99 - Oh-Ryu
Die letzten fünf Urlaubstage vergehen entspannt. Schön easy mit ein paar Stiftungsaktivitäten, viel Händchenhalten mit Jimin für die erste Begegnung mit seiner Mutter und Schwester und den offiziellen Auftakt der Anklage gegen seinen Vater, Taehyung beginnt sein Praktikum bei einem traditionell arbeitenden Zimmermann und Restaurator.
Der Kaufvertrag für unsere drei kleinen Häuschen kommt überraschend schnell zustande, und ich kenne eine Familie, in der seit vorgestern mit Sicherheit einige Menschen nie wieder miteinander reden werden.
Der einzige Aufreger in dieser Zeit ist ein Besuch von Junghyuk bei Jeongguk, der erzählt, dass sein Vater ihm eine Überraschung zum Examen angekündigt und dabei sehr stolz ausgesehen hat. Guk kann ihm daraufhin von dessen Besuch bei der Gala berichten und schon mal die Überraschung ausplaudern. Junghyuk wird ziemlich wütend.
“Sein Ernst? Ich soll für ihn seinen Reichtum spazieren fahren? Der kann mich mal! Auch wenn sie dich damals genauso beschissen behandelt und dir nicht geglaubt hat - Mama ging es an Weihnachten ziemlich durchwachsen, weil sie dich sehr vermisst hat, Guk. Ich musste mich echt zusammenreißen, ihr nicht aus lauter Mitleid doch was zu verraten. Papa ist sooo eiskalt! Ihm ist ihre Trauer völlig egal. Ich will die Goldkiste nicht. Der wird sich wundern.”
Silvester haben wir zu zweit im Schnee verbracht, wir müssen ja nicht dauernd mit den anderen aufeinander hocken im Pförtnerhaus. Wir sind von der Villa aus am Bukhansan immer aufwärts gewandert, haben das gradezu magische Mondlicht und den glitzernden Schnee zwischen den Bäumen bestaunt und um Mitternacht von ganz weit oben aus all das bunte Feuerwerk um den Berg herum bestaunt. Eine Drohnen-Lichtshow über dem Han, koordinierte Höhenfeuerwerke bei mehreren großen Plätzen und Palästen und natürlich all die privaten bunten Lichtvergnügen. Es sah atemberaubend aus von hier oben. Aber wir haben dabei in der Stille des Berges in kalter klarer Nachtluft gestanden und haben nichts von dem pyrotechnischen Gestank und all dem Zischen und Krachen und Ballern abbekommen. Es war ein wahrer Genuss.
Ich bin ganz still geworden bei dem Anblick und habe mich an Namjoon gekuschelt. In all den bunten Lichtern am Himmel und der nachtschwarzen Finsternis dazwischen sind die Bilder dieses Jahres an mir vorübergezogen. Schweres und Schönes, Zerstörung und Neuanfang, tiefer Fall und mutiges Aufstehen. Erst, als es ganz dunkel geworden ist, hat Namjoon mich umarmt und mir ins Ohr geflüstert.
“Jedes einzelne dieser vielen, vielen Lichter war eine schöne Erinnerung an das, was mir im letzten Jahr geschenkt wurde. Und eine Verheißung, was mir das Leben an deiner Seite noch schenken wird. Ein frohes, neues Jahr wünsche ich dir, meine liebe Nelli. Und dir, unser aller Sarang Namja. Ich liebe dich!”
Ich hab gar nicht geantwortet. Ich habe ihn einfach glückserfüllt lange und zärtlich geküsst.
Jetzt ist das neue Jahr angebrochen, ich sitze in der U-Bahn zur Arbeit. Ich bin gespannt, ob ich mich so einfach wieder ans normale Arbeiten gewöhnen kann. Nach so vielen Wochen und Monaten im Ausnahmezustand.
Wie …
Plötzlich fällt mir ein seltsamer Zufall auf.
Ein dreiviertel Jahr. Und was für eines! Ich bin anders, mein Leben ist anders, meine Welt ist anders.
