Dritter Akt
18. Juli 2026
[03:34 Uhr; Gasthof zum Edelweiß]
Das behutsame Pfeifen des Windes, der sich seinen Weg rastlos durch Berg und Tal schlug, erreichte auch die kleinen Häuser der niedlichen Kleinstadt und rüttelte an den Blättern der Bäume sowie den nur halb geschlossenen Jalousien der geöffneten Dachfenster.
Die nächtlich aktiven Zirpen, deren Melodie jeden Sommer in den Ohren der Menschen schallte und sie somit in einen beruhigenden Sommernachtstraum wiegte wie ein altbekanntes Wiegenlied. Beide Melodien - die des Windes sowie die der Natur - harmonierten im perfekten Einklang miteinander, ganz so, als wären sie Teil eines gigantischen Orchesters, das seine neueste Sinfonie mit aller Kraft und Hingabe darbieten wollte.
Es rauschte, es klingelte, es surrte, schnarchte und schwirrte. Manches nervte, konnte aber gleichzeitig durchaus beruhigend wirken. Der Vollmond leuchtete mit hellem Schein in das altmodische und traditionell eingerichtete Schlafzimmer des abgelegenen Gasthauses herein und erschuf mit seinem sanften Lichterspiel eine Atmosphäre, die einen zunehmend schläfrig und rundum zufrieden stellte. Es tauchte alles in beruhigendes, jedoch sehr kaltes Silber. So kalt, dass es den hellwachen Feliciano beinahe zum Frösteln brachte. Stundenlang rollte er schon im Bett herum, stundenlang versuchte er, endlich den wohlverdienten, heißgeliebten Schlaf zu bekommen, was sich allerdings als sehr schwierig herausstellte. Egal wie sehr sich der junge Italiener auch bemühte, es zu unterdrücken, sein Kopf überflutete ihn jede weitere Sekunde mit Gedanken, Gefühlen und fiktiven Geschehnissen, die ihn daran hinderten einen kühlen Kopf zu bewahren und ins Land der Träume zu flüchten. Sein Schädel brummte fies und wurde allmählich schwer wie Blei, sodass Feliciano oft verzweifelt zu einem Glas Wasser greifen musste, in der Hoffnung, der Schmerz würde verfliegen. Wie falsch er doch lag...
Seit dem merkwürdigen Zwischenfall am Hauptplatz stand Felicianos Welt plötzlich Kopf. Überall, wohin er auch ging, schien ihn etwas wie einen Schatten zu verfolgen, summte ihm süße Phrasen ins Ohr und nistete sich mit einem reißenden Schmerz in sein Herz ein.
Nicht zuletzt löste der spontane Ausflug in das alte, vornehme Haus des lang verstorbenen Vargas' nahezu unkontrollierbare Emotionen in Feliciano aus, die ihn beinahe in einen Nervenzusammenbruch trieben. Jeder gemachte Schritt durch die Gassen, jeder noch so seltsam familiäre Geruch von alten Stoffen und morschen Holzbrettern, selbst die Gesichter und Aufbereitung der Landschaft übermittelten ihm das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Als wäre er selbst vor vielen, vielen Jahren die gleichen Wege gegangen, hätte die Menschen gekannt und schöne Erlebnisse an diesem Ort gesponnen. Als lägen letzten Erinnerungen, Atemzüge und Worte eines zu früh weggeworfenen Lebens alle hier in diesem verschlafenen Tal.
Aber...das war doch unmöglich...oder nicht?
Feliciano wusste es nicht mehr. All diese Hinweise - diese Träume, dieses sachte Klingeln, dieses Schreien seines Herzens - konnten unmöglich reiner Zufall sein. Niemand könnte sich Sachen wie diese ohne Weiteres einbilden; könnte sie spüren, könnte sie leiten. Vor allem, wenn ein einzelner Junge inmitten dieses Chaos immer wieder auftauchte, immer wieder verschwand und letztendlich wiederkam.
Letzten Endes gab die Besichtigung des alten Hauses dem Ganzen den finalen Stoß. Feliciano hatte jeden Winkel gekannt, er hatte instinktiv gewusst, welche Treppen in welchen Raum führten, auch wenn sie diesen nicht besuchten. Selbst welche Holzplanken ein grausiges Knarzen von sich gäben, war ihm bekannt, während die anderen nur mit Staunen die neue Umgebung bewunderten. Es war furchterregend, wie oft ihm Szenarien von früheren Zeiten durch den Kopf schossen; wie lebendig die Bilder vor ihm auftauchten, als wäre sein gesamter Körper in eine realitätsnahe, virtuelle Welt gesogen worden, die ihn davon abhielt zurückzukehren. Je länger sie in dem Anwesen auf dem Hügel verweilten, desto unwohler und aufgeregter hatte Feliciano sich gefühlt. Sein Puls gab nie Ruhe, das Adrenalin, das durch seine Adern strömte, nagte an seiner Geduld und der Wunsch wegzulaufen wurde nach und nach größer. Hin und wieder ertönte das altbekannte Klingeln in seinen Ohren und er würde sich wie jedes Mal danach umdrehen, auch wenn er bereits erwartete, dass es schon wieder nichts wäre. Der Italiener war während dieser Zeitspanne so verdammt ruhig gewesen, dass sich seine Familie bereits Sorgen machte, dass etwas nicht stimmte. Aber Feliciano hatte bestmöglich versucht, all das zu ignorieren, auch wenn es ihn insgeheim sehr verängstigte.
Feliciano rollte auf die andere Seite des Bettes und zog die dünne Decke bis zu seiner Nasenspitze hinauf. Wieso erschienen ausgerechnet ihm Abnormalitäten wie diese? Wieso wurde er Tag, Tag aus von Déjà-Vu's verfolgt? Wieso war er mit dieser Absonderlichkeit allein? Was löste die ewig anwesende Leere aus? Was...
"Was suche ich eigentlich...?", Feliciano betrachtete sein rotes Armband im geisterhaften Mondlicht und seufzte, "Was bedeutet das alles? Wo führt es mich hin?"
Sein müder Blick schweifte durch das halbwegs dunkle Zimmer, verfolgte den sanften, mit Staubkörnchen unterlegten Lichtkegel, den Mond und Sterne für ihn erschufen und landete schließlich auf den unregelmäßigen, welligen Seiten eines alten Buches. In weinrotem Leder verpackt, versteckte es sich unter Felicianos durcheinander gewirbelter Kleidung im Koffer und wurde nur aufgrund des bereits abgeblätterten, goldenen Schriftzuges besonders auffällig. Der Junge blinzelte vorerst perplex, denn er konnte sich nicht erinnern, dieses alte Buch von Zuhause eingepackt zu haben. Doch gerade deshalb gewann es für einen kurzen Augenblick seine volle Aufmerksamkeit. Mucksmäuschenstill schlich er aus seinem Bett heraus, achtete darauf, seine Brüder nicht aufzuwecken und schnappte sich jenes alte Büchlein.
"Was hat das hier zu suchen?", wisperte er sich selbst zu, als er die vergilbten Seiten durchblätterte und die handgeschriebenen Einträge nur kurz überflug. Das letzte Mal, als er es gesehen hatte, war vor wenigen Wochen als er noch in Italien war und mit seinem Freund Kiku gemeinsam den Koffer packte, um nichts Notwendiges für den Urlaub zu vergessen. Vielleicht hatte er ihm das Buch heimlich zugesteckt, doch stellte sich nun die Frage, weshalb er das tun würde. Es war nichts weiter, als ein Familienerbstück, das in einem Regal besser aufgehoben wäre als hier. Es war einfach nicht zu erklären. Dennoch las der junge Italiener weiter, versuchte, die auf deutsch verfassten Texte wörtlich zu verstehen, scheiterte aber des Öfteren dabei. Obwohl sein Deutsch, das er durch die Schule lernte, nicht gerade schlecht war, blieben ihm einige Wörter immer noch unbekannt. Aber wenn er eines verstand, dann waren es die kleinen Skizzen und Zeichnungen, die einige Seiten boten.
Denn wenn die Worte nicht reichten, würden Bilder sie beschreiben können...Denn Bilder kannten alle Sprachen, so verschieden und komplex sie auch sein mochten.
Felicianos Herzschlag pulsierte stetig in seinen Ohren, je mehr er in dem alten Tagebuch vorankam und Nervosität sowie Aufregung und Neugier überfielen ihn in kleinen Stückchen.
All diese Texte, all diese Bilder...er wusste deren tiefsten Inhalt, konnte es aber nicht in Worte fassen.
Er konnte direkt spüren, in welcher Lage sich der Verfasser und Künstler befand.
Er sah durch die Augen jenes jungen Mannes, der einst verstarb.
Er verstand die damit verbundenen Wünsche und die Hoffnungen, die sich hinter verschlüsselten Botschaften versteckten.
Als schließlich die letzte, lose und zerknitterte Seite das milde, silbrig-blaue Mondlicht erblickte, kam Feliciano die endgültige Erleuchtung; die Antwort, die ihm endlich jede seiner Fragen erklärte und in dem schier endlosen Chaos seines orientierungslosen Lebens Ordnung schaffte. Mit zittriger Hand fuhr er über das Blatt, fühlte die kleinen Hebungen und Senkungen des Papiers sowie die tief sitzenden Konturen der Bleistiftzeichnung.
Er schluckte schwer; sein Herz raste und schrie so laut es nur konnte.
Für einen kurzen Augenblick blendete er alles aus; nahm nur noch sich und das Buch in seinen Händen wahr.
Er erstarrte und hielt inne.
Denn das sorgfältig bearbeitete Portrait eines Mannes - kaum älter als er...Es glich dem Gesicht, welches ihn seit Ewigkeiten in seinen Träumen verfolgte.
Dem Gesicht des jungen Mannes, der in jeder Zeitepoche seiner Träume die Gestalt eines Verbündeten annahm.
Der Verbündete...den er schon vor langer Zeit kannte.
Der Verbündete, den er kannte, verlor und wiederfand....
Der Verbündete, dem er vertraute, nach dem seine Seele verzweifelt rief....
Der Verbündete...den er...liebte.
Feliciano dämmerte es. Er begann, zu verstehen.
Ein süßes Klingeln erfüllte die kühle Sommernacht wie eine erste Schneeflocke im Winter.
Er ließ das Buch langsam zu Boden sinken. Er stand auf. Ein zuversichtliches Lächeln auf den Lippen tragend.
Des Herzens Bassseite spielte neue Melodien. Sie schmerzten; sie heilten; sie brüllten.
Seine Beine trugen ihn an den Betten seiner Brüder vorbei, ließen ihn zwischen den Koffern umherzischen.
Die unmittelbare Nähe eines anderen schien immer realer zu werden.
Er erreichte das Fenster, sah die hellen Sterne und seine Hand ruhte auf der kalten, gläsernen Oberfläche.
Sie sahen einander nicht, spürten allerdings die Verbundenheit, die sie trotz der vielen Kilometer zwischen ihnen zusammenschweißte. Und doch...waren sie sich näher als sonst und ihre Herzen versuchten, das jeweils andere endlich zu erreichen.
Und Feliciano lächelte breiter; kleine Tränen sprossen aus seinen Augenwinkeln und er verstand endlich, was sein Herz - seine Seele - von ihm verlangte.
Ein letztes Mal sah er zum hellsten Stern am Himmel hinauf; ließ sich von seiner Schönheit einvernehmen und genoss diese bittersüße Sehnsucht, ehe er sich kurzerhand wärmere Kleidung schnappte, sich umzog und so leise wie möglich mit seinem Smartphone aus dem Zimmer schlich.
Denn er wollte raus. Er musste raus.
Raus, um seinem Traum zu folgen.
Raus, um seinen Traum zu finden.
Und vielleicht...führte ihn diese Entscheidung aus dem grauen Alltag heraus.
***
18. Juli 2026
[3:40 Uhr; Kirchenwirt]
Leise kratzten Äste einer alten Linde an dem gekippten Fenster; die Vorhänge wellten sich vom sachten Wind, der in das beinahe stockdunkle Zimmer wehte. Das Licht des Vollmondes malte einige Streifen auf Wand und Bett, während der Staub wie kleine Diamanten darin freudig glitzerte. Anstatt dem pfeifenden Wind jedoch geduldig seiner Melodie lauschen zu können, wurde diese von stetigem Schnarchen und bedeutungslosem Gebrabbel unterbrochen und übertönt. Doch Ludwig bekam all dies nicht mit. Gefangen in einem tiefen, unglaublich realistisch wirkenden Traum, wälzte er sich ein wenig im Bett herum und die warme Decke fiel mit einem stumpfen 'Wusch' auf den dunklen, unebenen Holzboden.
