𝟏: 𝐉𝐚𝐝𝐞
Eigentlich will ich gar nicht hier sein.
Meine Leidenschaft ist schließlich das Schauspielen und nicht das Singen. Mir dreht sich der Magen um, als mir Steven ein zweites, angeblich bekanntes Lied irgendeiner Sängerin vorspielt. Meiner Meinung nach hören sich beide Lieder gleich an. Und die Stimme hört sich an wie eine sterbende Krähe.
Ich behaupte nicht, dass ich besser singen kann. Ich hasse nun mal Pop und Rock und EDM und alles andere, was mit Singen zu tun hat.
Leider hat mich Steven in einem Büro des Musiklabels Miracle Music, in dem er arbeitet, verbarrikadiert. Mein Nachbar und gleichzeitig guter Freund ist so etwas wie der Talentscout und gleichzeitig Marketing-Heini des Labels. Keine Ahnung, was der Fachbegriff dafür ist, den habe ich sofort wieder vergessen.
Er findet jedes Lied, das er mir vorspielt, toll. Ich finde das nicht, aber mich fragt ja niemand. „Ich kann Klavier spielen", sage ich und bemühe mich, nicht allzu gelangweilt zu klingen. „Wollt ihr eine Pianistin in eurem Label?"
Steven schüttelt den Kopf. „Nichts für ungut, Jade, aber wir sind kein Klassik-Label. Und außerdem kannst du nur Twinkle, Twinkle Little Star spielen." Stimmt. Das habe ich ganz vergessen. Schade allerdings. Klassik ist nämlich die einzige Art von Musik, die ich mag, weil man nur Instrumente hört und keine Stimmen.
„Du solltest darüber nachdenken", sagt Steven jetzt. „Nicht jeder bekommt diese Chance. Schon gar nicht, wenn man..." „Untalentiert im Singen ist", beende ich seinen Satz und Steven lacht nervös. „Ja. Tut mir leid, Jade, aber..." „Alles gut", winke ich ab. „Wie hast du dir das denn vorgestellt? Die ganze Zeit nur Autotune? Ich glaube, das kommt bei den Leuten nicht so gut an."
Er räuspert sich. „Also, da du keine Erfahrung hast, brauchst du Gesangsunterricht." Mein Nachbar macht eine Pause und sieht mich abwartend an. „Und einen Musikproduzenten und Songwriter", fügt er hinzu, als ich nicht antworte.
Großartig. Ich frage mich, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn ich diese zwei Filme, die meine Schauspielkarriere ruiniert hatten, nie gedreht hätte. Auf jeden Fall würde ich nicht hier sitzen. Ich seufze auf.
„Schön. Und hast du schon eine Idee, wer das sein wird?", frage ich und schiele zu der Schale mit den Keksen, die auf dem Tisch stehen. Vielleicht könnte ich ja einen Keks... Nein, Jade, hör auf damit, du musst auf deine Figur achten, würde meine Managerin Melissa jetzt sagen. Aber sie ist ja gar nicht mehr da.
Wenigstens ein Lichtblick. Erst ist sie diejenige, die mir diese Probleme verschafft hat und dann schickt sie mir wortlos ihre Kündigung. Ich hätte alles verhindern können, wenn ich nur Nein gesagt hätte. Nein zu diesen Filmen, Nein zu Melissa. Aber so einfach ist es leider nicht.
Steven nickt. „Ja. Ezra Craig. Ein sehr erfolgreicher Musikproduzent und Songwriter, der so ziemlich alle Lieder geschrieben und produziert hat, die gerade in den Charts sind, obwohl er gerade mal 21 Jahre alt ist. Und das Beste ist, er ist auch noch Gesangslehrer." Er strahlt mich an. Ihm zuliebe zwinge ich mich zu einem Lächeln. Steven hat es nicht verdient, dass ich ihn schlecht behandele.
Aber dann erstarre ich. Ezra Craig? Das darf doch nicht wahr sein. Ausgerechnet er. Ich habe gehofft, ihn nie wieder zu sehen, nachdem er mich vor zwei Jahren im Stich gelassen hat. Er sagte damals, dass er mir helfen würde. Tja. Was lernt man daraus? Vertraue keinen Männern und schon gar nicht Ezra Craig. Steven ist nur eine Ausnahme.
„Ezra ist sehr geduldig, er wird aus dir eine tolle Sängerin machen", versichert mir Steven, als er meinen entsetzten Blick bemerkt. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen oder dich schämen." Er weiß ja nicht, dass ich mir gerade über andere Themen als meine neue Musikkarriere Sorgen mache. Aber ich will es ihm nicht erzählen. Es ist nett von ihm und seiner Frau Natalie, dass sie mir helfen wollen, obwohl sie mit ihren beiden Kindern viel Arbeit haben.
„Das ist... gut", bringe ich heraus. Ich habe panische Angst davor, Ezra wiederzusehen. Gleichzeitig bin ich wütend auf ihn. Steven wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. „Schon sechs Uhr. Ich muss los. Willst du mit uns essen?"
Er sieht mich fragend an und ich nicke dankbar. „Ja, das wäre nett, danke." Ich habe nach dem heutigen Tag keine Kraft, mir etwas zu kochen.
„Morgen kannst du Ezra dann kennenlernen", fährt Steven fort und erhebt sich. Ich folge ihm aus seinem Büro nach draußen in die Kälte. Für Mitte September ist es in New York ziemlich kalt und ich fröstele etwas. Zum Glück steht Stevens Auto nicht weit entfernt und wir fahren zurück zu unserem Hausblock, in dem wir wohnen. Beide Wohnungen sind recht modern und gar nicht so teuer, was mich wundert. Normalerweise schießen die Wohnungspreise in New York in die Höhe.
Als Steven und ich seine Wohnung betreten, riecht es bereits nach Kartoffelauflauf und mein Magen knurrt etwas. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen.
Stevens Frau Natalie steht am Herd, ihre Kinder Eloise und Waylon sitzen am Tisch. Ich begrüße die drei und wende mich dann den Kindern zu. Es ist schön anzusehen, wie gut sich die beiden verstehen. Ich habe keine Geschwister. Manchmal frage ich mich, ob mein Leben mit Geschwistern anders gelaufen wäre.
„Wie war es?", fragt Natalie und stellt den Kartoffelauflauf auf den Tisch. Ihre roten Haare sind heute zu einem Zopf zusammengebunden. „Gut, schätze ich", antwortet Steven. „Oder etwa nicht, Jade?" „Ja, es war interessant", lüge ich. „Ich frage mich nur, ob ich das Singen lernen kann. Ich meine, man braucht ja auch Talent und das ist bei mir eindeutig nicht vorhanden."
„Mach dir keine Sorgen", Natalie lächelt mich aufmunternd an. „Das schaffst du." Ja, mit einem anderen Gesangslehrer vielleicht. Noch immer habe ich keine Lust darauf, Ezra morgen zu begegnen. Wie er jetzt wohl aussieht? Hat er immer noch die kleine Narbe am Kinn oder...
Schnell esse ich weiter. Ich darf auf keinen Fall weiter darüber nachdenken. Nach dem Abendessen verabschiede ich mich von Steven, Natalie und ihren beiden Kindern und gehe zurück in meine Wohnung. Melissa hat sie damals für mich gekauft und eine Innenausstatterin engagiert. Steven sagt immer, meine Wohnung sähe aus wie in einer Werbung und nicht wie ein Zuhause. Leider muss ich sagen, dass es stimmt.
Als ich im Bett liege, ist es Zeit, auf Instagram zu scrollen. Das ist mein kleines Ritual vor dem Schlafengehen. Jeden Abend ein paar Hasskommentare lesen, die mir sagen, was für ein schrecklicher Mensch ich doch sei und dass es besser wäre, wenn ich verrecken würde. Okay, so etwas schreiben sie nicht - vielleicht habe ich etwas übertrieben - aber so in etwa.
Dieses Ritual ist nicht gerade das Beste, aber ich kann nicht damit aufhören, auch wenn mir Steven und Natalie oft versichern, dass es nicht stimmt, was die Leute im Internet sagen. „Sie kennen dich nicht", predigt mir Natalie andauernd. Da hat sie recht. Aber ich habe das Gefühl, als würde nicht mal ich selbst mich kennen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro