52 - Klare Verhältnisse
Der Abend wird zur Nacht, der Taifun "flaut ab" zum Sturm, mein Wohnzimmer verwandelt sich in ein Lazarett. Hohes Fieber und Schüttelfrostattacken wechseln sich ab. Wir unterhalten uns leise, passen auf unseren kranken Freund auf, versinken schließlich in unseren eigenen Gedanken.
Yoongi klang vorhin so ... zufrieden. Trotzdem hat er aus irgendeinem Grund puren Raubbau an seinem Körper betrieben. Und er scheint schon wieder nicht bei seinen Eltern zu wohnen, sonst wäre er nicht mit einem Rucksack in diesem Höllenwetter unterwegs gewesen. Dieser Teil der Geschichte fehlt also noch.
Irgendwann scheucht Namjoon mich ins Bett. Er sollte sowieso wach bleiben wegen seines Jobs. Und ich sollte nicht schon wieder mich selbst vergessen.
"Keine Widerrede, ab ins Bett. Ich hab keine Lust drauf, morgen zwei Leute pflegen zu müssen."
Energisch schiebt er mich ins Bad und nach dem Zähneputzen ins Bett. Dort nimmt er mich in die Arme, deckt mich zu, gibt mir einen Kuss. Er weiß, wie sehr ich das liebe und genieße.
"Schlaf gut, Liebes. Ich wecke dich, falls ich dich brauche. Versprochen! Aber so krieg ich das alleine hin."
Seine sanfte Zärtlichkeit verfehlt wie immer ihre Wirkung nicht. Ich entspanne mich und schlafe trotz der Sorgen um Yoongi ganz schnell ein.
Als Namjoon mich am frühen Morgen zur Wachablösung weckt, damit er dann schlafen kann, ist es seltsam still. Und aus dem Wohnzimmer fällt gedimmtes Licht durch meine Schlafzimmertür.
"Ui! Haben wir wieder Strom? Guten Morgen, Joonie."
"Jupp. Fieber gesunken, Sturm abgeflaut, Strom wieder da. Ich hab schon mal alle Geräte an irgendwelche Ladebuchsen gehängt."
Er lächelt müde. Ich bleibe noch einen Moment bei ihm sitzen, schleiche mich dann raus, drehe eine Runde durchs Bad und bringe mich mit Hilfe des Radios auf den neuesten Stand.
Der Wirbelsturm hat sich weitgehend nach Nordosten verzogen und belästigt jetzt Nordkoreaner und Chinesen. Das Hochwasser wird uns aufgrund der lang anhaltenden Regenfälle noch eine Weile erhalten bleiben. Die Stadt hat in weiten Teilen Strom. Aber das ganze Land, vor allem die Küstenstädte, gleicht einem Schlachtfeld.
Alle Rettungskräfte, Straßenbaufirmen, schweres Gerät sind im Einsatz, um Straßen wieder passierbar zu machen, Keller leer zu pumpen, Mensch und Tier aus den seltsamsten Notlagen zu retten. Es wird voraussichtlich mindestens fünf Tage dauern, bis der gröbste Schaden wenigstens an der Infrastruktur behoben sein wird, bis sich der Alltag wieder normalisieren kann.
Die Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist groß. Nachbarn gewähren einander Unterschlupf. Wer irgendwelches geeignete Werkzeug hat, schippt oder sägt die Straßen frei, damit die Aufräumarbeiten beschleunigt werden. Sogar das Militär schaufelt Schlamm und Dreck. Im Fernsehen wird pausenlos berichtet, wo was wieder geht und wer für welche Hilfe der richtige Ansprechpartner ist.
Die Nachricht im Intranet der Firma, wir mögen doch bitte in den nächsten Wochen verstärkten Einsatz zeigen, erinnert mich daran, dass ich bei einer Versicherungsgesellschaft arbeite. Da wird eine Flut von Schadensmeldungen über unsere Schreibtische branden, die alle zeitnah abgearbeitet werden müssen.
Aber heute ist Samstag, also gehen wir hier in meiner Dachwohnung, die Jungs an der Villa und unser aller Wohlergehen vor. Ich mache Radio und Fernseher aus und setze mich zu Yoongi.