Ludwig brummte unzufrieden, sogar verletzt; er drehte sich zur Fensterseite des Zimmers. Niemand konnte erahnen, welcher schön-schrecklicher Traum ihn diese Nacht heimsuchte.
Ein süßes Lachen klang in seinen Ohren; ein breites Grinsen zeichnete das fragile Gesicht eines Jungen.
Ludwigs Finger zuckten für einen Moment.
Leise Melodien wurden gesummt, Tränen flossen und die ehemals wie Bernstein glänzenden Augen wurden matt und leblos.
Ludwig drehte sich auf die andere Seite.
Man sah das Leid, man sah die Qual...die letzten flehenden Wörter, bevor alles zerfiel.
Ludwig bohrte mit seinen Fingerkuppen schmerzverzerrt in das weiche Kissen.Und schließlich, gefangen im Sturm von tausend blauen Blüten, fielen die kupferfarbenen Strähnen wie Seide in das blasse, leblose Antlitz. Die Augen auf ewig geschlossen, ein Lächeln auf den Lippen tragend...und die kleinen blassblauen Blütenblätter regneten sachte auf sie herab.
Mit einem erschrockenen Keuchen riss es ihn endlich aus dem Schlaf; kleine, ununterdrückbare Tränen hatten sich an den Augenwinkeln gebildet, die sich nun ihren Weg über seine Wangen bahnten und das silbrige Mondlicht wie ein Spiegel reflektierten. Sein Herz raste und zerrte sich selbst auseinander und das Atmen fiel ihm vorerst schwer. Sein Kopf brummte und fühlte sich so unglaublich schwer an, dass Ludwig ihn mit beiden Händen abstützen musste. Er versuchte, sich zu beruhigen, einen kühlen Kopf zu bewahren, aber es stellte sich schwieriger heraus als es war. Denn diese Bilder...diese verdammten Bilder brannten sich bereits in sein Gehirn ein.
Die Gestalt eines zierlichen, gut aussehenden Jungen...es war dieselbe, die er am Vortag bei seiner Ankunft erblickte. Es war dieselbe, die ihn seit Ewigkeiten im Traum mit liebreizendem Lächeln, gut gemeinten und doch manchmal frechen Antworten und vor Trauer triefenden Augen verfolgte. Ludwig hatte, seines Wissens nach, noch weder jemanden getroffen, der diesem südländisch wirkenden jungen Mann äußerlich auch nur ansatzweise nahe kam, noch jemanden, der sich auf dieselbe Art und Weise aufgeweckt und quirlig verhielt. Es ähnelte einem hyperrealistischem Hirngespinst, einer puren Laune der Fantasie, die den Deutschen eines Nachts vor drei Jahren hoffnungslos überfiel und nie mehr wieder losließ. Es grenzte an ein Wunder, dass Ludwig überhaupt dazu fähig war, einer nicht existenten Traumgestalt zu verfallen und in ihren Bann gezogen zu werden...aber...war diese Gestalt, dieser Junge, wirklich nicht real? War er wirklich nur ein Bild, das ihn fürs Leben prägte? Oder hatte er zumindest einmal einen auffälligen kupfernen Haarschopf mit einer eigensinnigen Locke gesehen?
Ludwig war sich nicht sicher, bildete sich aber ein, ihn nicht nur aus vermeintlichen "früheren Zeiten" zu kennen, sondern ihm auch in diesem Leben begegnet zu sein. Denn in seinen Träumen fühlte er sich komplett, während er im wachen Zustand wie ein unvollendetes Puzzle darauf wartete, vervollständigt zu werden...bis auf dieses eine Mal. Dieses eine überraschende, völlig unangekündigte Mal vor drei Jahren in einer überfüllten U-Bahn. Dieses eine Mal, wo er dieses herausstechende bernsteinfarbige Augenpaar inmitten einer dichten Menschenwelle erblickte und seitdem nie mehr wieder vergaß.
Ob der Träger dieser nahezu perfekten Seelenspiegel mit dem schönen Jungen aus seinen Träumen in Verbindung stand?
Zumindest vermutete er es stark.
