien latschen, während ich schon gemütlich am Strand liege und mir ein Eis reinziehe." Keine Sekunde später hörte man das Zuknallen einer Tür und die schnellen Schritte, die über dem dunklen Parkettboden schleiften. "Mein Gott, Gil, musst du immer gleich so laut schreien, dass wir die halbe Nachbarschaft aufwecken?", ein blonder, junger Mann schleppte sich mit ungekämmten und zerzausten Haaren die Treppen hinunter, gefolgt von einem schwer aussehenden Rollkoffer, der bei jedem Aufprall mit der Treppe einen stumpfen Ton verursachte, "Und hör auf mich 'Zwerg' zu nennen, wenn ich doch größer bin als du..." Letzteres murrte der Blonde schlaftrunken.
Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, da er zu vertieft in seiner eigenen Welt gewesen war und die Nase in ein altes Buch gesteckt hatte. Er hatte dieses zwar bereits einige Male gelesen und die Texte darin waren ihm mehr als vertraut, aber dennoch zog ihn eine, ihm unbekannte, Kraft immer wieder zu dieser kleinen Ansammlung an Texten und Gedichten. Es war, als würden die verfassten Worte mit jedem neuen Lesedurchgang eine neue Bedeutung, mehr Tiefe und einen neuen Sinn offenbaren, die allesamt darauf warteten, von ihm entschlüsselt zu werden. Keiner, der ihm bis jetzt begegnet war, empfand dasselbe. Sie sahen lediglich sich reimende Wörter in einer Anordnung von Terzetten und Quartetten, die vollkommen bedeutungslos zusammengewürfelt wurden.
Doch warum war das so? Warum sah denn niemand außer ihm, dass mehr hinter den Fassaden dieser sorgfältig gewählten Wörter steckte? Dass sich eine Geschichte dahinter verbarg, die erst wieder gefunden werden musste wie einen Schlüssel, den man verlegt hatte.
Gilbert, dessen Haare im silbrig glänzenden Mondschein noch geisterhafter als ohnehin schon erschienen, grinste breit. "Trotzdem bist du mein kleiner Bruder, Ludwig, und wirst es auch immer sein. Und auch, wenn du zwei Meter groß wärst, würde ich dich so nennen, weil du in meinen Augen immer der kleine Zwerg sein wirst, der mir früher Tag ein Tag aus nachrennen musste."
"Wie du meinst..." Ludwig hatte momentan keine Lust, mit seinem Bruder über Belangloses zu diskutieren. Er wollte einfach so schnell wie möglich im Auto landen und losfahren. Es war sowieso schon sehr atypisch für ihn, dass er derjenige gewesen war, den man erst rufen musste, damit sie rechtzeitig los fuhren. Normalerweise war das eher umgekehrt.
Der Blonde seufzte leise und strich sich ein paar seiner Strähnen aus dem müde erscheinenden Gesicht.
Und ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, umfasste er wieder den Griff seines Rollkoffers, ging wortlos an seinem großen Bruder vorbei und verließ das Haus, um sein Gepäck im Auto zu verstauen. Eine lange Autofahrt stand ihnen bevor und Ludwig hoffte inständig, dabei wenigstens ein wenig Schlaf zu bekommen.
***
Das kaum hörbare Rattern der Räder, die über die unebene Straße rollten, das kurze Zischen, wenn ein Auto aus der Gegenrichtung vorbeifuhr und das damit verbundene Scheinwerferlicht, das den Innenraum des Autos für einige Sekunden sanft erhellte, würde für den beinahe achtzehnjährigen Ludwig ein immer gleich bleibendes Bild für die nächsten Stunden sein. Die Musik, die relativ leise aus den Lautsprechern des Autos dröhnte, war eine von Gilberts vielen Rock-Playlists, die er sich bereits beim Kauf des Autos zusammengestellt hatte, da er der Meinung war, dass die Musik in den Charts heutzutage nur mit Müll vollgestopft war. Doch auch der fetzige Ton von E-Gitarren wurde vom sandigen Knirschen der Kieselsteine gedämpft - jedenfalls im hinteren Bereich, wo Ludwig eingequetscht zwischen Badetaschen und Koffer sitzen musste. Schlafen konnte er unter diesen Umständen sowieso nur schlecht, weswegen er einfach die vorbeizischende Landschaft im Schatten der Nacht betrachtete, aber außer einem Haufen Bäume und weit verstreuten Straßenlaternen konnte er kaum etwas erkennen. Vielleicht sah man hin und wieder einige Lichter an leichten Erhebungen des Bodens in der Ferne, die zu Häusern gehörten, aber ansonsten gab es nichts zu sehen, außer weite Flächen, Bäume und das ein oder andere Feld...