So-Ra meldet sich und klingt ziemlich erschöpft am Telefon.
"Hallo, Besti! Du klingst so müde, als hättest du persönlich die Welt vor dem Untergang bewahrt."
"Die ganze Welt nicht. Aber bei meinen Eltern ist ein Baum aufs Dach gefallen, und sie waren der Meinung, dass ich morgens um 1.00 Uhr angerauscht kommen und den Baum wegzaubern müsste. Von Rauschen konnte allerdings nicht die Rede sein, weil bei mir ein Baum aufs Auto gefallen war. Also habe ich die Nacht nicht mit Schlafen verbracht sondern mit dem verzweifelten Versuch, ihnen klar zu machen, dass ich JETZT NICHT kommen werde. Und wenn sie auf dem Kopf stehen und mit den Ohren wackeln. Noch ist da schlicht kein Durchkommen möglich."
"Ohje - das klingt in der Tat anstrengend. Dann schlaf an diesem Wochenende so viel, wie du kannst und sie dich lassen. Ab Montag Morgen wird im Büro die Hölle los sein."
"Du auch. Ist bei dir, den Jungs und der Villa alles okay?"
"Jupp. Am Berg hat es wohl keine nennenswerten Schäden gegeben, sonst hätte sich Hobi längst gemeldet. Die Tanke ist zu, Namjoon ist hier. Und Yoongi auch. Al..."
"Ui! Wo kommt der denn so plötzlich her?!?"
" Weiß ich noch nicht, denn bevor er uns vollständig auf den neuesten Stand bringen konnte, hat das Fieber ihn lahmgelegt. Er war völlig am Ende, als er hier ankam. Wir müssen uns also noch gedulden."
"Na, da bin ich ja mal gespannt. Aber es ist beruhigend, dass er von sich aus zu dir gekommen ist. Und ich gehe jetzt offiziell wieder ins Bett. Ciao!"
Yoongi rührt sich. Sein Schlaf ist gleichmäßiger geworden, seit das Fieber gesunken ist. Jetzt flattern seine Lider, er öffnet die Augen und blickt sich orientierungslos um. Er richtet sich ein wenig auf - und fällt mit einem Seufzen wieder in sich zusammen.
"Ist dir wieder schwindelig? Dann bleib liegen. Wir bringen erstmal deinen Kreislauf wieder auf Trab."
Sein Kopf hat sich mir zugewandt, und seine Augen werden groß.
"Nelli? Bin ich ... Gott sei Dank, ich habs geschafft. Seit wann bin ich hier, und habe ich meine Eltern benachrichtigt?"
"Seit gestern Abend. Aber du warst in einem fürchterlichen Zustand und hattest tüchtig Fieber. Ich glaube kaum, dass du da irgendwen benachrichtigt hast."
Yoongi erschrickt.
"Wo ist ... hast du eine Ahnung, ob mein Handy die Sintflut überlebt hat?"
"Moment."
Ich gehe zu der Ablage im Flur, wo wir immer alle Geräte aufladen. Tatsächlich liegt dabei ein ... Yoongis altes Handy und blinkt stoisch vor sich hin. Ich stöpsele es ab und bringe es ihm.
"Hier. Namjoon hat deinen Rucksack ausgeräumt, um den Inhalt zu retten. Da muss es dabei gewesen sein."
Yoongi schnappt sich das Gerät und arbeitet sich durch die Benachrichtigungen.
"Funktioniert es noch? Ich mach uns Frühstück."
"Hm."
Von der Küche her kann ich hören, wie er seine Eltern anruft und sie schnell beruhigt.
"Hier ist Yoongi. ... Keine Sorge, Papa. Mir geht es gut. Ich habe mich gestern zu einer Freundin durchgeschlagen, die einigermaßen nah dran wohnt. Zu euch über den Han wäre ich eh nicht gekommen. ... Ja, ich bin hier sicher und im Warmen. Ich habe ziemlich Fieber, weil ich ... Nein, das ist lieb, aber ich kann nicht sofort kommen. Ihr seid einfach zu weit weg, und Öffentliche fahren heute noch nicht. ... Was? ...