Der Blonde schnaufte erschöpft und fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. "Ich bin wohl völlig verrückt geworden." Er war einfach verrückt geworden. Einfach verrückt.
Schläfrig wie er war, ließ er sich zurück ins Bett fallen; sein Arm locker über seine Stirn gelegt und sein Blick auf die mondbeleuchtete Decke geheftet. Und obwohl er sich weigerte, von dem gerade Geträumten zu philosophieren und es eher bevorzugt hätte, sofort einzuschlafen, hatten ihn seine innersten Gedanken fest im Griff. Er versuchte, sie abzuschütteln, scheiterte aber kläglich.
Wer?
Wer war er nur?
Wo hatte er ihn nur einmal gesehen?
Ludwigs Hände wurden zu Fäusten, als er bemerkte, wie diese simplen Fragen brutal an seinen Herzfasern zerrten und rissen.
Wo kam diese Verbundenheit zueinander her?
Wie war sein Name?
War er das, nach dem seine Seele schon seit Jahren suchte?
Verdammt, Ludwig wollte Antworten. Er wollte Antworten zu all diesen Fragen. Er wollte wissen, was der Grund war, weswegen er sich so leer fühlte, weswegen er sich nach etwas Unbekannten, aber bestimmt Wunderschönen sehnte.
Der Siebzehnjährige seufzte und drehte sich erneut im Bett herum. Das zufällig gefundene, blütenweiße Armbändchen schimmerte im Mondlicht wie eine kleine kostbare Perle, die geradewegs aus dem tiefblauen Meer geborgen wurde. Doch Ludwig bemerkte das alles nicht, denn seine Aufmerksamkeit oblag lediglich dem, mittlerweile schon zu Fleisch und Blut übergegangenen, Büchlein, das ihn überall hinbegleitete und nun auf seinem Nachtkästchen lag. Im Flüsterton zitierte er kurze Phrasen, um sich damit sanft zurück in den Schlaf zu wiegen, was sich jedoch als äußerst schwierig herausstellte, da sich seine Brust bei jedem gesprochenen oder gedachten Wort schmerzvoll zusammenzog. Es war wie ein Messer, welches sich in zögerlichen Kreisbewegungen durch den Körper bohrte, Sehnen und Gewebe zerteilte und einen auf schrecklichste Art und Weise dazu zwang, sich elendig zusammenzukauern.
Kalter Schweiß trat aus seinen Poren, seine Arme waren mit Gänsehaut versehen und ohne jegliche Vorwarnung zu erhalten, pulsierte sein Herz in langen schmerzhaften Zügen gegen seinen Brustkorb, als wäre es kurz davor aus seinem knöchernen Käfig zu entfliehen.
Es schrie einen Namen.
Einen Namen, den er nicht verstehen konnte.
Einen Namen, dessen Akustik scheinbar die Tiefen des Meeres verschluckt hatte.
Einen Namen, der ihm bereits auf der Zunge lag...den er kannte, aber dennoch nicht auffassen konnte.
Und dann...hörte er ein schwaches Klingeln, ein kaum hörbares Kichern, das ihn dazu verleitete, sich wieder aufzusetzen und neugierig aus dem Fenster zu starren. Eine unbekannte Macht zog ihn aus dem Bett heraus und führte ihn zu dem kleinen Fenster mit den natürlich gehaltenen, hölzernen Fenstersprossen. Und für einen Moment, nur ganz kurz, huschte eine erleuchtete Gestalt vorbei, die ebenso schnell verschwand wie sie gekommen war und nur noch kleine, unscheinbare Funken hinterließ. Irritiert rieb sich der Deutsche die Augen, wollte nicht wirklich glauben, was er gesehen hatte und hätte vorzugsweise sofort wieder Kehr gemacht, wäre da nicht...diese Neugier...dieses brennende, nach Antworten suchende Herz, das ihn zwang, näher ran zu gehen.
Er hatte schon viele Abende wie diese erlebt. Abende, an denen er die Nähe eines nicht Existenten spüren konnte. Abende, an denen er hoffnungslos und verloren in den Sternenhimmel gaffte. Doch nun, schien alles anders zu sein. Intensiver. Stärker. Wichtiger. Und vor allen Dingen...realer. Ludwig bewegte seine Hand auf die Fensterscheibe zu, spürte, wie die Kälte seine Handfläche umarmte und er wie viele Male zuvor nach wenigen Sekunden ein Erwidern der Tat bemerkte und aus der Kälte plötzlich eine angenehme Wärme wurde.
Andächtig schloss er die Augen, ließ sich von seiner Umgebung und dem Gefühl leiten, als ihn ein vergnügtes Kichern aus der Ruhe brachte. Ludwig riss die Augen auf, brauchte einige Sekunden, um die Situation zu verarbeiten und stockte. Die Silhouette - nun dunkel und sternenbesetzt wie das nächtliche Kleid des Himmels, goldene Konturen zeichneten seine Gestalt- lachte ihm niedlich entgegen.
Ludwigs Herz blieb stehen.
Sie sahen sich tief in die Augen; ihre Hände wurden ausschließlich von der Glasscheibe vor ihnen voneinander getrennt. Dennoch war sie da...diese enge Verbundenheit und Wärme.
Jedoch begann auch diese seltsame Erscheinung sich allmählich mit seiner Umgebung zu verwischen. Verwirrt beobachtete Ludwig nur das Szenario, wunderte sich über den schnellen Austausch zwischen Wärme und Kälte, als sich die Lippen der Gestalt auf einmal bewegten und leise vor sich hin säuselten.
"Suche und du wirst finden."
Und Ludwig dämmerte es. Er begann das Unmögliche zu verstehen. Er verstand nach all der Zeit die Worte, die in seinem Herzen wohnten und ihm jahrelang dasselbe erklären wollten.
Die Sehnsucht nach einer Person, die er schon lange hätte suchen müssen, kehrte voll und ganz zurück.
Er musste los.
Er musste gehen.
Er musste suchen und finden.
Nach dem Einen, dessen Name sein Herz schon immer schrie.
Dem Einen, dessen Name und Gesicht sich auf den Verfasser eines für ihn besonderen Buches glichen.
Dem Einen, der vor langer Zeit diese Texte für ihn schrieb.
Ludwig schnappte sich, ohne eine weitere Sekunde zu zögern, das Nächstbeste zum Anziehen aus seinen Sachen heraus, steckte sich das Handy in die Hosentasche und achtete darauf, still und leise das Zimmer zu verlassen, um Gilbert nicht aufzuwecken.
***
Beide Träger einer Jahrhunderte alten Seele wagten sich nach draußen. Das taubesetzte Gras unter ihren Füßen hinterließ dunkle Wasserflecken auf ihren Schuhen. Sie rannten ziellos los, folgten nichts weiter als ihrer Nase, ihrer Intuition, ihrem Herzen. Der Himmel strahlte allein für sie in den prächtigsten Blautönen, die man einfach hätte fotografieren und ins Internet stellen sollen. Die Kraft, die sie antrieb, schenkte ihnen Ausdauer und Geduld. Sie schenkte ihnen Mut und Hoffnung.
Während sie so über Wiesen, Feldern und Pfade liefen, die sie geradewegs in einen allzu bekannten Wald führten, sahen sie helle Sternschnuppen am Himmelszelt und lächelten mild. Ihre Herzen schlugen im selben, gleichmäßigen Takt; sie spielten dieselbe Melodie als wären sie eins.
Und als hätten sie sich lange davor abgesprochen, wisperten beide dieselben, zarten Wörter...
"Wo auch immer du bist auf dieser Welt, ich werde nach dir suchen."
***
[4:00 Uhr; Stadtrand]
Die Kieselsteine des kleinen Pfades knirschten intensiv, als Ludwig über sie sprintete und dabei auf die Seite schleuderte. Die ersten Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, sein Puls schlug stetig in schnellem Tempo weiter. Wo er sich genau befand, wusste er nicht, jedoch verrieten ihm die immer weniger werdenden Straßenlaternen, dass er sich nach und nach von der sicheren Kleinstadt entfernte.
Seine Vernunft hätte ihn vorzugsweise wieder zurück ins Gasthaus gelotst, aber die Neugierde und das Verlangen jemand Wichtiges endlich wiederzutreffen trieb ihn weiter an und stellte jegliche Art von Logik und Denken in den Schatten. Es war mehr als unüblich für den Deutschen, etwas kopflos und ohne durchdachten Plan zu vollziehen, weswegen gerade diese eigenartige Nacht neue Seiten von ihm aufzeigte.
Ludwig konnte aus reinem Bauchgefühl handeln.
Ludwig konnte seinen Kopf, wenn auch nur für kurze Zeit, ausschalten.
Ludwig konnte seiner Intuition folgen.
Und all das nur aufgrund einer fremden Person, die er im letzten Leben und davor kannte, liebte und verlor.
Erinnerungen konnten vergessen werden, Gefühle blieben erhalten; das hatte Ludwig nun eingesehen.
Denn er hatte vor vielen Jahren geschworen, niemals zu vergessen.
Auch wenn viele Fragmente in seiner Gegenwart noch unentdeckt waren, voll und ganz hatte er den jungen Mann mit der niedlichen Locke nie aus seinem Gedächtnis verbannen können.
Denn er war immer da...Tief in seiner Seele und seinem Herzen verankert wie ein versteckter Schatz inmitten der tiefblauen See.
Und seine Schatzkarte war das Rufen seines Herzens, das ihn über Stock und Stein führte.
Ludwig erreichte schnaufend die letzte, nur noch leicht glimmernde Straßenlaterne am Rande der Stadt. Die überraschend kalte Luft streifte pfeifend seine Ohren bis sie an den Spitzen völlig rot und betäubt wurden, während sein restlicher Körper noch vom Rennen brennend heiß war. Seine Sicht auf den Trampelpfad mit den eingedrückten Traktorspuren wurde immer dunkler und undeutlicher, je weiter er sich von der sicheren Lichtquelle entfernte. Ludwig roch den frischen Duft von morgendlichen Gräsern, Bäumen und Pflanzen; er hörte den Wind, der durch das Blätterdach und Nadelkleid einiger Bäume rauschte und das laue Zirpen der nächtlichen Insektenwelt unterstrich die Szene. Er musste direkt vor dem Eingang eines tiefen Waldstücks stehen, soviel stand fest.
Ludwigs Schritte wurden langsamer, sein schrecklich rasendes Herz wurde nach und nach immer stiller und zunächst hatte der Deutsche das Gefühl, jegliche Orientierung verloren zu haben; die vorhin gespürte Verbundenheit erlosch wie die Flamme eines glühenden Streichholzes. Es war wie ein Schnitt einer Schere durch ein dünnes Stoffband.
Aber warum?
Was war passiert?
Ludwig spürte, wie die brennende Hitze in seiner Brust abnahm und die schmerzvolle Kälte einen eisigen Schleier über sie zog. Noch nie hatte er sich so hoffnungslos verloren gefühlt. Noch nie war er so kurz davor, sich endlich vollkommen zu fühlen...So kurz davor, die Person zu finden, die sein Herz und seine Seele, nein, die er suchte. Und nun schien es, als würde ihm all dies auf einmal wieder entrissen werden.
Irgendetwas musste vorgefallen sein.
Aber Ludwig weigerte sich, hier und jetzt aufzugeben. Er war so kurz davor...so verdammt kurz davor, ihn zu finden. Und wo auch immer sich der Junge mit den Bernsteinaugen befand, Ludwig würde ihn auf der ganzen Welt suchen und schließlich finden. Deswegen rannte er weiter, immer und immer weiter in den dichten, hügeligen Wald; voller Hoffnung, doch noch ein kleines Lichtlein am Ende eines schier endlosen Tunnels zu erblicken.
Und dieses persönliche Lichtlein trug genau einen Namen...
***
[Einige Minuten zuvor; Feldweg]
Keuchend und mit fiesem Brennen im Hals rannte Feliciano den unebenen Feldweg nahe des Gasthofs entlang. Die verhältnismäßig kühle Abendluft, die sich wie ein eisiges Messer durch seine, nach Luft gierende, Lunge schnitt, färbte seine Wangen sowie die Nasenspitze in ein sattes Rot. Seine Beine wurden müde; seine Ausdauer neigte sich dem Ende zu. Gäbe es hier nichts zu gewinnen, hätte er schon längst aufgegeben und die weiße Fahne gezückt. Er hätte kehrt gemacht, jegliche Schwierigkeiten einfach fallen gelassen und sich lieber an den Dingen erfreut, die er bereits hatte.
