.°○Epilog○°.
Einige Zeit später...
Dunkelheit. Kälte. Einsamkeit...und Leere.
Das waren die Einzigen Empfindungen, die Ludwig seit Felicianos Tod verspüren konnte.
Wenn man diese überhaupt noch als Empfindungen identifizieren konnte.
Er war ein gebrochener Mensch geworden, geplagt von einem klaffenden Loch in seiner Brust, wo sich einst sein eisernes Herz befand, das lediglich ein ganz besonderer kleiner Italiener wie ein Feuer entfachen konnte. Doch nun gab es niemanden mehr, der die dicken Mauern Ludwigs umgehen konnte; ihn voll und ganz verstehen konnte.
Ludwig fühlte sich elendig, unvollständig und gefangen in seiner eigenen deprimierten, von schier unendlicher Dunkelheit geprägten, kleinen Welt. Die Farben, die sein Leben einst besaß waren verblasst und waren mit faden Grautönen übermalt worden. Er fühlte nichts, er brauchte nichts. Er wandelte durch seine eigene, kleine, in sich zusammengestürzte, Welt wie ein Geist, nicht wissend, wohin er wollte und was sein Weiterleben überhaupt noch wert machte. Ludwig war verzweifelt; er war am Boden. Er wollte einfach nur in die Welt hinaus rennen und schreien. Er wollte seinen angesammelten Schmerz an etwas auslassen, sich von der ewigen Last des Verlustes befreien. Egal wie viele Stunden, Tage und Wochen vergingen, der Deutsche fühlte sich zunehmend mehr gefangen und isoliert von jeglicher Freude. Er verspürte fast keine Trauer mehr, nur die gähnende Leere in ihm hielt ihn davon ab los zu lassen. Er versuchte es zwar, denn Feliciano hätte dies bestimmt gewollt...er hatte es immerhin gehasst, wenn Ludwig sich in seine eigene, einsame Welt zurückzog und alle Fröhlichkeit der Welt abprallen ließ, aber es war einfach so unglaublich schwer.
Es war so verdammt schwer.
Ludwig hatte Feliciano geliebt...mehr als alles Andere auf dieser chaotischen, durchtriebenen Welt und dennoch wurde ihm genau er weggenommen. Wieso hatte es ihn getroffen? Ihn, der der nie einer Fliege etwas zu Leide getan hatte...Ihn, der in dieser verrückten Zeit nie sein Lächeln verloren hatte...Feliciano...
Diesen unschuldigen Menschen, der so viel Potential in sich hatte. Diesen Menschen...der der Einzige gewesen war, der sogar Ludwig ein Lächeln auf die Lippen zaubern und ihn rundum glücklich fühlen lassen konnte...All dies hatte er binnen weniger Atemzüge aus den Augen verloren. Er hatte seine Hand losgelassen; ihn wie Sand durch die Finger rieseln lassen, bis nicht einmal das letzte bisschen Hoffnung die Chance hatte, aufzublühen.
Denn er hatte Feliciano verloren.
Und mit ihm...seine ganze Lebensfreude...Und seine einzig wahre Liebe.
Er wurde blind gegenüber der Welt, die ihn umgab.
Er baute ein weiteres Mal eine Mauer um sich, die kein Mensch jemals durchbrechen konnte.
Er fiel.
Und fiel weiter.
Immer und immer weiter...
Immer weiter in die schwärzesten Tiefen der Finsternis...
Kein Licht würde ihm am Ende seines Weges erscheinen, keine Wärme würde ihn aus diesem Tartaros des Kummers leiten. Er war allein.
Allein, und doch nicht ganz verlassen.
Denn die Präsenz Felicianos verfolgte ihn wie ein Schatten und sein Herz...es würde immer bei ihm bleiben; immer einen Weg zu ihm finden, auch, wenn Ludwig ihn nie wieder in seinen Armen halten konnte.
~♡~
Felicanos Begräbnis lag bereits einige Tage zurück und Ludwig erinnerte sich an jede Einzelheit. Er erinnerte sich an die Abende, an denen sich Verwandte sowie Freunde vor den Toren der Kirche versammelten, der trauernden Familie ihr tiefstes Beileid wünschten und sich während den gesamten Totenwachen mucksmäuschenstill verhielten. Dieses sogenannte Nachtwachten begegnete dem Deutschen zwielichtig. Einerseits erleichterte es ihm, Abschied zu nehmen, andererseits war es jedes Mal wie eine frische Wunde eines scharfen Dolches, die sich tief in sein Fleisch zog und eine immerwährende Wunde hinterließ. Er hatte die eingerahmten Bilder gesehen, die auf einem kleinen, blumengeschmückten Tischchen standen. Sie alle waren mit größter Sorgfalt ausgewählt. Keines von ihnen hatte auch nur einen Makel gehabt. Er hatte sie studiert, sie eingeprägt, doch immer wenn er dieses grinsende, lachende Gesicht Felicianos erblickte, erinnerte er sich an den Moment, der ihn seiner Selbst beraubte. Er erinnerte sich an den Moment, der sein Herz zerschreddert hatte; es in tausend Scherben zu Boden warf. Er erinnerte sich an das Gesicht des Italieners...wie er in seinen Armen lag und bittersüß grinste.
Die Bilder, diese herzzerreißenden Bilder in seinem Kopf kreisten unaufhörlich herum.
Seine letzten Worte...Ti amo.
Sein letztes Werk...ein Portrait von Ludwig.
Sein letzter Gedanke...das wusste der Deutsche nicht, aber er musste etwas Schönes gesehen haben, wenn er selbst im Tod ein Lächeln auftreiben konnte.
Ob er vielleicht an Ludwig gedacht hatte? Oder an seine liebevolle Familie?
Sein trauriger Blick war herumgeschweift, traf das ein oder andere trauernde Gesicht der anderen, fand aber immer wieder zurück zu dem kleinen Altar mit dem blassblauen Blumengesteck. Der Großteil der Anwesenden war aus der Kleinstadt gewesen, der restliche Teil bestand aus ungarischen Verwandten und einer Handvoll Jugendlicher. Sie alle hatten eine betroffene Miene aufgesetzt, doch der schmerzverzogene Blick Lovinos stach am meisten heraus. Sein Haar war von vorne bis hinten zerzaust, der Kopf war zu Boden geneigt und seine Augen plus Nase waren gerötet. Er hatte so unglaublich fertig ausgesehen, das hatte auch Antonio bemerkt, weswegen er so gut es ging versuchte, seinen Freund zu trösten und seine Hand auf die seine legte. Der plötzliche Tod seines kleinen Bruders hatte Lovino wirklich stark getroffen und es verging kein Tag, an dem er sich nicht die Seele aus dem Leib heulte. Wie schlimm musste es nur für ihn gewesen sein, einfach aufzuwachen und im nächsten Augenblick seinen kleinen Bruder tot in den Armen eines Menschen zu sehen, den er von Grund auf nicht leiden konnte? Lovino hatte gedacht, es sei alles nur ein böser Traum, der gleich zu Ende ginge, aber das war leider nur Wunschdenken gewesen. Er hatte sich tagelang nicht mehr aus seinem Zimmer entfernt und Ludwig hatte bereits die Vermutung gehabt, dass es Lovino schlimmer ging als ihm. Und er selber litt unglaublich an den Verlust. Er hatte gar nicht daran denken wollen, wie grauenvoll es nun Roderich und Elizabeta gehen musste. Immerhin hatten sie ihr Kind verloren.
Komplett benommen von der Emotionslosigkeit, die zusammen mit dem stillen Kummer sein fortwährendes Leben krönte, hatte er die Totenwachen vorübergehen lassen. Die Tage vergingen wie ein kurzes Sommergewitter und ohne nennenswerte Ereignisse. Elizabeta war glücklicherweise so nett gewesen, Ludwig noch eine Weile bei sich wohnen zu lassen, bis er wieder mental dazu bereit war, nach Deutschland zurückzukehren. Eine ungewohnte Stille herrschte im Haus; es wurde weder geflucht, noch Musik gemacht und statt der eher freudigen Atmosphäre war ein bedrückendes Klima eingekehrt. Das Ticken der Uhren war das Einzige gewesen, das die Stille regelmäßig störte. Ludwig hatte dieses Geräusch Tag und Nacht vernommen und es beunruhigte ihn. Es erinnerte ihn daran, wie schnell die Zeit vergeht; es erinnerte ihn daran, wie das Ticken der Uhren ihn stätig in den letzten Stunden Felicianos begleitet hatte. Absolut alles rief alte Erinnerungen auf, jedes noch so kleine Detail...Es machte ihm immer wieder aufs Neue klar...wie sehr er Feliciano doch vermisste; wie sehr er ihn brauchte.
Spätestens am Tag der Bestattung, an dem Ludwig Feliciano ein letztes Mal zu Gesicht bekam, hatte er bemerkt, wie abhängig er doch von dem Kleinen war. Dabei hatte man immer geglaubt, es wäre umgekehrt. Ludwig hatte Feliciano schon früh morgens in dem kleinen Häuschen am Friedhof besucht. Die Sonne war gerade einmal hinter dem Horizont aufgetaucht und der Himmel war dementsprechend in einem sanften Morgenrot verhüllt. Der Tau auf den Gräsern und Pflanzen der anderen Gräbern glitzerten hell wie kleine Diamanten und reflektierten das schwache Morgenlicht mit einem winzig kleinen Regenbogen in sich. Der Deutsche war mit zittrigen Beinen und einem mulmigen Gefühl im Magen auf Felicianos offenen, turmalinschwarzen Sarg zugegangen. Eingebettet in einem Bett voller Lilien, Vergissmeinnicht und den typischen Nelken lag der leblose Körper des Italieners in seiner letzten Ruhestätte. Seine karamellbraunen Augen, die Ludwig seit dem siebzehnten Juni vermisste zu sehen, waren geschlossen. Seine Haut war weiß wie frischer Schnee; sein Haar immer noch so schön wie zuvor. Seine rotbraunen Strähnen glänzten ein weiteres Mal wie poliertes Kupfer, als die Sonne ihr Licht durch die kleine Fensterrosette fallen ließ und damit ein buntes Muster in den Raum malte, das auch Felicianos Haut wie eine neue Leinwand scheinbar einfärbte. Vorsichtig hatte sich Ludwig dem Sarg genähert, seine Finger streiften das legierte Holz und ein unglaublicher Schmerz durchfuhr ihn, je länger er sich in der Nähe der Leiche seines Freundes aufhielt. Aber auch wenn es ihn psychisch nur noch fertiger machte...er hatte das gebraucht. Er musste sich von Feliciano verabschieden, er musste ihn loslassen. Und auch wenn er sich geschworen hatte, niemals wieder zu weinen, konnte er seine überfüllte Menge an Gefühlen in diesen Momenten einfach nicht mehr kontrollieren. Er hatte sie zu lange in sich gesammelt...Und eines Tages brach es auch die härteste Schale eines Menschen.
"Feliciano...", hatte der Deutsche trocken geflüstert und dabei behutsam über die eisig kalte Wange des Italieners gestrichen. "Ich wünschte, ich hätte es eher gewusst, dass du gehen würdest. Ich wäre die ganze Nacht aufgeblieben, hätte dich beschützt...Und doch habe ich mein Versprechen gebrochen. Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da gewesen bin."
Und doch warst du da für mich, Luddy. Und ich bin für immer bei dir.
Ludwig hatte sich eingebildet Stimmen zu hören.
Ich werde auf dich warten. Und eines Tages werden wir uns wiedersehen.
Die Stimmen in seinem Kopf waren immer mehr geworden. Seine Ohren rauschten und das Gefühl für einen Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren, suchte in heim. Er hatte seine Augen geschlossen, spürte sein Herz ein weiteres Mal zerspringen und drückte seine Lippen vorsichtig gegen Felicianos Stirn. Er hatte ihm einen letzten Abschiedskuss geschenkt, ehe er eine rote Rose in die Hände des Italieners legte. Mit verschwommener Sicht erkannte er die rote Schleife an seinem Ringfinger, die inmitten der roten Rosenblätter voll und ganz verschwand. Er hatte sein eigenes, weißes Band angesehen und überraschenderweise zuckten seine Mundwinkel für einen kurzen Moment nach oben.
Ein letzter Blick wurde auf Feliciano geworfen, auf sein gesamtes Antlitz, das einen an ein bekanntes Märchen erinnerte. Schneewittchen.
Denn Feliciano war auch noch im Tode wunderschön.
Doch leider konnte man dieses Schneewittchen nicht mehr aus dem Todesschlaf erwecken.
~♡~
24. Juni 1945
[17:23 Uhr]
Die Uhr tickte. Das Geschirr klapperte. Seine Ohren rauschten. Ludwig saß auf dem gemütlichen Sofa, hatte den Kopf zu Boden geneigt und seine Hände gefaltet. Er war noch dabei, das gesamte Begräbnis vom Vortag zu verdauen, schaffte dies aber nur zögerlich. Auch wenn sein Bruder Gilbert extra für das Begräbnis nach Österreich geeilt war, um Ludwig bei der Beisetzung seines Freundes beizustehen, erholte er sich nur schrittweise, bis gar nicht. Zwar war er Gilbert wirklich dankbar, dass er für ihn da sein wollte, obwohl er sich mit Felicianos Vater kaum verstand und deshalb in einem Gasthaus nebenan logieren musste, aber den Schmerz, den er in seinem Herzen trug...mit dem musste er selbst fertig werden. Den ganzen Tag blieb er schweigsam und kaum ein Wort kam ihm über die Lippen, es kam einem so vor, als hätte er das Sprechen voll und ganz verlernt. Er war verbittert geworden und seine Gedanken kreisten wie bisher nur noch um Eines. Feliciano. Ging es ihm gut, wo er jetzt war? Hatte er viele Schmerzen gehabt? War Ludwig ein guter fester Freund gewesen oder war er ein reines Disaster gewesen?
Nein, das letzte konnte nicht stimmen. Feliciano hätte niemals so über Ludwig gedacht.
Der Blonde seufzte. Er dachte zu viel nach. Zu viel und zu intensiv über das gleiche Thema. Alles in ihm wiederholte sich wie in einer endlosen Dauerschleife. Oft spielten sich die gleichen gedanklichen Satzbauten in seinem Kopf mehrmals täglich rauf und runter.
Das gleiche Denken.
Das gleiche Handeln.
Der gleiche immerwährende Tagesalgorithmus, den Ludwig aus tiefsten Herzen verhasste.
Jeden Tag mit dem Gefühl aufstehen zu müssen, etwas verloren zu haben, das einem wichtiger als das eigene Leben war, war das Grauenvollste, das ihm je widerfahren war.
Jeden Tag dieselbe Leier.
Jeden Tag dasselbe Leiden.
Ludwig hatte es satt. Ludwig hatte es so satt. Aber aus diesem Zustand der plötzlich eingetretenen Depression, die nach und nach ihre tiefen, starken Wurzeln schlug und sich verstärkte, fliehen zu können dauerte noch sehr lange, wenn nicht sogar für immer.
Die Uhr schlug halb sechs und ihr lauter Klang hallte durch mehrere, komplett verstummte Räume. Einige Schritte waren vom Obergeschoss zu hören, möglicherweise von Roderich oder Lovino, aber ein Schrittmuster wurde mit jeder Sekunde lauter und es unterschied sich markant von den Mustern der Männer. Ludwig drehte sich zum Wohnzimmereingang und traf dort auf Elizabeta, die ausnahmsweise statt grün oder rot etwas Dunkles, Matteres, angezogen hatte. In ihren Händen hatte sie ein kleines, handliches Tablett mit Kuchen und Kaffee, welches sie in aller Geduld auf den kleinen Wohnzimmertisch abstellte und ihre Leckereien auf den Tisch stellte. "Es ist zwar etwas spät für Kuchen und Kaffee, aber ich dachte mir, dass du vielleicht etwas Aufmunterung brauchst", die Ungarin setzte sich auf den Couchsessel gegenüber, "Jedenfalls hilft Süßes zusammen mit einer Tasse Kaffee immer bei Roddy." Ludwig nickte nur stumm und bedankte sich höflich. Nachdenklich nippte er an dem heißen, bitteren Gebräu und stocherte dabei lustlos in der frisch gemachten Sachertorte herum. Er spürte Elizabetas Blick auf ihn ruhen, doch er versuchte es, so gut wie möglich zu ignorieren. Aber die junge Frau hatte andere Intentionen und begann ein wenig mit Ludwig zu plaudern. Sie bemerkte das Unbehagen und die Lustlosigkeit in der Stimme des Deutschen, je mehr sie mit ihm redete. Sie konnte ahnen, wieso dies so war, wollte aber keinesfalls alte Wunden wieder neu aufreißen, außerdem wusste sie schon die Antwort, denn ihre erworbene Eigenartigkeit der letzten Tage kam auf dasselbe zurück. Nichtsdestotrotz hatte sie dem Freund ihres verstorbenen Sohnes noch etwas Wichtiges zu übermitteln und sie konnte nicht einschätzen, ob es die Situation verbessern oder verschlimmern würde.
Ihre grünen Augen fixierten sich auf das kleine Ding in ihrer Hand. Der Einband dieses Etwas war aus einem rötlichen Lederbezug mit goldenen Schriftzeichen an der Oberfläche. Es war ein letztes Überbleibsel, das von nun an auch für den Deutschen zugänglich werden sollte. Elizabeta kannte es. Sie kannte jede Seite des Buches in ihrer Hand. Ihr Mann und sie hatten es, nachdem Felicianos Leiche abgeholt wurde, in seinem Bett gefunden und ihre Neugierde wurde geweckt. Sie lasen es; sie lasen es und waren dabei zu Tränen gerührt, denn jede Zeichnung und jeder Text dieses kleinen Meisterwerks erzählte so viel. Mehr, als es den Eltern eigentlich lieb war. Es hatte sie berührt, auch Lovino. Denn er fand auch bald davon heraus und obwohl er bei der ein oder anderen Stelle die Augen rollen musste, hatte es auch ihm Einsicht gegeben und ihn emotional mitgerissen. Es hatte ihm so viele Seiten eines Menschen gezeigt, den er dachte, in und auswendig zu kennen. Aber nun war es Zeit, dass auch Ludwig dieses kleine Etwas in seinen Händen hielt. Vorsichtig räusperte sich Elizabeta und zog somit Ludwigs Aufmerksamkeit auf sich, ehe sie ihm das kleine Buch zeigte.
"Das hier...", begann die Ungarin und Ludwigs Augen weiteten sich schlagartig, "...hatte Feliciano bei sich und ich glaube, er hätte gewollt, dass du es am Ende bekommst. Du kannst damit machen, was du möchtest, aber erinnere dich daran, wie viel Herzblut und Gefühl mein Kleiner hier reingesteckt hat." Elizabeta machte eine Pause und Ludwig nahm Felicianos Buch, das er die ganze Zeit benutzt hatte, mit zittriger Hand an. Sein Herz raste wie verrückt, sein Kopf brummte und er spürte, wie dieses Unbehagen sich auch in seinen Beinen einnistete. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, immerhin war dieses Buch ein ständiger Begleiter und das letzte Werk seines Geliebten und nun hielt er es in seinen Händen, nicht wissend, ob er sofort einen Blick hineinwerfen sollte oder nicht.
"Feliciano hat dich geliebt, Ludwig. Er hat dich so sehr geliebt, schon von der ersten Sekunde an wusste ich, dass ihr zwei eine besondere Verbindung zueinander hattet. Er ist an deiner Seite aufgeblüht", mit ruhiger Hand servierte die Hausfrau die leeren Tassen und Teller ab und ging zur Tür, "Er war ein sehr sensibles Kind. Oft hatte er nachts zu weinen begonnen und wir konnten nie herausfinden, was ihm fehlte. Aber als er dich traf, war er wieder viel ruhiger geworden und traute sich auf einmal Sachen, vor denen er sich früher extrem fürchtete. Ich weiß nicht, was Feli an dir so faszinierend fand, aber...danke", sie lächelte leicht, "Danke, dass mein Sohn dich hatte." Und mit diesen Worten verschwand sie.
Wortlos strich Ludwig über den ledernen Einband des Buches, befühlte die eingravierten Buchstaben und ließ seine Finger vorsichtig über das Papier an den Rändern gleiten. Sein Herz pochte und er konnte den Puls bis in seinen Kopf spüren. Sollte er Felicianos Buch einfach so lesen? Sollte er warten? Was erwartete ihn darin? Das und unzählige weitere Fragen kreisten im Kopf des Deutschen herum. Doch dann gab er sich einen Ruck und öffnete zögernd das kleine Buch.
Er überflog die ersten Seiten, achtete nur halb auf die Rechtschreibung und Beistrichsetzung, die Feliciano noch zu Beginn des Buches benutzte. Nach und nach veränderte sich der Schreibstil, die Schriftart und der Inhalt der einzelnen Texte und Bilder. Man erkannte den Fortschritt bei jeder neuen Seite und die anfangs sehr groben Zeitsprünge wurden immer enger. Erst als ihm eine überaus sorgfältig gestaltete Seite ins Auge stach, hörte er mit dem Überfliegen auf und begann geduldig zu lesen.
{♡}
23. Juni 1942
Heute habe ich Ludwig beim See getroffen! Wir waren schwimmen und haben eine Schlammschlacht gemacht, wobei ich ihn ausversehen mitten ins Gesicht getroffen hatte und er mich daraufhin im Wasser gedümpfelt* hat! Dabei weiß er doch ganz genau, dass ich das hasse! Manchmal kann er richtig gemein sein...aber dann hat er wieder seine Momente, in denen ich mich frage, wie so ein sympathischer, lieber Mensch wie er nur so wenige Freunde haben kann. Er sieht für manche vielleicht aufgrund seines Aussehens etwas erschreckend und streng aus, aber wenn man ihn erst richtig kennt, bemerkt man, wie lieb er sein kann. Lovino kann und will das irgendwie nicht einsehen und gibt weiterhin seine abwertenden Kommentare ab, wenn er auf Luddy und mich trifft, aber das ist eben mein Bruder. Aber nicht jeder muss Ludwig auf der Stelle mögen, denn solange ich weiß, wie gern ich ihn eigentlich habe, wird er niemals alleine sein. Ich will immer für ihn da sein. Ich will immer bei ihm sein, ihn bei allen Schwierigkeiten unterstützen.
Aber...kann das, was ich in seiner Nähe fühle, wirklich Liebe sein?
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(*jmdn. dümpfeln = 'jmdn. den Kopf ins Wasser drücken')
Ein kaum sichtbares Lächeln wurde auf Ludwigs Gesicht gezaubert. An den Tag konnte er sich noch gut erinnern und Felicianos Gedanken von damals zu erfahren, lösten alte Gefühle in ihm aus. Schnell blätterte er um und las neugierig den nächsten Eintrag.
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25. Juni 1942
Ich habe Angst. Ich habe so große Angst. Kaum sehe ich ihn, fängt mein Herz an zu rasen, meine Beine werden weich und ich werde auf einmal ganz schüchtern und still. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kenne diese Gefühle schon sehr, sehr lange und doch bin ich mir so unsicher dabei. Ich versuche, so normal wie möglich zu wirken, zwinge mich trotz meiner Nervosität dazu, anhänglich und so wie immer zu sein, aber ich glaube, dass Luddy bereits etwas ahnt. Es ist mit der Zeit einfach so komisch zwischen uns geworden...Ob er mich überhaupt noch mag?
Denn ich glaube mittlerweile wirklich, dass ich mich in ihn verliebt habe.
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Ludwig spürte ein Gemisch aus gefühlsloser Leere, Kummer und einem kleinen Funken nostalgischer Freude in seiner Brust. Dafür, dass sich in den letzten Stunden seine Emotionen auf Eis gelegt hatten, brachen sie wohl nun wieder aus ihrer dicken Eiswand hervor.
Einfach Felicianos eigene Welt erfahren zu können, und zu verstehen wie tiefer die Botschaften seiner Texte geworden sind...Es half Ludwig trotz der neuen mentalen Wunden, die er sich damit hinzufügte.
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28. Juni 1942
Ich weiß nicht, wie ich diesen Tag am besten beschreiben sollte. Es ist so viel passiert. Besonders im guten Sinne. Ich bin so glücklich gerade, ich kann es nicht in Worte fassen. Ich kann nicht mal mehr Schreiben, ohne ein fettes Grinsen auf meinem Gesicht zu haben. Ich sehe vor Freudentränen fast gar nichts mehr, aber das ist es mir wert! Und ich glaube, dass heute einer der schönsten Tage meines Lebens war...Ich habe mich heute mit Ludwig im Wald getroffen. Wir hatten so viel Spaß zusammen! Ich würde am liebsten alles so detailliert wie möglich aufschreiben, um diesen Tag niemals wieder zu vergessen, aber bereits jetzt, nach wenigen Stunden, fühlt sich der Tag eher wie ein Traum an, der nach und nach verblasst und meinen Verstand vernebelt. Aber eines werde ich ganz sicher immer in meinem Herzen aufbewahren...Dass ich heute Ludwig küssen durfte. Es war nicht unser erster Kuss, da ich ihn als kleines Kind einmal geküsst hatte, aber dieses Mal...war es anders gewesen. Ich habe es zum ersten Mal so wirklich wahrgenommen, habe die Gefühle in meiner Brust wie loderndes Feuer gespürt. Ich habe mich so...vollkommen gefühlt. So, als ob ich mein Leben lang nur eine Hälfte eines Ganzen war, immer auf der Suche nach Vollkommenheit. Und diese Vollkommenheit hatte ich nun endlich gefunden und ich würde sie für nichts auf der Welt hergeben. Ich weiß nicht, woher diese gefühlsduseligen Gedanken überhaupt kamen, aber ich habe dieses Gefühl, das wir, das unsere Seelen, länger vernetzt sind als wir denken. Denn ich habe oft Träume und Erlebnisse, die mir so komisch vertraut vorkamen und jedes Mal taucht ein blonder Junge mit den blauesten Augen auf, die ich jemals gesehen habe. Und diese Augen sah ich nur in einer einzigen Person, Ludwig; meinem besten(nun) festen Freund.
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Ein bitteres Lächeln legte sich auf Ludwigs Lippen und seine geröteten Augen ließen ihn nur noch verschwommen sehen. Es zeriss sein Herz, diesen Eintrag zu lesen und diesen Tag in Erinnerung zu rufen. Es schmerzte und heilte ihn zugleich, es ließ ihn leiden und dennoch war er berührt von den Worten des damals 14-jährigen Felicianos. Auch er hatte diesen wundervollen Tag niemals vergessen; er hatte nie vergessen, wie beflügelt er sich gefühlt hatte, als Feliciano ihn das erste Mal geküsst hatte. Das Kribbeln in seinem Bauch, der tranceartige Zustand und der rasende, starke Puls in seiner Brust...er hatte es nie in Vergessenheit geraten lassen. Auch jetzt würde er niemals auch nur daran denken, vergessen zu wollen. Trotz seines tragischen Todes würde er sich weigern, die schönen Erinnerungen mit Feliciano wegzuschmeißen. Sie waren ihm zu wichtig; Feliciano war ihm zu wichtig. Und egal wie viel Zeit verginge...er würde ihn immer lieben. So wie es Feliciano einst sagte, flüsterte auch Ludwig seine Worte, wenn auch brüchig, nach.
"Ti amo...per...sempre ed eterno."
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27. September 1944
Ich könnte gerade jede einzelne Vase dieses verdammten Hauses in Stücke reißen! Ich bin so wütend, so enttäuscht, so verwirrt und traurig und ich weiß einfach nicht mehr weiter...Ich bin einfach so durcheinander, ich weiß nicht, was ich denken soll! Ludwig wird mich verlassen. Er wird Anfang Oktober in diesen wahnsinnigen Krieg geschickt und ich kann nichts weiter tun, als zuhause zu sitzen und darauf zu hoffen, dass er so bald wie möglich zurückkehrt. Ich will es nicht, ich will, dass er bei mir bleibt...Ich sehe ihn doch sowieso schon so selten. Und der Gedanke, dass ich ihn vielleicht für immer verliere, macht mich fertig. Es sind doch schon so viele gefallen, was wäre, wenn es auch Ludwig träfe? Ich könnte es nicht verkraften. Ich könnte nie und nimmer mit dem Schmerz leben. Ich würde es nicht glauben; ich würde so lange weiterleben, bis ich ihn wieder bei mir habe. Bis ich ihn wieder in die Arme schließen kann; seine Wärme spüre und seinen Puls höre. Ich möchte nicht, dass er geht. Ich habe solche Angst um ihn! Er sagte mir, ich würde überreagieren, aber...ich sorge mich eben um ihn. Ich will, dass er in Sicherheit ist, dass er weit weg von der Gefahr und dem Tod ist. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn zu sehr, um ihn wieder zu verlieren. Ohne ihn werde ich eingehen wie eine Blume, ohne Sonnenlicht. Ohne ihn werde ich nicht mehr glücklich. Er ist das, was mich glücklich macht. Er ist derjenige, der mich zu dem macht, was ich bin. Und wenn er nicht mehr da ist...was bin ich dann?
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1. Oktober 1944
Morgen früh wird Luddy wegfahren. Auf unbestimmte Zeit. Heute haben wir unseren letzten Tag miteinander verbracht und jede einzelne Sekunde, die sich dem Abendrot näherte, zerriss mich wie ein Blatt Papier; in der Mitte durch und dann in alle Einzelteile, bis nur noch ein Haufen Schnipsel übrig bleibt. Ich war nicht der Einzige, der sich so fühlte, auch Ludwig schien sehr unglücklich und deprimiert zu sein. Aber auch wenn ich mich innerlich schrecklich fühlte, habe ich versucht, für Ludwig glücklich zu sein. Ich habe versucht, ihn aufzuheitern, uns schöne Erinnerungen zu erschaffen, denn ich wusste...Wenn wir uns auf diese Weise trennten, würden wir, egal wie es enden würde, mit glücklichen Momenten abschließen. Auch wenn uns unsere damit verbundene Sehnsucht zueinander nur noch mehr Flammen entfachen und in einem höllischen Feuerinferno erlöschen würde. Es wird uns zerstören, unsere Herzen werden nacheinander rufen und uns brennende Schmerzen bescheren, aber das war der Preis, den wir dafür bezahlen mussten.
Lieber leide ich unter Liebeskummer als unter dem Gewissen, dass unsere letzten Momente miteinander kalt und von Kummer geprägt sind.
Ich hoffe nur, dass er zurückkommt und dieses grauenvolle Bekriegen endlich sein Ende findet.
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31. Oktober 1944
Seit fast einem einem Monat ist Ludwig bereits weg. Die ersten Wochen waren die Hölle und ich konnte mich zu nichts zwingen, das mich hätte ablenken können. Er schreibt mir zwar regelmäßig Briefe, erzählt mir wie es ihm geht und was als nächstes für ihn ansteht, aber so wirklich persönlich waren die Briefe nie. Sie wurden alle kontrolliert, ausgebessert und bei Bedarf verschwanden vielleicht auch viele...Dabei würde ich gerne wissen, was Luddy so denkt, ob er oft an mich denkt und der Wunsch ein einfaches Ich-liebe-dich lesen zu dürfen, würde nie in Erfüllung gehen. Dennoch freue ich mich auf jeden Brief. Ich lese sie alle täglich, denn sie erinnern mich daran, dass Ludwig noch irgendwo da draußen ist und lebt. Ich bin quasi von den Antworten seinerseits abhängig geworden. Aber was sollte ich dagegen machen? Es ist doch das Einzige, was ich von ihm habe; das Einzige, das mir jeden Tag Hoffnung gibt, dass er zu mir zurückkommt. Ich verstecke die Briefe unter meinem Kopfkissen, um sie immer bei mir zu haben, wenn ich sie brauche. Wenn ich mich einsam fühle oder mich ein schlechtes Gewissen plagt, fliehe ich zu den wenigen, aber kostbaren Worten, die mir Ludwig hinterlässt.
Und bis er wieder kommt, werde ich hier auf ihn warten.
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15. Dezember 1944
Manchmal weine ich so viel, dass ich glaube zu ertrinken. Es lässt mein Herz in Scherben zerbrechen, es lässt mich in ein tiefes Loch der Verzweiflung fallen. Niemand kann mir helfen. Ich fühle mich so einsam, verlassen und völlig nutzlos. In den letzten Tagen habe ich vermehrt an Ludwig gedacht. Die Briefe kommen immer unregelmäßiger und wenn ich sie in den Händen halte und seine Worte lese, merke ich die Müdigkeit in seinem Schreiben. Er ist erschöpft, ihm geht es nicht gut...ich weiß es, auch wenn er mir es niemals gesagt hatte. Ich weiß es einfach. Der Krieg nagt an seinem Verstand, an seinem Körper, an seiner gesamten Person. Er verfällt der Leere, der Einsamkeit, seine Welt wird grau...er möchte nicht mehr. Ich weiß nicht, warum ich es weiß, aber ich spüre es. Ich spüre, wie Ludwig sich fühlt und dadurch fühle ich mich ähnlich. Es ist, als teilten wir uns ein und dasselbe Herz, auch wenn es natürlich unmöglich ist. Aber trotzdem habe ich ein Gefühl der Verbundenheit in mir, das mir Tag ein Tag aus leise zuflüstert. Es erzählt mir Dinge aus früherer Zeit, aus der Vergangenheit, und auch der Gegenwart. Ich muss verrückt geworden sein, wenn ich diesem Hirngespinst Glauben schenke, aber etwas sagt mir immer wieder, dass es stimmt. Und selbst wenn...es wäre nichts Schlimmes, nein, es würde mich sogar freuen.
Denn dann würde ich wissen: Ludwig ist für immer bei mir...in meinem Herzen. Auch, wenn wir eines Tages getrennte Wege gehen.
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24. Dezember 1944
Heute ist Heiligabend und Fratello, Mama und Papa haben bereits das Haus geschmückt. Normalerweise bin ich immer so aufgeregt und wäre in Feierlaune, aber irgendwie habe ich heute keine Lust...
Ich frage mich, ob Ludwig auch Weihnachten feiern kann...
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28. Jänner 1945
Seit einigen Tagen habe ich ein starkes Schwindelgefühl und Kopfschmerzen. Meine Arme und Beine sind wie gelähmt, ich habe Atemprobleme und ich huste sehr oft. Manchmal habe ich einfach so Anfälle von Schüttelfrost. Mir geht es gar nicht gut. Ich habe kaum noch Kraft zu schreiben oder zu zeichnen. Ich bin quasi ans Bett gefesselt. Heute Nachmittag wurde ich untersucht und der Doktor stellte eine Lungenentzündung fest. Ich war entsetzt als ich die Nachricht erfahren habe, denn Opa Rom war durch eine Lungenentzündung gestorben. Ich habe solche Angst! Was, wenn ich wie Opa auch daran sterbe. Mama hat versucht, mich zu beruhigen und sagte, dass das nicht passieren würde. Ich sei noch jung und stark und Opa sei schon alt und schwach gewesen. Aber dennoch habe ich Angst davor zu sterben. Was ist, wenn es schlimmer wird? Was ist, wenn ich nicht mehr hier bin, wenn Ludwig zurückkommt? Lovi würde sagen, dass da meine Fantasie mit mir durchgehen würde, da ich doch Medikamente bekommen habe und "nur" unter einer "harmloseren" Lungenentzündung leide. Aber ich sehe es in seinen Augen, dass auch er an diese Szenarien denkt.
Ich kann nur noch hoffen, dass sich ihre Vermutungen bestätigen, wenn die meinen schon negativ sind...
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25. April 1945
Ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist. Ich werde von Tag zu Tag schwächer, meine Gliedmaßen werden schwer wie Blei und ich habe manchmal schreckliches Herzrasen. Laut dem Doktor müsste meine Lungenentzündung längst verflogen sein. Das war sie auch, aber warum geht es mir nach so vielen Monaten immer noch so miserabel? Jeden Tag quäle ich mich aus dem Bett, habe überall Schmerzen. Körperliche und auch geistige Schmerzen. Doch diese waren nichts im Vergleich zu dem endlos tiefen Loch in meiner Brust, das mich täglich ein Stückchen mehr verzehrt...Mein Körper ist diesem Kampf gegen die Natur nicht gewachsen. Ich werde sterben. Ich kann mich nicht mehr lange halten. Ich sterbe jeden Tag ein bisschen mehr, aber was auch geschieht...Ich möchte mein Versprechen halten. Ich will und werde nicht von dieser Welt gehen, bevor ich Luddy wiedergesehen habe. Auch wenn es hunderte Jahre so weiterginge...Mein letzter Wunsch ist es, Ludwig ein letztes Mal zu sehen, ihn zu umarmen, ihn zu küssen und zu spüren. Ich will wissen, dass er wirklich bei mir ist.
Viele Leute sagen deswegen, dass ich zu anhänglich und kontaktfreudig bin, aber ich brauche die Nähe von anderen...es erinnert mich daran, dass ich nicht alleine bin.
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31. Mai 1945
241 Tage. So viele Tage habe ich bis jetzt hinter mich gebracht. So viele Tage besaß mein Herz nun seine dicke Eisschicht, seine Ketten, seinen Käfig. So viele Tage sind vergangen, seit ich Ludwig das letzte Mal gesehen habe. Seitdem warte ich. Ich warte auf Briefe, ich warte auf Worte, ich warte auf einfache Zeichen, die mir verraten, dass er noch lebt. Seit dem 25. April hörte ich nichts mehr von ihm, wenige Wochen später schwiegen endlich die Waffen in Europa. Österreich wurde unter den Alliierten aufgeteilt und war wieder, mehr oder weniger, eine eigenständige, unabhängige Republik geworden. Aber auch nach dem Kriegsende in Europa kam keine Nachricht mehr von Luddy. Es ist so, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Nichts. Niente! Kein einziges Wort, keine einzige Information, die mir sagen konnte, ob er noch unter den Lebenden weilte oder ob er in den letzten Tagen des Krieges umgekommen war. Dieses Unwissen, es macht mich fertig. Es frisst mich innerlich auf. Ich weiß nicht, wohin; ich weiß nicht, was ich denken sollte. Einerseits sagt mir mein Herz, dass er noch lebt und heil davongekommen ist, andererseits schließt es die Möglichkeit des Todes nicht aus. Ich möchte doch nur so gerne wissen, ob ich mich selbst bereits aufgeben und mir mein Weiterleiden ersparen sollte oder ob ich noch warten und darum kämpfen sollte, zu leben.
Mama, Papa...es tut mir so leid, dass ich euch so viel Schmerz und Kummer bereite.
Lovi, es tut mir leid, dass ich so ein nichtsnutziger, kleiner Bruder war und dir das Leben erschwerte.
Opa Rom, ich habe dich enttäuscht, ich werde niemals ein berühmter Künstler, wie es du es mir immer gewünscht hast.
Kiku, mein Brieffreund, verzeih mir, dass ich so lange nichts mehr schrieb, du machst dir bestimmt Sorgen.
Und...Ludwig...auch wenn ich unsere Versprechen brechen sollte, bitte, hasse mich nicht.
{♡}
13. Juni 1945
So wie die Sterne am Nachthimmel strahlen,
So möchte ich dir dein graues Leben bunt bemalen.
Zeitlos wie die Kunst der alten Römer,
Griechen, Germanen und Tagelöhner,
Möcht' ich dir hier etwas hinterlassen,
Etwas mit Sorgfalt und endloser Liebe verfassen,
Bevor ich werde von euch gehen,
Und euch ein letztes Mal sagen kann: Auf Wiedersehen.
[...]
~♡~
Das leise Zirpen der Grillen erfüllte die nächtliche Stimmung. Es war bereits dunkel geworden und in fast allen Zimmern herrschte die friedliebende Dunkelheit. Nur in einem kleinen Zimmer brannte noch dämmriges Licht einer altmodischen Lampe. Seiten wurden umgeblättert, Tränen wurden vergossen und mittendrin spielten Gefühle einfach nur verrückt. Als das Datum des Gedichtes gelesen wurde, weiteten sich die Augen des Lesers und sein Herz rutschte abwärts, als würde es nach der gesamten Qual endlich fliehen wollen. Das Datum lag nicht lange zurück, das war das Erschreckende, das ihn von allen Seiten heimsuchte. Es waren die letzten Gedanken eines Jungen, der sein Leben zu früh aufgeben musste. Doch bei jedem Umblättern fielen blassblaue Blütenblätter durch die dünnen Seiten und legten sich auf dem dunklen Schreibtisch nieder. Gefolgt von der Blüte einer ganz besonderen Blume, die im Verborgenen ihre eigene Geschichte mitbrachte.
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15. Juni 1945
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Alles wird zu Staub zergehen einmal,
Auch an dem Tag an dem ich vollends zerfall'.
Alles wird zu Asche irgendwann,
Doch mein Stern wird strahlen so hell wie er kann.
Und auch wenn alles verloren scheint,
hoff' ich, dass zumindest diese Blume vor dir
für dich übrig bleibt...
Vergiss-mein-nicht
~Feliciano Vargas
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"Vergissmeinnicht..."
Ludwig betrachtete die zierliche, blaue Blume in seinen Händen. Ihre dünnen Hälse trugen wunderschöne Blüten, doch ihnen fehlte die Kraft, um sie lange genug festzuhalten. Sie waren schwach und doch stark genug, um eine letzte Botschaft zu übermitteln. Eine Botschaft, die den sonst so robusten Deutschen mitten in sein verletztes Herz traf. Heiße Tränen, die er sonst so gern zu verstecken drohte, rollten seine Wangen hinab und sein Körper zitterte. Seine Sicht wurde unscharf, sein Verstand mit dickem Nebel umhüllt. Dunkle, feuchte Flecken schlugen auf das Papier ein, verwischten die Tinte ein wenig und offenbarten die versteckten Farben der tiefblauen Schrift. Sein Herz schlug langsam und schwer vor sich hin, jeder Herzschlag war wie ein Dolchstoß; wie ein Pfeil, der sich durch Haut, Fleisch und Knochen bohrte und das Spüren der Umwelt in eine Betäubung stürzte, bis man nur noch glaubte, im Nichts zu schwelgen. Es war das Fehlen eines wichtigen Teils seines Herzens, das ihn so schutzlos und verletzlich spüren ließ. Und dieses Fehlen konnte nur eine Person wieder entfernen; aus der Leere eine Fülle schaffen...Und das war Feliciano. Ludwig hatte ihn aus den Augen verloren, Ludwig hatte sein Leben durch seine Finger gleiten lassen. Er war in Ludwigs Armen gelegen, mit einem Lächeln im Gesicht von dieser Welt gegangen...Er hatte in den letzten Momenten nach seiner Nähe gesucht, nach seinem Schutz. Und dann...
"...starb er in meinen Armen..."
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17. Juni 1945
Ich wünschte, ich hätte eine zweite Chance.
Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.
Ich wünschte, ich wäre ein besserer Mensch geworden.
Aber es ist zu spät. Es tut mir leid, Mama, Papa, Lovino, Ludwig...Ich habe mein Bestes versucht. Aber es war anscheinend zu wenig. Aber vielleicht war es auch für mich vorgesehen so früh zu gehen. Vielleicht hatte ich meine Aufgabe auf der Erde bereits erledigt, jedoch sagte mir niemand, dass ich so viele gebrochene Herzen zurücklassen müsste.
In einem anderen Leben hätte ich Stärke und Ehrgeiz gezeigt. In einem anderen Leben hätte ich meine Versprechen gehalten. In einem anderen Leben wäre ich vielleicht ein besserer Sohn, ein besserer Bruder und Freund gewesen. Ich wäre nicht der gewesen, der abhanden gekommen ist; der, der allen so viel Leid hinzufügte. Ich fühle mich so schuldig. Ich fühle mich so scheußlich. Aber wenn mich etwas hier und jetzt glücklich machte, dann das Wissen, dass ich geliebt wurde. Ich wurde geliebt und ich werde nicht vergessen, da bin ich mir jetzt sicher. Es hatte lange gedauert, bis diese Nachricht endlich durch die dicken Mauern meiner Selbst ankam. Und ich bin glücklich. Ich liege in den Armen der Person, die ich am meisten liebe. Die Person, nach der ich bis in die Ewigkeit und darüber hinaus suchen würde. Es ist ein Wunder, dass ich ihn unter diesen unzählig vielen Menschen auffinden konnte. Ein Wunder, das ich überhaupt in der Lage war, ihm nahe zu sein...Ich fühle mich beschützt, behütet und beruhigt. Ich werde sterben, aber ich habe keine Angst mehr. Ludwig ist hier, er ist alles, was ich im Moment brauche.
Also, liebe Mama, lieber Papa, lasst euch nicht unterkriegen, ihr seid tolle Eltern gewesen.
Lovino, bitte sei nicht mehr wütend auf Ludwig und mache dich nicht zu fertig, denn wir werden trotzalledem immer noch Brüder sein.
Kiku, du wirst dies wohl niemals zu Gesicht bekommen, aber ich habe unsere Brieffreundschaft immer sehr genossen und ich hoffe, du kommst ohne großen Verlust zu machen über die Runden.
Und Ludwig...danke. Danke für alles, was du je für mich getan hast. Ich liebe dich. Ich liebe dich von ganzem Herzen und solange du mich, solange ihr mich in eurem Herzen behält, werde ich niemals fort sein.
Wir sehen uns in einem neuen Leben, egal ob Himmel oder Erde, wir werden uns wiedersehen...Und wenn ihr nachts in den Himmel schaut, denkt an mich. Denkt an mich, denn mein Stern des Himmels wird euch entgegen leuchten und euch von oben aus zusehen.
~Feliciano Vargas
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Danach war keine einzige Seite mehr beschrieben. Sie waren leer und weiß, sie waren unvollständig. Erst am Ende des Buches, auf der letzten Seite stand wieder etwas, jedoch konnte man alleine vom Schriftbild erkennen, dass es sich hierbei um die Schrift eines Anderen handelte.
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Auf ewig erinnert und niemals vergessen.
Feliciano Vargas (17. März 1928 - 17. Juni 1945)
Tod durch Lungenembolie
Mein lieber Fratellino, ich werde dich vermissen,
aber ich weiß, du schwebst sicher in des Himmels Kissen.
Frei von Schmerzen, frei von Sorgen,
bis du bereit bist für den neuen Morgen.
~Lovino Vargas
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Die blitzblauen Augen schlossen sich.
Er war allein, allein in seiner Einsamkeit. Er konnte seine Tränen schon lange nicht mehr zurückhalten, wie sehr er es auch versucht hatte. Es tat weh. Es tat so verdammt weh. Dieses Ziehen in seiner Brust, das er die Tage davor für tot oder eingefroren hielt, tötete ihn innerlich.
Es zerfetzte ihn, es machte ihn zu einem gebrochenen Mann. Seine derartige Pein konnte er mit keinem einzigen Wort der Welt beschreiben.
Sie war so tief und fest in ihm verankert, dass es nicht nur seinen Körper, sondern auch insbesondere seinen Geist zum Sklaven seines eigenen Leids machte. Er war in sich selbst gefangen; eingekesselt in einer Glashaube aus massiven Panzerglas. Kein Gefühl der Außenwelt konnte eindringen und den Gefangenen aus seiner Depression herausholen, er war auf ewig in der Leere gefangen...mit den Empfindungen des Verlustes, des Schmerzes und des Vermissens. Ludwig hätte es nie für möglich gehalten, für ihn die Hölle auf Erden zu holen...
Er hatte sich geirrt.
Er hatte sich so sehr geirrt.
Denn in diesem Moment...diesem höllischen Moment, in dem ihm ein weiteres Mal klar wurde, dass Feliciano nie und nimmer zu ihm zurückkehren könnte, fühlte er sich, als ob er gerade im ewigen Fegefeuer der Hölle sein Ende finden würde; als ob er in den tiefsten Tiefen des Tartaros in den pechschwarzen Fluten sein irdisches Leben aushauchte. Aber das tat er natürlich nicht wirklich. Jedoch war diese Emotion, die ihn heimsuchte, so viel realer und doch so unwirklich, dass Ludwig die Realität nicht mehr von einer Fantasie unterscheiden konnte.
Er las sich die Seiten erneut durch, ließ den Schmerz auf sich einwirken und fühlte, wie sich sein Herz brutalst zusammenzog. Sein Kopf brummte, seine Augen brannten und die ganze Übelkeit, die er von seinem Kummer bekam, wurde jede Sekunde mehr. Er hätte lieber sterben wollen, als diese Schmerzen wie Narben auf seinem Körper tragen zu müssen...Narben, die jeder entdecken konnte, wenn man in sein Gesicht; in seine Augen sah. Eine gebrochene Seele dahinter zu entdecken und sich zu fragen, was sich im Leben dieser Person abgespielt haben muss, um diesen Ausdruck von Seelenschmerz der unbeugsamen Welt zu offenbaren...das würde jedem in den Sinn kommen, der tief genug in die tristen, grau verhangenen Seelenspiegel des Deutschen sehen konnte.
Die vom dämmrigen Lampenlicht glänzenden Tränen in seinen Augenwinkeln ließ er über seine Wangen rollen, deren Haut bereits mit eingetrockneten Wasserspuren belegt war. Das Zurückstauchen seiner Trauer hätte nichts gebracht, sie war einfach zu groß geworden, um sie weiterhin einzusperren. Sie musste raus. Sie konnte nicht mehr im Zaum gehalten werden.
Ludwig umklammerte Felicianos Buch, als würde es jeden Moment in Staub zerfallen und damit alle gesammelten Erinnerungen auslöschen. Seine Fingerknöchel schienen weiß hervor und sein Griff verkrampfte sich. Er ließ einen rauen, abgedämpften Schrei los, sodass es niemand außer ihm selbst hören konnte. "Feli...", flüsterte er mit abgehackter Stimme und sein trister Blick fiel auf den tiefschwarzen Nachthimmel, der sich über die ganze Stadt und darüber hinaus wie ein Trauerschleier über einen hellen Sommertag legte. Nach und nach blitzten Sterne auf, allesamt verstreut in der Dunkelheit, weit weg von ihrer zerstörten Welt. Manche strahlten alleine, wieder andere bildeten ein Sternbild...Sie alle hatten ihren Platz am Himmel, ein jeder auf der Welt konnte sie sehen, sie betrachten und sie auf ihre Einzigartigkeit hin bewundern. Ein Stern stach jedoch besonders heraus. Zunächst blinkte er nur vage auf, wurde aber nach und nach heller. Er suchte Konkurrenz zum Nordstern, übertönte dessen Leuchten und machte sich durch einen, womöglich eingebildeten, Puls bemerkbar. Dieser eine Stern zog die Aufmerksamkeit Ludwigs auf sich, fing seinen trüben, leblosen Blick ein und setzte allein mit seiner Präsenz den einen oder anderen Funken zurück in die verhangenen Seelenspiegel. Es wirkte, als wolle dieses kleine Lichtlein etwas mitteilen; als wolle es ihm sagen "Bitte, weine nicht. Lache. Lache dafür, dass er gelebt hat. Lache, dass du ihn gekannt hast; dass du seine Welt erfahren durftest. Lache...für ihn, lache für dich, lache für euch".
Und vielleicht, aber nur vielleicht, spürte Ludwig in diesem Moment einen umarmenden Wind im Rücken, der ihm seine Last von den Schultern nahm. Ein Luftzug, der ihn für einen kurzen Moment beflügelte, ihn tröstete und ihm leise Worte ins Ohr, nein, in sein gebrochenes Herz flüsterte.
Ich werde immer bei dir sein...in deinem Herzen.
Und Ludwig würde antworten, sich am Tisch abstützen und seine letzte Phrase suchen, bis ihm endlich etwas über die Lippen kam, das seinen ganzen Frust, seine gesamte Trauer in die Hände eines erlösenden Engels, eines tatsächlich im Hier und Jetzt existierenden Luftzuges, fallen ließ.
"Ich vermisse dich, Feliciano."
Ende?
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Dieses Kapitel hat mich auffallend oft bis ans Limit gebracht. Ich bin teilweise echt nicht zufrieden und ich weiß nicht, wieso.
Jedenfalls ist die Kurzfanfiction hiermit "beendet", ABER wenn ihr wollt, könnte ich noch ein weiterführendes/alternatives Ende schreiben, das nicht so...traurig endet.
(Ich machs so oder so, aber mich würde es interessieren, wer so ein extra Ende wirklich lesen möchte xD)
Ich bedanke mich hiermit bei allen Lesern, die diese Fanfiction durchgehalten haben und mich nicht aufgrund des Sad Ends hassen. Ich bedanke mich natürlich auch für die netten Kommentare, die ich lesen durfte!
So, und jetzt wieder zu meinem Punkte System:
1. Feedback zur Geschichte?
2. Habt ihr Verbesserungsvorschläge?
3. Was habt ihr an der Fanfiction gemocht/gehasst?
4. Diese gesamte Fanfiction wurde von folgendem Video inspiriert:
https://youtu.be/bZ4onllj9xM
5. Es gab einige (indirekte) References auf andere Fanfictions von anderen Autoren sowie Anlehnungen zu anderen Anime.
Und diese waren NICHT geplant.
~7419 Wörter
Hasta la pasta(=ヮ=)೨
Over and out
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