Oh, hallo, Mama. Ja, mir geht es gut. ... Wie es gestern gelaufen ist? Tja. Sie haben geschäumt vor Wut, aber aus Versehen doch die Qualität der Dokumentation gelobt. Und sie haben mich freiwillig mit sofortiger Wirkung entlassen. Außerdem scheinen sie wild entschlossen, sich selbst ins Knie zu schießen, denn sie wollen mir ein Arbeitszeugnis verweigern und mich stattdessen auf Schadensersatz verklagen, was mir die Möglichkeit gibt, ganz öffentlich zu machen, was für ein Scheißspiel da ... Entschuldige Mama. Kommt nicht wieder vor. ... Ja, ich weiß, auch zornig kann man höflich bleiben."
Ich trage unser Frühstück und heißen Tee ins Wohnzimmer.
Mütter ... Ich mein' ..., ich bin ja ohne groß geworden, aber dieses Exemplar scheint wahrlich ein Musterbeispiel für das Klischee von der Glucke zu sein.
Ich verkneife mir ein Schmunzeln. Yoongi sieht es aber doch.
"Tu dir keinen Zwang an, Nelli. Mütter sind angeblich immer so."
Yoongi hat aufgelegt. Er grinst mich breit an. Ich grinse zurück.
"Nochmal danke, dass ich euch einfach so überfallen durfte."
Ich stelle mein Tablett ab und funkele ihn gespielt böse an.
"Bei dir sind wohl ein paar Synapsen durchgeglüht. Für diesen bescheuerten Satz bestrafe ich dich mit einem komplett zu vernichtenden Frühstück und dem Befehl zu lückenloser Aufdeckung der Umstände."
Yoongi fügt sich gehorsam und schaufelt Berge von Essen in sich rein, während ich mit Hobi telefoniere und mich über seinen Lagebericht freue. Jimin ist in der Gärtnerei, weil da Not am Mann ist. Sein Chef braucht jede Hand. Tae kommt nicht zu seinen Eltern durch und räumt stattdessen zusammen mit Jin und Guk den Park auf. Ein Gedanke durchzuckt mich.
Was bin ich froh, dass wir mit der Sanierung so Gas gegeben haben. Sonst wäre gestern das Dach der Villa einfach weggeflogen und die Ruine in sich zusammengefallen.
Yoongi ist endlich satt, hat sich wieder hingelegt und die Augen geschlossen.
"Alles okay mit dir?"
"Hm. Bin nur müde. Die Erleichterung, dass ich dieses Kapitel jetzt abschließen darf, ist riesig."
"Erzähl!"
Yoongi richtet sich wieder auf und kuschelt sich bequem in seine Decke.
"Klar. Wo war ich? Ach ja - ich bin zu meinen Eltern gezogen, habe mich auskuriert, mir eine plausible Fortsetzung detailliert ausgedacht und im Institut in loser Folge falsche Lageberichte abgeliefert. Ich hab mich dort möglichst wenig blicken lassen und unter Hochdruck den Bericht geschrieben. Eine geballte Ladung Wissen, angewendet auf meinen Arbeitsauftrag, auf die ad absurdum geführten Richtlinien des Instituts und auf die ethischen Auflagen der Regierung, unter deren Voraussetzung das Institut mal gegründet wurde.
Vor einer Woche habe ich den Bericht mitsamt einem Haufen Bild- und Tondateien abgeliefert und einen Termin für gestern gemacht, wo die Weiterführung für das nächste halbe Jahr besprochen werden sollte. Wegen des gruseligen Wetters hatte ich die schicken Klamotten im Rucksack mitgenommen. Ich habe mich dort umgezogen.
Hab aber nicht lange drin gesteckt. Die haben getobt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie mehr in Panik waren, dass ich sie jetzt auffliegen lassen könnte. Oder ob es sie auf die Palme getrieben hat, dass ich bei allem Toben, Brüllen und Drohen die ganze Zeit so ruhig, freundlich, sachlich und gelassen geblieben bin. Als ich erwähnt habe, dass ich bereits einen Juristen zu Rate gezogen hätte, wurde ich ziemlich schnell zur Tür rausgeschoben."
"WOW! Das klingt ja wie ein echter Krimi. Können die dich irgendwie belangen?"
"Ich denke nicht. Aber das wird sowieso sicher eine Weile dauern, denn jetzt sind ja erstmal alle mit was anderem beschäftigt. Ich habe mich dann wieder umgezogen, die Kantine geplündert und die Lage gecheckt. Draußen ging grade die Welt unter. Ich wusste schnell, dass ich es nicht zu meinen Eltern schaffen würde. Ein Blick auf Google Maps hat mir dann gezeigt, dass du am nächsten dran warst. Wie viele Umwege um kleine und große Hindernisse ich würde suchen müssen, war mir allerdings am Anfang nicht klar. Ich habe danach auch nichts mehr zu essen gefunden. Deshalb hat es so lange gedauert, bis ich hier war. Das war echt wie bei James Bond in den Alpen. Da war alles dabei, sogar schwimmen. Um starke Strömungen konnte ich zum Glück immer einen Umweg machen. Wenn mich da eine erwischt hätte - das hätte ich nicht überlebt."
"Jetzt bist du in Sicherheit. Erhol dich erstmal. Allerdings ..."
Welche Adressen von ihm kennen die eigentlich?
"Falls sie dich suchen oder dir die Polizei auf den Hals hetzen wollen - wo würden die dich suchen?"
"In meiner Wohnung, in der Pf... - scheiße!"
"Hm. Dann sollten wir die Lage genau analysieren und tatsächlich einen Juristen zu Rate ziehen. Und zumindest Hoseok vorwarnen."
"Wenns sein muss? Ich würde Guk gerne so lange wie möglich in Ruhe lassen. Er soll selbst die Initiative ergreifen - falls er überhaupt noch ..."
Yoongi verstummt, schaut auf seine Hände und knibbelt an seinen Fingernägeln. Ich kann es ihm nachfühlen. Jeongguk ist und wird immer jemand ganz besonderes für Yoongi bleiben.
"Wird er, Yoongi. Da bin ich mir ganz sicher. Er hat Riesenschritte gemacht seitdem. Er vermisst dich, auch wenn er es nicht sagt. Und ich glaube, er braucht eine plausible Erklärung, direkt von dir. Er will verstehen. Ja, er braucht vielleicht noch Zeit. Aber das Ende ist noch nicht in Stein gemeißelt."
Yoongi entspannt sich etwas.
"Dennoch müssen wir die potentielle Bedrohung von den Jungs abwenden, und das geht nur, wenn zumindest Hobi Bescheid weiß. Vor allem Jimin muss unter allen Umständen da rausgehalten werden."
"Jimin? Den gibts noch? Ich hatte befürchtet, der wäre sofort untergetaucht."
"Er hat zum Glück zumindest Taehyung schnell wieder an sich rangelassen. Und weil Kang Sejin an Leukämie erkrankt ist und inzwischen ..."
Jetzt bleibt mir kurz die Stimme weg.
"... inzwischen ... im Krankenhaus um sein Leben ringt, ist Jimin mitsamt Bus und Hund zur Villa umgezogen."
"Oje! Und trotzdem - für Jimin ist das gut! Genau so viel Alleinsein, wie er möchte, und Tae gleich nebenan. Das freut mich."
Yoongi wird allmählich grau im Gesicht. Er niest dreimal heftig und kriegt noch einen Hustenanfall obendrauf.
"Dann schlaf jetzt wieder. Werd einfach wieder gesund. Alles andere kommt danach."
Ich decke Yoongi gut zu und ertappe mich wenige Augenblicke später dabei, dass ich mitten im Raum stehe und ein Loch in die Wand starre. Ein erster Versuch zu entscheiden, was ich denn jetzt mal tun will, scheitert kläglich. Es ist so ungewohnt, nun schon den zweiten Tag hintereinander nichts zu tun, dass ich völlig verwirrt bin. Ich fühle mich wie ein Huhn, das nicht weiß, wo es sein Ei hinlegen soll. Vermutlich ist es eine reine Übersprungshandlung, dass ich anfange, mich um Wäsche, Küche und Bad zu kümmern. Gemacht werden muss das sowieso. Warum also nicht jetzt?
Drei Stunden später rutsche ich erschöpft in einen der Wohnzimmersessel. Die Küche glänzt, das Bad duftet, die zweite Maschine Wäsche läuft, während die erste inzwischen durch den Trockner kurbelt. Die Küchenschränke sind mal wieder durchsortiert, alle Mülleimer gut gefüllt mit Aussortiertem. Nur gesaugt hab ich nicht, um Yoongi nicht zu wecken. Dafür steht ein verstrubbelter Namjoon in der offenen Schlafzimmertür und schüttelt mal wieder den Kopf über mich.
"Ach, Schatz. Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, warum du jetzt diese Putzorgie veranstaltet hast, statt dich in ein gutes Buch zu vertiefen?"
Irritiert sehe ich ihn an.
"Ja ... nein ... kann sein. Ich weiß nicht."
Namjoon kichert, kommt zu mir rüber, hebt mich hoch und pflanzt sich mit mir auf dem Schoß selbst in den Sessel.
"Merkst du was? Das war selbst für deine Verhältnisse eine bemerkenswert unsortierte Antwort. Entspann dich doch bitte mal ein bisschen."
Recht hat er - ich kann sowieso nicht anders.
Mit so viel sanfter Zärtlichkeit behandelt zu werden, wirkt bei mir einfach Wunder. Ich lasse alles los und schmiege mich wie hingegossen in seine langen Arme.
Namjoon kichert wieder. Obwohl ... das war nicht Joon, denn das hätte ich ja gespürt. Also ... Ich bin zu faul, meinen Kopf zu wenden, aber Yoongis amüsiert klingende Stimme bestätigt meinen Verdacht.
"Pass auf, Namjoon. Gleich schnurrt sie wie eine Katze."
Vergnügt gehe ich auf den Joke ein, räkele mich wie eine zufriedene Katze und schnurre, so laut ich kann. Schallendes Gelächter und eine feste Umarmung von Namjoon sind mein Lohn.
Bei Yoongi geht das Lachen allerdings schnell in Husten über. Wir warten, bis er sich wieder entspannt hat, und geben ihm was zu trinken. Dann stelle ich ihm noch die letzte Frage, die mir auf der Zunge brennt.
"Eine Sache musst du mir bitte noch erklären. Wobei - muss. Musst du natürlich nicht, aber ..."
"Schieß los!"
"Warum bist du so unglaublich mager, obwohl du jetzt wochenlang hoch und trocken bei deinen Eltern gewohnt hast und bestimmt nach Strich und Faden verwöhnt wurdest?"
"Das war schon immer so. Referate, große Hausarbeiten, Klausuren, Prüfungen - dann arbeite ich wie besessen und vergesse alles andere. Auch das Essen. Ich gelobe aber Besserung, denn der Bericht ist ja nun fertig und abgeliefert."
"Hmpf. Und wie wärs mit umlernen? Anders auf Druck und Stress reagieren? Nur so als Idee ..."
Yoongis Magen knurrt. Wir müssen alle lachen.
"Du hörst - ich werde nicht verhungern. Mein Körper sorgt gut für sich. Stress vorbei, Futter rein."
"Na dann."
Namjoon macht uns allen ein spätes Mittagessen. Damit wird Yoongi gründlich gemästet. Er lässt es gelassen über sich ergehen und holt sich anschließend die nächste Runde Schlaf. Ich informiere mit einer kurzen Nachricht Hoseok, dass Yoongi hier ist und dass es Stress geben könnte, beantworte aber keine Rückfragen, bitte ihn nur, absolut darüber zu schweigen.
Namjoon fragt seinen Chef nach dem Stand der Lage - und darf noch eine Nacht zu Hause bleiben. Den Jungs auf dem Berg gehts gut. So-Ras Eltern sind inzwischen von deren Nachbarn befreit und beherbergt worden. Eigentlich könnte ich diese Zwangspause noch ein paar Tage länger brauchen. Aber die Blicke aus den Fenstern meiner Wohnung holen mich sofort zurück in die Wirklichkeit. Der Sturm, der anhaltende Regen, die Schlammlawinen, das Hochwasser haben Schneisen der Verwüstung durch die stolze Metropole gebahnt.
In den Nachrichten heißt es, dass nach erster Sichtung der Schäden davon ausgegangen wird, dass die Aufräumarbeiten Wochen dauern werden und die Schäden an Gebäuden und Straßen noch in Monaten zu sehen sein werden. Erschreckend viele Menschen haben ihr Leben verloren - manche, weil sie überrascht wurden, andere, weil sie helfen wollten. Der Sachschaden geht in Milliardenhöhe - Dollar, nicht Won.
Schaudernd wende ich mich vom Fenster ab.
Wir haben echt Schwein gehabt, dass wir so verschont geblieben sind. Das hätte - vor allem für Yoongi - ganz anders ausgehen können.
Obwohl die U-Bahnen noch lange nicht alle wieder fahren, kämpfe ich mich am Montag ins Büro. Namjoons Tanke ist vorerst wegen größerer Schäden dicht, Yoongi ist auf dem Wege der Besserung, also kann ich beruhigt arbeiten gehen. Es wird ein langer Tag. Das ganze Haus arbeitet auf Hochtouren, alle Leitungen sind ständig belegt, nur allmählich wird das finanzielle Ausmaß der Katastrophe klar.
Wir versuchen, alle eingehenden Meldungen in Kategorien zu fassen, die es ermöglichen sollen, unsere Kräfte zu bündeln. Schnell wird mir klar, dass ich mindestens in dieser Woche meinen Teilzeitvertrag vergessen kann. Erst um 21.00 Uhr verlassen So-Ra und ich unser Büro, mit rauchendem Köpfen und Blei in den Füßen. Zu Hause falle ich nur noch ins Bett. Morgen früh gehts gleich weiter ...
Am Dienstag fährt Namjoon für mich auf den Berg, weil der Architekt angeboten hat, sich Zeit für eine Bestandsaufnahme zu nehmen. Herr Lee und Namjoon inspizieren die gesamte Villa außen und innen ganz genau und stellen beruhigt fest, dass vom Keller bis zum Dach alles trocken und unversehrt ist. Es ist eben alles neu und stabil. Mit dieser beruhigenden Nachricht meldet er sich bei allen Fachleuten in unserem Gründungsteam und darf sich über positive Reaktionen freuen, die spürbar über Höflichkeit hinausgehen. Er hat einen guten ersten Eindruck hinterlassen und erarbeitet sich nach und nach das Vertrauen der Verantwortlichen. Eine schönere Nachricht kann es heute für mich gar nicht geben.
Taehyung hat von Dr. Lee frei bekommen, bis das größte Chaos beseitigt ist. Dafür fährt er gemeinsam mit Jimin zur Gärtnerei, um zu helfen. Die Gewächshäuser haben zum Teil erheblich gelitten, die Anpflanzungen im Gelände müssen kontrolliert werden, alles, was lebt, muss vor dem Winter wieder unter Dach und Fach, obwohl der Platz drinnen ja nun erheblich reduziert ist.
Für Jeongguk fällt bis auf weiteres die Berufsschule aus, aber im Betrieb geht es ganz normal weiter, sobald er dort wieder hingelangen kann.
Hoseok und Jin treten in der nächsten Massen-Notunterkunft als freiwillige Helfer an. Für Jin ist das eine riesige Herausforderung - viele Menschen, viel Durcheinander, viele Aufgaben, viel Lärm, viel gleichzeitig. Aber mit Hobi an seiner Seite schlägt er sich gut, tröstet Kinder, teilt Essen aus, putzt immer wieder die sanitären Anlagen, beantwortet Fragen. Abends ist er so stolz auf sich wie schon lange nicht mehr.
Eine ganze Woche lang lebt die Millionenstadt so im Ausnahmezustand. Und im gesamten Land sieht es ähnlich aus. Nur allmählich beruhigt sich die Lage. Erst am kommenden Sonntag gibt es für Yoongi eine Möglichkeit, sich zu seinen Eltern durchzuschlagen. Mit Bedauern lasse ich ihn ziehen, nehme ihm aber das Versprechen ab, dass das Schweigen ein Ende hat. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, er will gar nicht gehen. Und das macht mir Hoffnung.
Wir anderen treffen uns alle zusammen in der Pförtnerei und können mal wieder gemeinsam gemütlich um den großen Tisch sitzen und miteinander essen und schwätzen. Mir war vorher gar nicht klar, wie sehr ich das vermisst hatte.
Jetzt fehlt wieder "nur" noch Yoongi.
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30.3.2023 - 23.3.2024
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