Feliciano stolperte, schaffte es aber, sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Aber diesmal war er so erfüllt von Entschlossenheit, von Mut und Hoffnung, dass das Letzte, was er täte, Kapitulation wäre.
Sein Herz schlug stetig im gleichen, bittersüßen Takt...immer lauter und kräftiger. Immer lauter rief es nach dem Namen des Gesuchten, inmitten tiefer, wilder Meereswellen - seine Vergessenheit - die jedes Wort verschluckten...Und die Verbundenheit, die sich wie ein Band immer enger und straffer zusammenzog, steigerte seine Sehnsucht.
Müde und schwer atmend schaute der junge Italiener zum Himmel hinauf, nicht daran denkend, einfach stehen zu bleiben und einmal kräftig durchzuatmen. Der schöne Sternenhimmel mit dem silbrigen Vollmond schien zu verblassen und sich hinter dem dichten Blätterdach der nah beieinander stehenden Bäume zu verstecken. Die Geräusche nachtaktiver Tiere, das braune, herabgefallene Laub und das feuchte Gras, das an seinen Beinen kitzelte, verrieten ihm, dass er, ohne es zu bemerken, ein kleines Waldstück betreten hatte. Viele Hügel und Schluchten prägten den Ort, Nadel- sowie einige Laubbäume verschönerten die Szenerie. Man hörte einen Bach plätschern und das größere Geröll an den Seiten des schmalen Waldwegs, schenkte dem wunderschönen utopischen Paradies einen gewissen Charme.
Feliciano spürte die unregelmäßigen Hebungen und Senkungen im Boden, erschreckte sich manchmal, wenn er mit dem Fuß dagegen stieß und daher öfters den Halt verlor. Er sah den Weg nur noch schwach vor sich, weswegen er sich kurzerhand der nützlichen Handytaschenlampe bediente. Allein durch den mittelgroßen Lichtkegel, der einen kleinen Teil der Umgebung wenigstens etwas erleuchtete, erschien der Wald gar nicht mehr so unheimlich groß und unheilvoll wie anfangs gedacht. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm die Uhrzeit.
"Fünf vor vier...", wisperte Feliciano vor sich hin, "...in einer Stunde dürfte es schon heller werden."
Ein kleines Lächeln schlich sich auf das Gesicht des Siebzehnjährigen, als er weiterhin den immer steiler werdenden Waldweg entlang sprintete.
Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis er denjenigen, den er suchte, endlich fände, das spürte er.
Feliciano bog links ab.
Nicht mehr lange, und sein Ziel wäre endlich erreicht.
Feliciano flitzte einen kleinen Hügel hinauf.
Es war nur noch ein kleiner Katzensprung; ein kurzes Ausstrecken der Hand.
Der Wind rauschte durch das sichere Blätterdach und ließ sein Haar für einige Sekunden mitflattern.
Und dann...
Feliciano rannte wieder bergab, er baute Geschwindigkeit auf.
Und dann...?
Seine Beine schafften es noch knapp, mit der plötzlichen Schnelligkeit mitzuhalten.
Was dann?
Feliciano erstarrte und hielt den Atem an.
Sein Fuß verfing sich bei einem Stein; er verlor augenblicklich den Boden unter den Füßen und für einen kurzen Moment stand die Welt plötzlich still. Das heiße Blut in seinen Adern rauschte wie Wellen, die an eine Brandung preschten, sein Verstand war leer gefegt. Er dachte, er würde schweben, nur für einen kurzen Augenblick, ehe sein gesamter, schlaff werdender Körper den erdigen Boden traf, seitlich abrutschte und einen relativ kleinen Hang hinabrollte.
Als er endlich wieder Halt fand und schließlich in einem mehr pflanzenbesonnenen Örtchen liegen blieb, spürte er erst den bohrenden Schmerz seines Absturzes entflammen. Felicianos Sicht drohte in tiefste Schwärze gezogen zu werden, kaum hatte er versucht, seine Augen zu öffnen. Er kämpfte dagegen an, verlor jedoch vergeblich.
Und mit einem letzten, verzweifelten Atemzug, ruhte er widerwillig im Bann seiner Bewusstlosigkeit.
***
Durch Schicksal verbunden,
Und auf ewig gefunden.
Immer wieder würden sie sich finden,
Und alter Schmerz würde endlich linden.
***
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro