
15 | Übergangstraum
Eine Weile gingen der Traumreiseführer und seine KI den Pfad entlang, bis Nia plötzlich vor einer Tür stehen blieb. Sie gehörte zu einer kleinen Blockhütte, deren verwitterte Holzplanken unscheinbar waren – abgesehen von dem auffälligen Türknauf in Form eines Fuchskopfes, dessen Augen schienen, als würden sie die Neuankömmlinge beobachten.
„Wer träumt hier?", fragte Xander neugierig, als Nia den Fuchsknauf umfasste.
„Das weiß ich nicht genau", antwortete sie ehrlich und wirkte einen Moment lang, als würde sie lauschen. „Aber wir nehmen diesen Traum als Abkürzung." Ohne zu zögern drückte sie die Tür auf, die mit einem leisen Knarren nach innen schwang.
Xander runzelte die Stirn, überrascht von ihrer Entschlossenheit. „Brauchst du dich denn gar nicht zu verifizieren?", wunderte er sich. Doch Nia deutete auf ein kleines Bedienfeld neben der Tür, das offenbar außer Funktion war. „Die Sicherheitsmaßnahmen sind deaktiviert. Keine Authentifizierung notwendig." Erst jetzt bemerkte Xander, dass das Display dunkel war und keinerlei Daten anzeigte.
„Darum konnte ich in den Traum dieses Mr Harold eindringen. Er war nicht mehr gesichert!", wurde sich Xander bewusst.
„Vermutlich", bestätigte Nia und schob die Tür vollständig ins Haus. Wie selbstverständlich trat sie über die Schwelle. Xander zögerte einen Moment, folgte ihr dann jedoch mit einem mulmigen Gefühl.
„Nia, wo sind wir hier?" Der Avatar blieb einen Moment stehen und ließ ihren Blick durch den Raum gleiten. Das Zimmer schien aus einer anderen Zeit zu stammen – dunkles Holz zierte Wände und Boden, flackerndes Kerzenlicht warf dunkle Schatten an die Wände und eine fast spürbare Schwere lag in der Luft. Xander fühlte sich unbehaglich und fragte sich, wer freiwillig in solch einem Traum träumen wollen würde.
„Das hier ist der Eingang zu einem Übergangstraum", erklärte Nia in diesem Moment leise, fast ehrfürchtig. „Er gehört keinem bestimmten Träumer, sondern dient als Brücke zwischen den Traumwelten. Orte wie dieser entstehen, wenn sich Träume überlappen oder wenn das Kontrollsystem instabil ist."
Sie drehte sich zu Xander um, ihre Augen schimmerten im gedämpften Licht. „Übergangsträume sind Orte voller Möglichkeiten... aber auch voller Gefahren. Wir sollten vorsichtig sein."
„Übergangstraume?", echote Xander verwundert. „Warum habe ich in dem Handbuch nichts darüber gelesen oder jemanden davon sprechen gehört?"
Nia trat näher an ihn heran, ihre Stimme war gedämpft, als wolle sie verhindern, dass der Raum selbst lausche. „Weil Übergangsträume offiziell nicht existieren. Sie sind Anomalien, die das System eigentlich vermeiden oder verschleiern will. Nur, wenn die Grenzen zwischen den Träumen instabil werden, tauchen solche Orte auf." Sie hielt kurz inne und musterte Xander nachdenklich. „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder du warst bisher nie nah genug an der Bruchstelle, oder... jemand will nicht, dass du von ihnen weißt." Ihre Augen ruhten auf ihm, als sie weitersprach: „Vielleicht war es Absicht, dass du nichts darüber erfahren hast."
„Jemand will diese Schwellen verschleiern... warum? Welche Gefahren bergen sie? Und warum weißt du davon?" Xander ließ seinen Blick über den Raum schweifen, als würde er die Antwort in den Schatten suchen.
„Übergangsträume sind instabile Orte. Hier gelten die normalen Regeln der Traumwelt nicht. Grenzen zwischen Bewusstsein, Unterbewusstsein und Programmierung verschwimmen", erklärte Nia. „Das bedeutet, dass Dinge, die hier geschehen, unvorhersehbar sind. Erinnerungen können verloren gehen oder verfälscht werden. Die Realität der Traumwelt kann verzerrt oder gar zerstört werden."
Nia sah Xander direkt an. Für einen Moment schien sie darüber nachzudenken, ob sie Xander die nächsten Sätze zutrauen konnte, entschied sich dann aber dafür, ihm auch den Rest der Wahrheit anzuvertrauen. „Doch das ist noch nicht das Schlimmste. Manche sagen, dass Übergangsträume wie Fallen sind. Wenn du nicht aufpasst, kannst du hier stecken bleiben – für immer. Vielleicht will jemand genau das verhindern. Oder... vielleicht will jemand genau das nutzen."
„Das ist ganz schön kompliziert. Kannst du mir das genauer erklären?", bat Xander und kratzte sich etwas überfordert am Kopf.
Nia nickte verständnisvoll und ging ein paar Schritte durch den Raum. Xander folgte ihr unaufgefordert. „Stell dir die Traumwelt wie ein riesiges Netzwerk vor, in dem jeder Traum ein Knotenpunkt ist. Diese Knoten sind stabil, weil sie klare Grenzen haben: Wer träumt, was geträumt wird und wie lange."
Sie machte eine kurze Geste mit erhobenen Händen, als würde sie Fäden in der Luft ziehen. „Übergangsträume entstehen, wenn diese Grenzen instabil werden – sei es durch Fehler im System, emotionale Überlastung des Träumers oder absichtliche Manipulation. In einem Übergangstraum vermischen sich Fragmente verschiedener Träume. Erinnerungen, Persönlichkeiten und sogar physische Gesetzmäßigkeiten können durcheinander geraten."
Xander nickte, als Zeichen, dass er Nia folgen konnte, bevor sie weitersprach. „Das macht sie gefährlich. Du kannst nicht sicher sein, ob das, was du siehst, echt ist – oder nur ein Echo aus einem anderen Traum. Und je länger du hier bleibst, desto größer ist die Gefahr, dass du dich selbst verlierst. Du könntest Dinge vergessen, die du in der realen Welt weißt, oder dich plötzlich an Dinge erinnern, die nie passiert sind. Deshalb versucht das System, diese Übergänge zu verbergen. Es will die Stabilität wahren. Aber wenn jemand wie Renard diese Träume kontrollieren kann..." Sie ließ den Satz offen, die Bedeutung war Xander klar.
„Du glaubst, Renard und seine Helfer haben absichtlich solche Träume erschaffen? Wozu? Und was hat Mr Harold damit zu tun?"
Nia sah Xander nachdenklich an, als würde sie seine Frage abwägen. „Es ist möglich. Übergangsträume entstehen meist zufällig. Doch auch eine Programmierung ist möglich. Und wer sie bewusst erschafft, hat ein Ziel. Wenn Renard und seine Helfer tatsächlich diese Träume manipulieren, könnte das zwei Gründe haben." Sie zählte an ihren Fingern ab. „Erstens: Kontrolle. Übergangsträume sind schwer vorhersehbar, aber wer sie versteht, kann die Realität darin formen – Menschen manipulieren, Erinnerungen verändern, vielleicht sogar ihren Willen brechen."
Ihr Blick wurde düster. „Zweitens: Zugang. Übergangsträume könnten als Schleusen dienen. Wenn die Sicherheitsmaßnahmen deaktiviert sind, kann man sich durch diese Träume bewegen, ohne vom System bemerkt zu werden. Das wäre der perfekte Weg, um in verbotene Bereiche einzudringen oder jemanden aus dem System zu löschen."
Nia stoppte vor einem großen Kleiderschrank, der in einem gemütlichen Schlafzimmer mit einem hölzernen Kingsize Bett stand. „Und was Mr. Harold betrifft... Er könnte ein Schlüssel sein. Vielleicht war sein Traum ein Testlauf oder ein Knotenpunkt, der durchbrochen werden musste. Oder er weiß mehr, als er selbst begreift. Hast du ihm Fragen gestellt, bevor du ihn verlassen hast?"
„Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen", gab Xander zu. Vorher hatte Renard ihn zu ersäufen versucht. „Nia, was passiert, wenn Mr Harold in so einem Übergangstraum gefangen ist. Ich meine, in der echten Welt?"
Nia seufzte leise und sah Xander ernst an. „Wenn Mr. Harold in einem Übergangstraum gefangen ist, könnte das verheerende Folgen haben – sowohl für ihn hier als auch für seinen Geist in der realen Welt." Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, als ob sie sich konzentrieren müsste. „In der Traumwelt würde er zunehmend die Verbindung zur Realität verlieren. Seine Erinnerungen könnten sich vermischen oder verzerren. Er könnte sich an Dinge erinnern, die nie passiert sind, oder wichtige Teile seiner Identität vergessen."
Nia machte eine kurze Pause. „In der echten Welt würde das als eine Art tiefer Koma-Zustand wirken. Sein Körper lebt, aber sein Geist ist gefangen – unfähig, aufzuwachen. Und je länger er dort bleibt, desto schwieriger wird es, ihn zu befreien. Irgendwann könnte er den Übergangstraum als seine neue Realität akzeptieren und den Weg zurück nicht mehr finden." Ihr Blick wurde weich, fast traurig. „Wir müssen ihn finden, Xander. Bevor es zu spät ist."
„Vor allem sollten wir hier möglichst schnell verschwinden! Du sagtest, wir nehmen eine Abkürzung. Wo kommen wir wieder raus?"
Nia lächelte und warf einen prüfenden Blick auf die Tür, des Kleiderschrankes. Dann wandte sie sich Xander zu. „Wenn alles nach Plan läuft, sollten wir in der Nähe eines stabilen Traums herauskommen – ein Punkt, der außerhalb von Renards Einflussbereich liegt. Es könnte ein neutraler Traum sein oder einer, der nur schwach überwacht wird. Aber... es gibt keine Garantie. Übergangsträume sind unberechenbar. Die Abkürzung ist ein Risiko, aber es ist die schnellste Möglichkeit, Renard zuvorzukommen."
Nia nahm einen tiefen Atemzug, als wolle sie sich selbst beruhigen. „Wir müssen wachsam bleiben. Egal, wo wir herauskommen, wir dürfen nicht vergessen, warum wir hier sind. Und wenn etwas nicht stimmt... dann laufen wir. Sofort."
Sie sah Xander kurz fest in den Augen. „Bist du bereit?"
„Nicht wirklich. Aber ich bin dabei!"
Nia lächelte kurz, ein flüchtiger Ausdruck von Verständnis. „Manchmal reicht das. Bereit zu sein, kommt unterwegs."
Sie legte ihre Hand an die Tür, die aus dem Holz knisternd Energie zu ziehen schien. „Halte dich dicht hinter mir, damit du mich nicht verlierst."
Dann öffnete sie mit einem leisen Knarren die Tür.
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