Völlig unvermutet breche ich inmitten der vollgestopften Bahn in Lachen aus und ernte dafür ziemlich irritierte Blicke.
Neun Monate - wie bei einer Schwangerschaft. Ich fühl mich jetzt nicht grade wie neugeboren. Aber irgendwie … vergleichbar ist es schon. Die Stiftung ist mein ‘Baby’. Mein Leben wird nie wieder sein wie vor dem ‘Baby’.
Wie meistens treffe ich So-Ra schon an der U-Bahn. Gemeinsam tauchen wir aus Seouls Tiefen auf, gehen die wenigen Schritte zum Versicherungsgebäude und fahren hoch zu unserem Büro.
Es ist alles so vertraut - der Ablauf, der Raum, die Begrüßungen und Gespräche - und doch ist es anders, denn ich bin eine andere.
Energisch verbanne ich diesen philosophischen Ausflug aus meinem Kopf, fahre meinen PC hoch und stürze mich in die Arbeit.
Wir alle sind uns einig, dass es nun - nach Monaten voller Ereignissen - etwas ruhiger werden darf. In der Villa wird weiter am Aufbau der Stiftung gearbeitet - und um 18.00 Uhr spätestens wird Feierabend verordnet. Tae, Jimin und Jeongguk arbeiten, lernen und haben viel Spaß miteinander. Jin konzentriert sich auf seine Therapie.
Jimin wird als erster mit seinem Führerschein fertig und lernt gleich auch noch, mit Anhänger zu fahren. Eigentlich fährt er mit dem Rad zur Gärtnerei, weil es hier im Park im Moment nichts zu tun gibt. Aber nun schaffe ich einen kleinen Gebrauchten als WG-Auto an. Wenn es jetzt in Strömen regnet, dann wagt er sich auch mal auf vier Rädern den Berg runter.
Hobi plant, wirbt und trainiert mit Hochdruck auf die Eröffnung der Tanzwerkstatt zu, zieht nebenbei den Führerschein durch und hat trotzdem erstaunlich viel Zeit für So-Ra. Die anderen lassen es langsamer angehen, folgen den beiden nach und nach und kommen dann auch in den Genuss des WG-Autos. Wie alles in der Pförtnerei klappt auch das Car Sharing problemlos und selbst organisiert.
So vergeht der Januar in klirrender Kälte und wohltuender Ereignislosigkeit. Erst Anfang Februar wird das Wetter milder, leider aber auch sehr regnerisch. Also nutze ich meine freien Stunden, um in meiner Wohnung gründlich aufzuräumen, auszumisten und einzupacken. Da unser zukünftiges Zuhause kaum Renovierungsarbeiten verlangt, wollen wir nämlich kurz nach meinem Geburtstag, Anfang März, umziehen in unsere ‘drei kleinen Häuschen’.
Bei einer dieser Sortieraktionen fällt mir das gemalte Tagebuch von Harry in die Finger.
Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass ich das wochenlang vergessen habe? Die Gründung der Stiftung, die Gala, das neue Zuhause - das alles hat mich so eingebunden und beschäftigt, dass daneben irgendeine Seelenwühlerei gar nicht auch noch möglich war. Meine ganze Konzentration galt der herausfordernden Gegenwart. Aber jetzt?
Ich beschließe, möglichst bald wieder in die Bildermappe zu schauen, denn so einige blinde Flecken sind da ja schon noch.
Als ich die Mappe weglegen will, rutscht der vermaledeite Umschlag mit der Aufschrift ‘Oh-Ryu’ heraus. Mal wieder.
Als wäre es ein Fremdkörper, der da nicht - oder nicht mehr? - drin sein soll.
Ich sollte es hinter mich bringen.
Spontan greife ich zum Telefon und führe mehrere Gespräche. Ja, die Eltern Woo erinnern sich gut an diese Frau. Ja, meine Freundin platzt vor Neugierde. Ja, mein wundervoller Freund traut mir jetzt zu, dass ich dieses heiße Eisen anfasse. Also verabreden wir uns zu fünft für den nächsten Samstag bei Woo’s.
Je näher der Tag jedoch rückt, desto nervöser werde ich. Wer ist diese Frau, die mein Innerstes in Angst und Schrecken versetzt? Was hatte sie mit Harry zu tun? Und wieso bin ich mir so sicher, sie zu kennen? Warum sind die Bilder von ihr in einem extra Umschlag?
Grks. Das macht mich verrückt!
Als Namjoon mich schließlich in mein Auto packt und zu Woo's fährt, weiß ich selbst nicht mehr so genau, ob ich grade eher ein nervliches Wrack oder doch mehr erleichtert bin, dass wir das jetzt endlich anpacken. Ich halte die Tüte mit dem Bildertagebuch im Arm und lasse Joon machen. Zu mehr bin ich nicht in der Lage.
Rae-Jin öffnet uns die Tür, sieht mir ins Gesicht und zieht mich in eine warme, mütterliche Umarmung.
“Willkommen, ihr beiden. Sollen wir gleich loslegen? Ich glaube, du möchtest endlich Gewissheit haben.”
Meine Stimme zittert etwas.
“Ja, gerne. Dieser Umschlag brennt in meinen Fingern.”
“Dann kommt ins Wohnzimmer.”
Mir wackeln die Knie, als ich mich aufs Sofa setze und sofort eine warme Decke um mich lege.
“Hab keine Angst, Nelli. Wir passen auf dich auf. Möchtest du zuerst die Bilder ansehen? Oder sollen wir dir erst erzählen, was damals passiert ist?”
Ich kuschele mich an Namjoon und denke nach.
“Ich glaube, wenn ihr erzählt, dann könnt ihr besser dosieren, oder? Aber vielleicht kuckt ihr euch die Bilder an?”
“Na, dann gib mal her.”
Ich hole das Album aus der Tüte, fische den unheimlichen Umschlag raus und schubse ihn über den Wohnzimmertisch, als hätte ich mir die Finger daran verbrannt. Namjoon zieht mich in seine Arme. Ich will gar nicht sehen, was die da jetzt rausholen. Oder wie ihre Gesichter dabei aussehen. Ich mache meine Augen zu.
Es raschelt. So-Ras Fingerknöchel knacken, was immer ein Zeichen von großer Anspannung ist. Ich möchte am liebsten rausrennen.
Dann höre ich wieder Rae-Jins Stimme.
“Nelli, Liebes. Die Bilder zeige ich dir erstmal nicht. Ich erzähle einfach.”
Sogar in ihrer Stimme kann ich unterdrückte Wut hören. Diese Oh-Ryu muss ein ziemliches Miststück gewesen sein.
“Okay, mach einfach.”
“Mun Oh-Ryu war Ende zwanzig, als sie als Junior Assistent in die Firma kam, in Harrys Abteilung. Sie war klug, studiert, zielstrebig, höflich, charmant, ausgesprochen attraktiv, hatte Stil, gab sich aber bescheiden, lernte bereitwillig dazu. Sie fügte sich schnell ins Team ein. Auch mein lieber Mann war damals begeistert von ihrer Einsatzbereitschaft und ihren überzeugenden Ergebnissen.
Dein Onkel war 43, du warst 5, ihr beide wart zur Ruhe gekommen. Unser zwei-Familien-Konstrukt funktionierte. Es ging euch gut. Und - die Dame hat sich vieeeeel Zeit gelassen. Erst im Nachhinein habe ich die frühen Anzeichen entdeckt. Erst waren es nette kleine Gespräche, dann hier mal ein Spaziergang am Han, da mal ein Eis in der Mittagspause.
Was mich gleich hätte stutzig machen sollen, war die Tatsache, dass sie sich überhaupt nicht für dich interessiert hat. Sie war tagsüber nicht in der Villa, hat nie von sich aus nach dir gefragt, hat später dann einen großen Bogen um deinen sechsten Geburtstag gemacht.”
Das gemalte Gesicht, das ich vor ein paar Wochen ganz kurz gesehen hatte, taucht vor meinem inneren Auge auf.
Kann sein, dass ich sie tatsächlich selten gesehen habe. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass sie mich direkt angesehen oder sogar angelächelt hat. Ihr Gesicht bleibt unscharf, ihr Blick geht an mir vorbei.
Ich bekomme Gänsehaut und bin froh, dass Namjoon mich hält.
“Erst im Frühling vor eurer Einschulung wurde die Beziehung fester. Die beiden gingen essen, zum Tanzen. Die Entscheidung, euch beide zusammen einzuschulen, fiel ohne zögern, denn wir waren ja sein Backup für dich. Da hat sie sich noch nicht eingemischt.”
Ich setze mich auf. Den Zusammenhang kapiere ich ja nun gar nicht.
“Was hatte sie denn mit meiner Schulwahl zu tun?”
“Am Anfang noch nichts. Sie hat einfach das Band zu Harry immer fester gesponnen und um jede Verantwortung für dich einen Bogen gemacht. Für dich gab es ja uns. Aber irgendwann war sie öfter in der Villa, dominierte euer Miteinander, band Harrys Aufmerksamkeit, mischte sich erst im Park ein, dann im Haushalt.”
“Woher wusstet ihr sowas?”
“Nunjaaaa - sie hat sich auch eure Angestellten, eure treuen Seelen vom Leib gehalten. Und die waren nicht blind. Irgendwann im Sommer sind Harry und Oh-Ryu an einem Samstag Abend spontan nicht nach Hause gekommen sondern haben eure Hausdame angerufen, sie möge auf dich aufpassen.
Und das haben die beiden dann mir erzählt. Der Ausflug war weder geplant noch angekündigt, du warst nicht bei uns zum Übernachten. Und Harry hatte hinterher offensichtlich eine Weile ein schlechtes Gewissen.
Zum gemeinsam gefeierten Chuseok ist sie nicht erschienen. Um uns hat sie privat nämlich auch einen Bogen gemacht.”
“Und was hab ich dazu gesagt? Habt ihr irgendwas gemerkt?”
“Eine ganze Weile nichts. Erst im nächsten Winter und um deinen siebten Geburtstag herum bist du von der fröhlichen Maus ganz leise und langsam zur stillen Maus geworden.”
Schnell greife ich nach Namjoons Hand und reiße die Augen auf. Ich sehe mich plötzlich nochmal im Sandkasten.
Aber da will ich nicht wieder hin!
“Nelli, Schatz? Bist du in Ordnung?”
Keine Ahnung. Hauptsache, ich switche nicht wieder!
Ich zucke mit den Schultern. Mein ganzer Körper ist in höchster Alarmbereitschaft. Die Luft im Raum vibriert förmlich.
“Und … und … wann ist sie verschwunden? Warum ist sie verschwunden? Warum erinnere ich sie nicht? Und … und was hat sie … mit dem … Sandkasten zu tun?”
Ich habe Mühe, das Wort auszusprechen. Namjoon zuckt dabei zusammen, So-Ra starrt mich plötzlich an, und ihre Eltern seufzen.
“Ach, Kind. … Wir hätten dir das so gern erspart.”
Dieses Stochern im Nebel macht mich grade ganz kribbelig.
“Aber WAS denn?”
“Wie gesagt. Sie hat lange Geduld bewiesen. Sie war biegsam und geschmeidig wie eine Katze auf der Lauer. In diesem Frühjahr während eurer ersten Klasse hat sie sich dann sicher genug gefühlt, denn Harry hat sie sehr geliebt.
Sie … sie hat angefangen, … dich zu manipulieren. Wenn Harry nicht da war, hat sie dir eingeredet, dass du den Tod deiner Eltern verursacht hast. Dass du Harrys Glück im Weg stehst. Dass er ein Recht auf eine eigene Familie hat. Dass du sagen sollst, dass du in ein Internat oder ganz zu uns gehen willst.”
Schlagartig schießen mir die Tränen aus den Augen. Diese bösen Worte kann ich im Kopf wohl als Lügen erkennen. Aber gleichzeitig tun sie so sehr weh, als würde ich grade verprügelt.
“Weiter!”
“Sie war unnötig streng mit dir, hat dir deine gewohnte Freiheit genommen, hat alle deine Leistungen und Hobbys heruntergespielt und dich damit ganz klein gemacht.”
Ich weine unaufhörlich, aber jetzt vor Wut. Ich fühle die Verzweiflung des kleinen Mädchens im Sandkasten und fange an zu ahnen.
“Weiter!”
“Bis Harry sie dabei erwischt hat, wie sie versucht hat, dich zu brechen. Er war vollkommen entsetzt, hat dich sofort in Schutz genommen und sie achtkantig rausgeschmissen. Er hat sich danach besonders intensiv um dich gekümmert, hat versucht, dich wieder aufzubauen. Aber deine Wesensveränderung blieb. Eines Tages dann waren alle B… - Oh nein!”
Ich habe recht mit meiner Ahnung. SIE war der Auslöser für das gründliche Vergessen.
“... waren dann alle Bilder von Eomma und Appa verschwunden - und das blaue Spielzeugauto auch. Weil ich es im Sandkasten vergraben hatte, um irgendwie meine Eltern zu erreichen.”
“ ... Und mich hätte ich wahrscheinlich am liebsten gleich auch vergraben.”
Inzwischen weinen wir alle. So-Ra rennt Kreise in den Teppich vorm Kamin, Namjoon knirscht mit den Zähnen vor unterdrücktem Zorn. Schwärme von kleinen Erinnerungsfetzen an diese demütigenden Momente prasseln auf mich ein wie Hagelkörner.
Langsam legt Rae-Jin eines der Bilder vor mir auf den Tisch. Onkel Harry hat darauf schützend seine Arme um mich gelegt. Ich sehe sehr traurig aus und klammere mich an ihn. - Und Oh-Ryu hockt daneben und bohrt mir frustrierte Blicke in den Rücken.
Entsetzt schauen wir alle auf das Bild. Wieder tut es mir weh, dass es im selben Stil gemalt ist wie all die schönen Momentaufnahmen von mir. Ich fühle unendlich viel. Ich kann aber überhaupt nicht sagen, was eigentlich.
Namjoons Stimme klingt ganz dunkel und kalt, als er anfängt, Fragen zu stellen.
“Was habt ihr damals unternommen, um Nelli zu helfen? Habt ihr einen Zusammenhang hergestellt zum Verschwinden der Bilder und des Autos? Hat Nelli therapeutische Hilfe bekommen? Wie kann …”
Er schüttelt den Kopf und verstummt.
Diesmal ist es So-Ras Vater, der antwortet und dabei ziemlich schuldbewusst klingt. Ich selbst kriege keinen Ton raus.
“Wir haben wirklich alles versucht. Harry hat Oh-Ryu und alles, was an sie erinnern konnte, sofort verbannt. Er hat sich intensiv um Nelli gekümmert, sich viel Zeit für sie genommen, hat einen Kindertraumatherapeuten gefunden, … es half Nelli nicht raus aus dem Schneckenhaus. Sie hat … wir haben es nicht verstanden. Wir waren machtlos.”
“Und - nein, wir haben wohl keinen Zusammenhang hergestellt. Sonst hätten wir auf deinen Hilfeschrei doch irgendwie reagiert. - Oder?”
Fragend sieht er seine Frau an. Sie antwortet nur flüsternd.
“Wir haben es versucht. - Ich … ich habe jedenfalls seitdem nicht mehr an sie gedacht und darum auch keinen Zusammenhang hergestellt. Ich …”
Plötzlich werde ich zornig. Hier winden sich meine liebsten Menschen vor Scham, weil sie damals nicht das ganze Ausmaß der Niedertracht dieser furchtbaren Frau durchschaut haben. Aber SIE war der Übeltäter. Nicht Harry. Nicht die lieben Eltern Woo.
“Lass gut sein, Namjoon. Hier und heute trifft nun wirklich niemand die Schuld.
Ihr Lieben! Eine junge, ehrgeizige und raffgierige Frau hat versucht, ein kleines Mädchen zu zerstören, weil es ihr so in den Kram gepasst hat. Ihr habt doch euer bestes gegeben, mir zu helfen.
Jetzt fügen wir die Puzzlestücke wieder zusammen und machen einen dicken fetten Haken an dieses … Miststück. Armer Onkel Harry. Er muss sich furchtbar gefühlt haben.”
So-Ra schnaubt.
“Uuuund da haben wir sie wieder. Die liebe Nelli denkt nur an alle anderen. Kannst du bitte mal wenigstens fünf Minuten lang wütend sein? Sie HAT dich zerstört. Sie hat dir und deinem Onkel Wunden zugefügt, die bis heute nicht geheilt sind. Angst vor dem Leben. Angst vor Menschen. Angst vor Beziehungen. Totaler Rückzug nach innen. Eine Kindheit voller Schuldgefühle. Verzweifeltes Vergessen. Freiwillige, jahrelange Unterordnung. Du hast deinen eigenen Namen gehasst, hast dich gegen deine Natur gewehrt. Sie hat im Grunde sogar dafür gesorgt, dass du dich so lange hinter mir versteckt hast, bis es für deinen Onkel zu spät war, diese wunderbare neue Nelli zu erleben, die du heute bist. Sie …”
Schnell stehe ich auf, gehe zu meiner besten Freundin hin und nehme sie fest in die Arme.
“Schhhhhhh. Halt stille. Sie ist es nicht wert, dass wir an sie unsere Kraft verschwenden. Wir haben heute die Erinnerungslücken geschlossen, das muss ich erst mal verdauen - und dann sehen wir weiter.”
So-Ra schüttelt den Kopf, aber sie entspannt sich etwas.
“Au Mann, Schnucki. Du bist echt zu gut für diese Welt. Kannst du das echt so einfach an dir abtropfen lassen?”
“Keine Ahnung. Das ist zu frisch. Das werde ich sehen.”
Namjoon ist es schließlich, der in die hilflose Stille hinein das Wort ergreift.
“Ich muss mich entschuldigen. Mein Zorn galt dieser Hexe, nicht Ihnen. Ich wollte Sie nicht unter Druck setzen oder beschuldigen.”
Nun entspannen sich auch So-Ras Eltern. Rae-Jin lächelt ihn an.
“Schon gut. Das eigene schlechte Gewissen passt ja nur allzu gut dazu.”
Ich halte diese Katerstimmung nicht mehr aus.
“Könntet ihr bitte alle aufhören, euch zu schämen? Ich will nicht, dass sie heute noch - oder wieder - so viel Macht über uns hat. Ich fänds schön, wenn wir …”
Ja, was denn …?
“Wenn wir jetzt etwas absolut Banales tun können. Einen Film glotzen. Zusammen kochen. Was spielen. Nicht, um zu verdrängen, sondern um ihrer Negativität unsere Freude an der Gemeinschaft entgegen zu halten. Oder so.”
Namjoon grinst mich an.
“Sterne kucken?”
“Jetzt??? Es ist doch noch viel zu …”
Mein Blick fällt aus dem Fenster.
“... früh … ähhh - schon dunkel. Wo ist die Zeit geblieben? Na dann … Warum nicht?”
Die anderen fangen an zu kichern.
“Guuuute Idee!”
So-Ra, die ihre unruhigen Kreise vor dem Kamin wieder aufgenommen hat, strebt sofort in den Flur zur Garderobe. Wir mummeln uns ein und gehen raus. Schnee liegt Anfang Februar keiner mehr, aber es ist noch tüchtig kalt. Die Straßenlaternen werfen blasse Lichtkegel auf den Gehweg. Wir sehen unseren dampfenden Atem. Der nächtliche Himmel wölbt sich ohne Wolken über uns, aber wegen der vielen Großstadtlichter können wir trotzdem kaum Sterne sehen. Echt schade.
“Gibts hier einen Park in der Nähe?”
So-Ra überlegt einen Moment und läuft dann einfach los. Wir folgen ihr. Nach wenigen Schritten weiß ich wieder, wohin sie steuert. Das Viertel wird von einem kleinen Flusslauf begrenzt. Hier biegen wir in den Spazierweg ein und laufen eine Weile unter den Bäumen entlang.
“Da ist eine Bank.”
Wir knubbeln uns auf der Sitzgelegenheit, wobei ich mich einfach auf Namjoons Schoß setze. Er zieht mich in seine Arme. Ich entspanne mich. Es fühlt sich so gut an!
Automatisch wenden sich unsere Blicke nach oben, und tatsächlich ist hier mehr vom Nachthimmel über Seoul zu sehen. Wir schweigen und lassen die unendliche Weite auf uns wirken. Die Intrigen dieser Frau und die Ängste meiner Kindheit werden klein angesichts dieser Schönheit. Ich habe mich selbst gefunden, habe großartige Menschen in meinem Leben, habe wunderbare Ziele für mich entdeckt, kann Menschen neue Hoffnung geben. Ich seufze und kuschele mich an meinen Freund.
“Danke, dass ihr immer für mich da wart. Da seid. Mein Leben ist so reich. Und so spannend. Und so schön!”
So friedlich und zauberhaft der Moment auch ist - lange halten wir es nicht aus in der Kälte. Wir laufen zurück und essen gemeinsam zu Abend, bevor Namjoon und ich uns auf den Weg nach Hause machen.
Ein bisschen wundere ich mich, dass ich vorhin so viel gefühlt habe und jetzt so ruhig bin.
Alle anderen haben gezeigt, was ich fühlen sollte. Oder? Ich HAB ja ganz viel gefühlt. Aber wohl nicht viel rausgelassen. Hoffentlich rächt sich das nicht heute Nacht!
Namjoon behandelt mich sehr aufmerksam und kuschelt mich liebevoll in seine Arme.
So richtig erholsam ist die Nacht tatsächlich nicht, sehr bald holt es mich ein. Namjoon hat Mühe, mich wach zu kriegen, denn ich weine im unruhigen Schlaf. Erst, als er mich, in eine Decke gewickelt, in die eiskalte Nachtluft auf den Balkon trägt und ich die Kälte einatme, klappe ich die Augen auf. Er hält mich ganz sicher und fest in den Armen.
“Was hast du geträumt, Liebes? Erzähls mir gleich, so lange du dich noch erinnerst.”
Ich sammele mühsam die Fetzen in meinem Kopf zusammen.
“Das … da war ihr Gesicht … überall. Ich bin weggerannt. Von Zimmer zu Zimmer. Das Gesicht … war immer schon vor mir da. Also bin ich in den Obstgarten geflüchtet. … Sie hatte alle Bäume abgesägt. Ich konnte mich nicht verstecken.”
“Wie furchtbar! Du musst so viel Angst gehabt haben. Wie kann man nur ein Kind so quälen?!”
“Wenn sie wütend gekuckt hat, hatte ich so viel Angst. … Aber wenn … wenn …”
Die alte Furcht, die doch schon so lange zurück liegt, schüttelt mich, als wäre es grade erst geschehen.
“ ‘Wenn…’ mein Schatz? Raus damit, dann bist du es los.”
Ihr kaltes, unbewegtes, vollkommen gefühlloses Starren trifft mich allein in der Erinnerung bis ins Mark.
“Wenn sie … NICHT wütend war, … dann hatte ich noch viel mehr Angst. Dann bekam ihr Gesicht etwas Lauerndes. Ich konnte nicht mehr weglaufen. Konnte mich nicht mehr rühren. Musste abwarten, was als nächstes kommt.”
Ein Schauder läuft mir den Rücken runter. Namjoon knurrt vor Wut.
“Hexe! … Möchtest du noch hier bleiben, oder sollen wir reingehen?”
Erschöpft lasse ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken.
“Egal.”
Joon küsst mich, bringt mich rein, schiebt mit dem Fuß die Balkontür zu und geht mit mir zum Sofa. Sanft wiegt er das verzweifelte Kind in mir, gibt mir den Schutz, den ich damals so sehr herbeigesehnt habe. Er hält mit mir aus, was mein Kinderherz gebrochen hat.
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20.9.2024
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