Wortlos strich Ludwig über den glatten Einband seines Buches und ließ seine Finger seitlich an den Seiten vorbeiziehen. Es war ein türkis-blaues Buch, ungefähr so groß wie ein Manga mit einem bräunlichen Rechteck, das sich wie ein Rahmen ein bisschen weiter im Inneren des Einbands entlang zog. Die Ecken waren bereits abgenutzt und die ein oder andere Seite war bereits lose, aber das hielt den jungen Deutschen nicht davon ab, diese Ansammlung von Texten überall mithin zu nehmen. Aufmerksam auf diese Besonderheit wurde er erstmals durch den Deutschunterricht in der Schule. Sie hatten gerade über die Literatur des vergangenen Jahrhunderts gesprochen und einige Texte analysiert, die während dieser Zeit entstanden waren. Mitunter fielen auch die Gedichte eines früh verstorbenen Italieners.
Ludwig, der bereits sein gesamtes Leben lang unbewusst wie ein orientierungsloses Kind seinen Weg in der Welt gesucht hatte, hatte in dem Augenblick, als er die Wörter des jungen Mannes das erste Mal las, eine Art Lichtblick erblicken können. Es war, als hätte sich im schwummrigen Nebel ein schmaler Pfad erstreckt, der trotz seines unscheinbaren Auftretens und seines schnellen Verschwindens eindeutig spürbar war. Es war wie ein Hauch, ein kurzer Luftzug, der seine schlummernde Seele aus seinem langjährigen Schlaf erweckte.
Und obwohl er auf Anhieb oft nicht verstehen konnte, welche Tiefe, Nachrichten und Gefühle sich hinter dem Wörter-Code verbargen, hatte es ihn aufs Innigste berührt, als wäre er derjenige gewesen, an den die wenigen Zeilen gerichtet waren. Ludwig fand sich oft, ohne es zu wissen, mit zwei oder mehrere herabrollenden Tränen an seinen Wangen, die kühle, nasse Linien auf seiner Haut hinterließen. Der Grund dafür war ihm weitgehend unbekannt. Er hatte nichts gefühlt, noch an Deprimierendes gedacht...die Tränen kamen von alleine. Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr seine Seele, wie sehr sein vor Vergessenheit betäubtes Herz darunter Höllenqualen litt.
Als seine Augen schlussendlich den Namen des Verfassers erblickt hatten, befand sich sein Kopf nicht mehr auf der Erde, sondern in den Wolken. Er hatte sich für einen Moment leicht wie eine Feder gefühlt und das Getuschel im stickigen Klassenzimmer verstummte. Seine Sicht verschwamm, das Geschriebene schien sich zu verdoppeln und zu verdreifachen und ihm blieb Luft auf mysteriöse Weise weg. Es hatte sich etwas in ihm wachgerüttelt. Etwas, das jeden Tag stärker werden würde, bis es endlich wie ein Feuerwerk aufglühen konnte und ihn zu einer Erkenntnis brächte.
Leider empfand kein anderer Schüler dasselbe beim Lesen der Texte. Es war für sie simpler Lernstoff gewesen, den sie nach kurzer Zeit wieder voll und ganz vergäßen und nie mehr wieder brauchten. Es war für sie überflüssig und ohne Bedeutung.
Aber Ludwig wollte mehr darüber wissen. Es hatte sich eine gewisse Interesse für Texte dieser Art angeeignet, weswegen er im Internet nach den Werken und dem Künstler dieser Gedichte recherchierte. Es hatte sich herausgestellt, dass das Originalwerk ein letztes Geschenk an die Familie und den Liebsten des Schreibers gewesen war. Dieser 'Feliciano Vargas' - der Verfasser der Texte - sei mit siebzehn Jahren an einer Lungenembolie verstorben und habe sich in den letzten Minuten seines kurzen Lebens in seinem Tagebuch von den Menschen, die er liebte, verabschiedet. Auffallend oft war der Name eines Jungens im Zusammenhang mit der Liebe genannt worden. Ludwig.
Es hatte den blonden Jungen erschreckt und gewundert, dass ausgerechnet sein, mittlerweile sehr altmodisch gewordener, Name in dem ganzen Gestrick von Handlungen hineingepasst hatte. Er hatte sich somit ein weiteres Mal mehr angesprochen gefühlt. Sein Interesse an dem ganzen Fall wuchs gewaltig, bis er schließlich herausfand, wie es dazu kam, dass die einfachen Schriften eines Siebzehnjährigen derartig viral wurden, dass sie sogar in einem Schulbuch auftauchten. Das damalige, ursprüngliche Tagebuch soll anscheinend für lange Zeit im Besitz des Geliebten Felicianos gewesen sein, aber dennoch landete es irgendwann in die Hände seines großen Bruders Lovino. Er habe das Buch einige Male gelesen, hätte erst nach mehreren Anläufen das gesamte Leid und die Wünsche seines Bruders verstehen können und wollte ihm nach vielen Jahren eine letzte Ehre erweisen. Er wollte, dass sein kleiner Bruder niemals in Vergessenheit geriet; er wollte ihm den Traum erfüllen, mit seinen Werken berühmt zu werden...Er wollte den Menschen die Nachricht überbringen, die Feliciano schon lange zuvor in sich getragen hatte.
Er habe ausgewählte Texte publizieren lassen - überwiegend die Gedichte - während er zu Privates weggestrichen hatte. Das Original dürfte sich bis heute noch im Kreis der Familie befinden.
Ludwig war von der ganzen Geschichte aufs Innigste bewegt worden und je mehr er darüber nachdachte, desto lebendiger wurden die Bilder in seinem Kopf, die ihm während dem Lesen aufgekommen waren. Aufgrund dieser tiefen Verbundenheit, die sich nach und nach aufbaute, hatte er sich kurz darauf eine Kopie besagter Texte und Gedichte zugelegt, die er seit jenem Tag immer bei sich trug. Er konnte sich selbst nicht erklären, weshalb er diese Angewohnheit hatte. Noch dazu fühlte es sich so falsch an, wenn er es einmal vergaß. Es war, als würde ihm die bloße Existenz des Buches einen lange verlorenen Teil von sich zurückgeben, der sein leeres Herz immer weiter sättigte und ihm Rückenwind gab, wenn es schwierig wurde.
Dieses Buch war...ein Schlüssel zu etwas, das er seit Ewigkeiten suchte.
Das spürte, nein, das wusste er.
Und nach und nach, während Ludwig im Auto vor sich hin döste und darauf wartete, dass sie endlich an ihren Zielort ankämen, fielen ihm die Augen zu und es dauerte nicht lange, bis er sich in einen seiner eigenartigen, immer häufiger auftretenden Träume verfing.
***
17. Juli 2026
[8:24 Uhr; irgendwo im Süd-Osten Deutschlands]
Er sah ihn auf ihn zukommen.
Er rannte zu ihm, sehnsüchtig nach den blitzblauen Augen seines Freundes suchend.Suchend nach der Wärme, die er ihm schenken würde...diese Sicherheit.
Sie streckten jeweils einen Arm nach den anderen aus.
Ihre Fingerspitzen berührten sich kurz.
Sie waren sich nahe und doch so fern. So verdammt fern.
Das Knacken eines demolierten Daches störte die Ruhe...
Und im nächsten Moment stürzte ein schwerer Holzbalken ein...Und mit ihm die ganze Welt des Kupferhaarigen. Er schrie; er sackte auf die Knie; er prägte sich das Gesehene ungewollt in seinen Kopf ein.
Und alles, was ihm von nun an übrig blieb, war sein Name.
Und dann...riss er plötzlich die Augen auf und reiste zögerlich in die beruhigende Realität zurück. Sein Herz raste unnatürlich schnell, seine kupferfarbenen Haare klebten nassgeschwitzt in seinem verwirrten Gesicht und seine Arme zitterten wie Espenlaub. Sein Kopf pulsierte gemeinsam mit dem Schlag seines Herzens und ihm war, trotz der Sommerhitze, unglaublich kalt. Zitternd zog er seine Beine unter die Decke des kleinen Hotelzimmers und rollte sich in einen warmen Kokon ein, um sich irgendwie zu beruhigen, doch egal wie sehr er es auch versuchte, der Stress, der an seinem Körper nagte, wollte einfach keine Ruhe mehr geben. Es fühlte sich an, als würden sich tausende kleine Nadeln brutalst durch seine gebräunte Haut bohren und sein schweres, prägnantes Herzklopfen brachte ihm teilweise starke Atemnöte mit. Feliciano zischte leise auf, als er spürte, wie sein Herz so schwer und träge wurde, dass man meinen könnte, es springe jeden Moment wie ein drückendes Stückchen Blei aus seiner Brust heraus. Instinktiv schlang er seine Arme um sich und krümmte sich vor den Schmerzen; heiße Tränen rollten seine Wangen herab und seine Gedanken kreisten nur noch um diesen schrecklichen Traum, der ihn seit Ewigkeiten heimsuchte. Ein Traum, der weit in der Vergangenheit spielte und ihm beinahe wie ein unglückliches Märchen erschien, welches er niemals hätte lesen dürfen. Ein Märchen, das in so vielen verschiedenen Variationen in vielen verschiedenen Ländern auftauchte und dennoch seine Kernaussagen und Motive über die Jahrhunderte hinweg behielt. Genau so erschienen ihm diese Träume.
Sie spielten im antiken Rom als Trauerspiel einer Liebelei eines Römers und eines Germanen, deren Glück allein durch die Folgen einer Schlacht und eines einstürzenden Holzbalkens, welcher sich vom Hausgerüst gelöst hatte, zerschmettert wurde wie eine zerbrechliche Figur aus Glas.
Sie spielten in der Renaissance als Freundschaft und Liebe eines naiven, italienischen Straßenmusikers und -künstlers und eines anstrebenden deutschen Literaten, die aufgrund einer Exekution auseinander gerissen wurden.
Sie spielten vielleicht auch im Zweiten Weltkrieg, jedoch erschien ihm dieser Traum nur ungenau und vage, als hätte man ihm jegliche Erinnerung daran geraubt.
Aber eines hatten sie immer gemeinsam...In jedem dieser Träume sah Feliciano denselben blonden Jungen. Er sah dieselben wunderbar blauen Augen mit den gleichen komplexen und wunderbaren Musterungen, er sah den gleichen kräftigen Körperbau, er hörte denselben Klang der Stimme...immer und immer wieder. Und jedes Mal...endete es tragisch. Es war eine konstante Schleife von Geben und Nehmen.
Aber...was bedeutete diese auffällige Serie von Träumen?
Wer war dieser Junge?
Was war der Auslöser?
Denn oft, wenn er aufwachte, weinte er.
Anfangs, vor wenigen Jahren, wusste Feliciano nicht einmal weshalb. Er wusste von nichts, er litt auch nie so sehr darunter wie jetzt gerade. Er war taub gegenüber all dem gewesen, er hatte nichts gespürt, er war komplett ahnungslos. Sein gesamtes Leben war von Ahnungslosigkeit geprägt und allein durch die Leere, die seit Ewigkeiten in seinem Herzen wohnte, geleitet worden. Es war, als wäre er als unvollständiger Mensch in diese Welt gesetzt worden, als müsse erst etwas; als müsse er erst jemanden finden, der ihn vervollständigte. Dieses Gefühl verfolgte ihn noch bis heute, nur wurde es von Tag zu Tag stärker. Und mit dieser Stärker werdenden Leere begann auch sein stummes Herz, laut nach etwas zu rufen. Sein Herz, es hatte eine Sehnsucht. Es hatte Sehnsucht nach etwas, dass er selber nicht kannte. Es wollte rennen, es wollte fortlaufen und dorthin gehen, wo es glaubte, sein Ziel zu erreichen, doch Feliciano selbst tappte noch im Dunkeln.
Besonders nach einer eigenartigen Begegnung in einer U-Bahn, schien sein Herz vollkommen aus der Bahn geworfen zu sein.
Er war erst vierzehn Jahre alt gewesen, als er damals in den fast überfüllten Waggon einstieg und sofort mit einem heftigen Ziehen in seiner Brust überrascht wurde, als er den ersten Schritt in die U-Bahn setzte. Er hatte sich durch die Menschenmassen durchgeschlängelt, um einen besseren Stehplatz weiter hinten zu erhaschen und sein Herz fing an, ungewohnt schnell und stark zu klopfen, je weiter er sich in die Mitte des Waggons kämpfte. Er hatte schließlich neben einem Jungen, der knapp einen Kopf größer war als er und sich an den Haltestangen festhielt, Platz gefunden und war wie auf Knopfdruck ungewohnt still und ruhig. Sein Herz klopfte auf einmal wie wild und er konnte sich nicht deuten, weshalb er so plötzlich nervös war und seine Beine weich wie Pudding wurden. Er kannte dieses Gefühl nicht, das ihn binnen Sekunden überrascht hatte, aber er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben...vollständig. Die Bahn ratterte ein wenig und die vielen Leute um ihn herum wankten leicht nach hinten, sodass der vergleichsweise viel kleinere Feliciano auch nach hinten stolperte und versehentlich den Jungen neben ihm anrempelte. Er hatte sofort ein flüchtiges 'Entschuldigung' geflüstert und es nicht gewagt, dem Betroffenen ins Gesicht zu sehen. Ihm war schrecklich heiß um die Nase geworden und die prompte Verlegenheit, die er eigentlich gar nicht von sich gewohnt war, verwirrte ihn.
Irgendwann hatte aber auch er seine Haltestelle erreicht und wurde gemeinsam mit dem Anmarsch anderer Menschen aus dem Waggon gedrängt. Doch je mehr er sich von dem Unbekannten entfernte, desto kälter wurde ihm. Etwas zerriss den jungen Feliciano; er verlor etwas. Etwas, dass er niemals wieder verlieren wollte...
Instinktiv hatte er zurückgeschaut, fand aber hinter den vielen Mitfahrern nur ein herausstechendes Paar blauer Augen, das allein durch ein kurzes Wimpernzucken wieder in den Tiefen der lebhaften Bahn verschwand.
Seit diesem Tag kehrten diese Träume in wiederholter Form zu Feliciano zurück. Sie brannten sich in sein Gehirn ein; er dachte an sie. Egal wo er war, egal was er auch machte...sie waren immer bei ihm, nein, sie waren ein Teil von ihm. Sie waren Teil einer unbeschriebenen Seite, die er zuerst entdecken musste. Sie waren ein Schlüssel zu einem Käfig, der Wichtiges vor ihm verbarg. Einem Käfig, der ihn vor sich selbst wegsperrte. Erst nach und nach würde das Gefängnis in kleine goldene Flocken abblättern und ihm Antworten offenbaren, nach denen sein Herz sehnsüchtig suchte. Antworten auf die Schreie, die es von sich gab. Denn es rief. Es rief aus voller Kehle nach etwas, nach jemandem. Feliciano wusste nicht, nach wem, aber im tiefsten Inneren seines Herzens wusste er es. Und wenn die Zeit gekommen war, würde er in einem Augenblick erkennen, nach wem er eigentlich sein Leben lang suchte.
Doch wenig wusste er, dass es noch eine Person gab, die sich auf dieselbe Suche begeben hatte.
***
Plötzlich hörte man ein leises Grummeln und Feliciano stockte. Sich die Tränen aus dem Gesicht wischend setzte er sich auf und warf einen Blick auf die restlichen Betten des kleinen, schlicht, aber überaus freundlich eingerichteten Hotelzimmers, das er sich mit seinen Brüdern Lovino und Romeo teilte. Beide Jungs waren bis über das Gesicht unter die Decke gekrochen, um dem grellen Morgenlicht, das aus den Ritzen der Jalousie und der Glastür, die auf den Balkon führte, hervorlugte und kleine Musterungen auf ihr schneeweißes Bettzeug und ihre Haut warf, zu entfliehen. Feliciano grinste selig und vergaß für einen Moment den Nervenzusammenbruch, gegen den er wenige Sekunden zuvor noch zu kämpfen hatte. Sein Blick schweifte von den schlafenden Brüdern ab und wanderte ziellos im relativ fremden Raum herum. Er erkannte die hellen Wände und Möbel; er erkannte die neutral wirkenden, aber immer noch schönen Gemälde an der Wand; er erkannte aber auch die drei lieblos am Boden liegenden Koffer, die nur darauf warteten, endlich gepackt zu werden, um nach Italien zurückzukehren. Ihr Inhalt war quer durch das ganze Zimmer verteilt, machte eine riesige Unordnung und ließ den ganzen Raum wie ein Schlachtfeld erscheinen. Nach wenigen Sekunden und einem schnellen Schauen auf sein Smartphone, realisierte der Siebzehnjährige erst, dass er und seine Brüder heute noch ihre Koffer packen mussten.
"Stimmt, wir fahren ja heute heim...", säuselte der Italiener und zwang sich, widerwillig aus dem warmen, sicheren Bett zu steigen, um bereits mit dem Packen zu beginnen. Er konnte nach seinem Heulkrampf von vorhin ohnehin nicht mehr schlafen und vielleicht würde es ihn auch davon abhalten, daran zu denken. Doch egal wie sehr es auch versuchte, es wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er stellte sich abertausende Fragen, mochten sie auch noch so ähnlich sein. Er dachte an die Zusammenhänge, er dachte an die Handlungen...aber allem voran stand der unbekannte junge Mann, dessen Gestalt sich in jeden einzelnen Traum wiederfand.
Wer war er nur?
Wie war sein Name?
Und....wo hatte er ihn schon einmal gesehen?
Feliciano konnte es sich einfach nicht erklären.
Wortlos hob er seine zerknitterten Hemden vom Boden auf und stopfte sie lieblos und ohne Ordnung zu bewahren in seinen Koffer.
Warum vertraute er ihm, ohne ihn jemals gekannt zu haben?
Er griff nach dem Reißverschluss.
Wieso klopfte sein Herz so stark, wenn er ihn sah?
Mit einer einfachen Handbewegung machte er den Koffer zu und seine Hand fühlte den rauen Stoff an den Fingerspitzen.
Warum...fühlte er sich ihm...so verbunden?
Feliciano raufte sich die Haare, sah aus der gläsernen Terassentür und seufzte.
"Nach wem suche ich? Was ist der Grund...weshalb mein Herz so schreit?"
Auf einmal hörte der Italiener wieder ein Geräusch hinter sich, welches von einem kleinen Gähner gefolgt wurde. Erschrocken fuhr er herum und stellte fest, dass sein großer Bruder aufgewacht war und ohne ein "Guten Morgen" zu brummen, zu seinem Handy griff. Auch Romeo schien langsam aufzuwachen und verschwand nach einem heiseren "Morgen..." im Badezimmer. Feliciano dagegen saß immer noch wie angewurzelt am Boden. Sein Blick fiel auf seine linke Hand, die bis zur Hälfte ins goldenen Sonnenlicht getaucht war und bildete sich ein, einen leichten rötlichen Schein an seinem Ringfinger zu entdecken, der sich wie ein Ring oder ein Band um ihn schlang. Doch auch diese Eigenartigkeit verschwand mit der Schnelligkeit eines Wimpernzuckens ins Nichts und hinterließ nichts, außer ein leichtes, kaum spürbares Kribbeln.
Das würde ein langer Tag werden, dachte sich der Siebzehnjährige, ehe er sich die zuvor zurecht gelegte Kleidung anzog und die Fenster zum Durchlüften öffnete.
Aber etwas sagte ihm, dass ihn diese Rückreise zu einem anderen Ziel brachte. Einem Ziel, das seine Seele, das sein Herz, seit vielen Jahren ansteuerte...
***
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