VI. Die Frau der Stunde
»Hallo?«
Ein lautes Schnipsen ließ Lillian zusammenfahren, sodass sie sich prompt ihren Kopf gegen die Innenwand der Kutsche schlug. Jacob lachte amüsiert über sie, während sie sich brummend ihren Kopf hielt und ihm einen schneidenden Blick zuwarf. Sie war heute nicht ganz sie selbst, das gestand sie offen. Das Gespräch am vergangenen Abend mit Jonathan ließ sie nicht wirklich los, sondern schien ihren Kopf -wie den einer kleinen, nutzlosen Puppe- immer wieder mit einem Finger hin und her zu stupsen. Er hatte es bereut die Templer ermordet zu haben... ein Gedanke, der sie zum Nachdenken brachte. Immerhin war es noch nicht lang her, dass sie wohl die größte Schuld daran hatte, dass Crawford Starrick von Jacob und Evie ermordet wurde.
Tja, am Ende ist Wasser eben schmackhafter als Blut.
Sie nahm seine Hand an, als er ihr aus der Kutsche half. »Du siehst übrigens...«, er suchte ein paar Augenblicke nach den passenden Worten, »wundervoll aus.«
Lillian zog eine Augenbraue hoch und legte ihren Kopf schief. »Oh, lass dich von Manieren nicht stören Jacob, sag was du eigentlich wolltest.«
Er seufzte auf. An Manieren hatte er sich noch nie gestört. Hatte er nie - würde er nie.
»Todbringend war das erste was mir in den Sinn kam, aber dann sofort wundervoll und wunderschön und... das... alles.«
Sie drehte sich zu ihm und legte ihre Hände auf ihre Hüften, die nicht wie sonst immer unter einem exquisiten Kleid verborgen lagen, sondern nun von der königsblauen Montur, die Evie ihr aus Indien geschickt hatte, umspielt wurden.
»Wirst du etwa rot, Jacob Frye?« mit einem hinterhältigen Lächeln hob sie sein Kinn mit zwei Fingern an und wurde beinahe selbst rot, als sie sah, dass sie recht hatte. Doch er überspielte es, indem er ihr Hand festhielt und ein schiefes Grinsen aufsetzte. »So gefällst du mir eh besser Lil'.«
Hatte sie immer - würde sie immer.
Wenige Minuten später, standen Lillian und Jacob vor dem Haus in der Newark Street Number ten und wussten nicht recht, was sie vom äußeren Eindruck des heruntergekommenen Gebäudes, mit seinem -vor Unkraut und vertrockneten Pflanzen wuchernden- Garten, halten sollten. Das Dach war leicht schief, die Fenster mit ein paar losen Brettern vernagelt, die Vorhänge zugezogen und in der großen Weide, hockte ein Schwarm fetter Krähen, die die beiden Eindringlinge mit ihren schwarzen Knopfaugen misstrauisch beäugten.
Lillian schluckte. Sie hasste diese Viecher. Mit ihren Krallen, den unheimlichen Augen und dem noch viel erschreckenderen Gekrächze, hatten ihr diese Vögel schon immer Angst gemacht. Doch sie schluckte ihre Angst hinunter und folgte Jacob, der schon einige Schritte weiter gegangen war und nun vor der Haustür auf einer der drei kleinen Treppenstufen stand.
»Und wir sind hier wirklich richtig?« er sah sie zweifelnd an. Nicht, dass er ihr irgendetwas unterstellen würde, aber... dieses Haus... der ganze Ort war buchstäblich mit einer dicken Schicht Staub bedeckt - wie bei einem uralten Buch- und dessen Geheimnisse dadurch sorgfältig von der Außenwelt isoliert. Geheimnisse - wenn er schon mal beim Thema war; Selbst wenn die Mistress of the Mysteries jedes noch so schmutzige Geheimnis London's kannte, so schien Lilly das Geheimnis dieses Hauses noch nicht zu kennen. Und manchmal, sollten Geheimnisse auch Geheimnisse bleiben.
Lillian nickte und trat einen Kieselstein von der Treppe. »Patricia Lorraine Thatcher. Die Frau der Stunde.« Lilly deutete auf das in Mitleidenschaft gezogene Briefkastenschild, auf dem gerade noch so, in verblichenen Buchstaben, der Name »Thatcher« zu entziffern war. »Was willst du von ihr? Und bist du dir überhaupt sicher, ob sie noch... na ja, lebendig ist?«
»Ich habe ein Gespräch mit der kleinen Patricia zu führen, welches für uns wichtiger ist, als sämtliche Akten von Frederick. Und übrigens; Leichen sind manchmal gesprächiger als Lebende.«
Die Botschaft des letzten Teils war Jacob durchaus klar. Lillian bevorzugte es zwar, die Frau atmend anzutreffen, wäre jedoch ebenso gleichgültig, würde sie eine Leiche anstatt einer Lady vorfinden. Unauffällig sah sich Lillian auf dem Grundstück um, alles so verlassen, so allein, so... ihr Blick blieb an einem Fenster hängen. Oder mehr an dem dazugehörigen Vorhang, der leicht hin und her wehte. Das Fenster war geschlossen.
»Ich denke -selbst wenn sie noch gehen kann- wird sie uns nicht hereinbitten.« nachdenklich seufzte Lillian auf.
»Nichts leichter als das.« Jacob ließ seine Fingerknöchel knacken und warf der Tür schon einen bedeutenden Blick zu, als Lillian ihn mit einem leisen Lachen zur Seite schob.
»Ich denke nicht, dass Miss Thatcher eine aufgebrochene Tür so ekstatisch finden würde; tritt zurück großer Mann.«
Sie zog eine Haarnadel aus ihrem unordentlich geflochtenen Haar und beugte sich damit zum Schloss hinunter. Jacob, der beleidigt neben ihr stand, hatte die Arme wie ein trotziges Kind verschränkt und beobachtete Lillian skeptisch. Seine Methode wäre wesentlich schneller gewesen...
»Das funktioniert doch niemals«, murmelte er, doch da drehte sich Lillian schon mit einem zufriedenen Lächeln zu ihm, steckte die Haarnadel wieder an ihren Platz und öffnete die Tür. »Was sagtest du gerade?«
Mit erhobenem Kopf stolzierte sie in den kahlen Flur des Hauses - und wäre am liebsten wieder rückwärts herausgelaufen. Fauchend sprang eine Katze dicht an ihr vorbei und huschte hinter Jacob durch die Tür hinaus. Es roch wie in einem Keller; Modrig, abgestanden und verlassen.
Lillian lief langsam weiter, ihre Augen wachsam und ihr Verstand auf alles vorbereitet. Im Vorbeigehen strich sie mit einem Finger über den hölzernen Rahmen eines Ölgemäldes und pustete sich anschließend die dicke Staubschicht von diesem.
Fazit: Sauberkeit gehörte anscheinend nicht zu Patricia's Vokabular.
»Komm schon, hier geht's lang.« Sie nickte und folgte Jacob durch den verwahrlosten Flur die Treppe hoch. Bei jedem seiner Schritte knarzten die Dielen mäßig laut, doch bei Lillian hörte man gar nichts. »Nicht so laut!«, fuhr sie ihn flüsternd an, als sie die Treppen erklommen hatten und nun im ersten Stock standen, die Türen der zwei Wohnungen mit Holzbrettern vernagelt.
Jacob ließ seine Hand über die stümperhafte Barriere fahren, während Lillian die Wände untersuchte. »Wurde das hier angebracht, um etwas draußen zu halten? Wenn ja -das kann ich absolut sicher sagen- wird es nicht funktionieren.«
Nachdenklich legte Lillian sich eine Hand an ihr Kinn und stellte sich neben Jacob. »Oder um etwas einzusperren...«
Das mulmige Gefühl in ihren Knochen breitete sich aus wie heißes Wachs.
»Finden wir's raus.« ohne Umschweife klopfte Jacob an die Tür. Und es geschah nichts. Er klopfte noch mal, diesmal etwas lauter.
»Hallo? Miss Thatcher? Wir sind Jacob Frye und Lillian Flores, wenn sie da sind-«
»Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe, Sie gewissenlose Einbrecherin!«, eine schrille, unausstehliche Frauenstimme schallte wie eine Welle aus dem Appartement, dass es Lillian sogleich die Sprache verschlug und ihr Mund in eine »O«-Form klappte. »Das ist Hausfriedensbruch, ich werde Sie verklagen, Sie manierenloses Stück!«
Jacob hatte keine Worte für das, was er gerade sah. Lillian Flores sprachlos. Wohl das erste Mal in ihrem gesamten Leben. Da stand sie, neben ihm. Ihr Mund weit geöffnet und ihre Augen perplex geweitet. Sie hatte wohl mit allem gerechnet, außer damit.
Sie brauchte einige Augenblicke um sich wieder zu fangen, er erwartete, dass sie jetzt erhobenen Hauptes die Treppen hinunter gehen und würdevoll aus dem Haus schreiten würde.
Doch so kam es nicht. Sie atmete tief durch. »Sagen Sie mal, was glauben Sie eigentlich was Sie mir da unterstellen?! Gewissenlos? Vielleicht schon«, Jacob konnte nur zustimmend den Kopf schütteln, »aber manierenlos? Ich habe verhindert, dass Ihre Haustür eingetreten wird und ebenso ihre Wohnungstür, also halten Sie meckerndes Angsthäschen da drinnen mal ganz schnell die Luft an, bevor ich doch noch meine Beherrschung verliere und ihre Tür höchstpersönlich eintrete!« den letzten Satz schrie sie immer lauter bis zum Ende hin und atmete danach so heftig, dass sie ihre Hände zu Fäusten ballte und wutentbrannt schnaubte.
»Unterstehen Sie sich, Sie ehrenloses Weibsstück! Ich habe es schon der Polizei gesagt: ich werde nicht reden! Also verschwinden Sie gefälligst aus meinem Haus! Jetzt sofort!«, keifte die schrille Stimme.
Lillian spürte förmlich wie ihr Gesicht rot zu glühen schien und sie verspürte das unbändige Verlangen diese Tür in den Boden zu stampfen und diesem Schreihals eigenhändig die Kehle umzudrehen. »Ehrenloses Weibsstück? Ehrenloses Weibsstück?! Warten Sie nur bis ich da rein komme und-« mit einem Satz wollte Lillian schon die Tür eintreten, doch Jacob packte sie gerade noch rechtzeitig und zog sie zurück.
»Lass mich los Jacob!« mit ihren Armen versuchte sie nach den Brettern an der Tür zu greifen, wand sich in seinem Griff, doch er hielt sie fest. Nach einer Weile, die mit einigen schweren Beleidigungen und Flüchen -die allesamt Jacob gallten- gefüllt war, hatte sie sich wieder einigermaßen beruhigt, doch -rein aus Sicherheitsgründen heraus- hatte Jacob immer noch beide Arme um ihre Taille geschlungen und ließ ihr keine Chance, die Tür zu erreichen. »Wir brauchen sie lebendig«, sagte er leise in ihr Ohr. »Die Augen kannst du ihr danach noch auskratzen.«
»«
»Ich muss nach Lambeth«, der Himmel fing bereits an sich zu verdunkeln und schwere Wolken zogen auf; das Gewitter zog auf und würde schon bald ganz London in einer Flut an Regen, Donner und Blitzen ertränken. »Ich muss mit jemandem sprechen.«
Sie zog sich ihre Kapuze über den Kopf, als die ersten Regentropfen ihr Gesicht trafen und sie sich neben Jacob auf die Kutsche schwing. Das braune Pferd wiehrte und fiel in einen entspannten Trab. »Ich fahr dich hin«, sagte Jacob und zog sich ebenfalls die Kapuze über, als der Regen sich immer weiter verdichtete und die Menschen wie Mäuse in die trockenen Häuser wuselten, um vor dem Gewitter Schutz zu suchen, dessen erste Blitze schon bedrohlich über den Himmel zuckten. Sie starrte etwas teilnahmslos geradeaus; ganz in ihren Gedanken versunken, die ein Labyrinth für sie darstellten. Nichts passte zusammen. Alles war verworren und abstrakt. Leicht schüttelte sie ihren Kopf, um die wirren Gedanken zu vertreiben und fuhr sich mit einer Hand über's Gesicht.
»Ich muss zur Anstalt von Lambeth«, meinte sie und spürte, wie Jacob sich kurz anspannte. Seitdem er damals Doctor Elliotson dort ermordet hatte, hatte er keine guten Erinnerungen an diesen Ort, das wusste sie nur zu gut. Doch er seufzte nur leise auf. »Dann mal los.«
»«
»Soll ich... dann einfach hier auf dich warten?« ungemütlich rutschte Jacob auf seinem Platz auf der Kutsche herum, als er im Hinterhof der Anstalt gehalten hatte und Lillian sich schon zum Gehen gewandt hatte. Sie blieb stehen, schien einen Moment lang zu überlegen und drehte sich dann schließlich doch zu Jacob um.
»Hast du noch Hausverbot?« er zuckte seine Schultern.
»Habe ich mich jemals um Hausverbot gekümmert?«
Richtig, sonst hätten wir uns ja niemals kennengelernt, dachte sie sich ironisch. »Lass die Kutsche stehen und komm mit«, meinte sie spontan und er schloss ohne Widerworte zu ihr auf.
Die Stiefel der Beiden hinterließen nasse Spuren auf dem Boden, als sie schweigend die Flure entlang liefen. Lillian schien ganz genau zu wissen, wohin sie ging, während Jacob sich einfach darauf verließ, dass Lilly den richtigen Weg kannte. Er hatte keine Ahnung mit wem sie sprechen wollte. Vielleicht mit einem weiteren Zeugen, oder-
Seine Gedanken wurden unterbrochen als Lillian plötzlich stehen blieb und er prompt in sie hinein lief. Anstatt irgendeinen Kommentar darüber loszulassen, öffnete sie lediglich die Tür und trat in das spartanisch eingerichtete Krankenzimmer. Die Schwester erhob sich von dem Stuhl, der neben dem ungemütlichen Bett stand und verließ das Zimmer mit einem Nicken zu Lillian.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, setzte sich eine kleine Person kerzengerade im Bett auf. »Lillian!«
»Maisie.« mit einem liebevollen Lächeln nahm Lillian die Hand ihrer kleinen Schwester, die ihr jedoch keine Sekunde später um den Hals fiel. Es ging ihr besser. Deutlich. Maisie's braune Augen sahen von ihrer Schwester zu einer Gestalt, die etwas weiter hinten im Raum stand und wie eingefroren schien. Sie kniff ihre Augen zusammen, legte ihren Kopf schief und musterte die Gestalt einige Sekunden, bevor es sie wie ein Blitz zu treffen schien. »Jacob?«
Er wusste nicht ganz wie ihm geschah, doch er erkannte sie ebenfalls und eine Welle der Zuneigung schien ihn mit sich zu ziehen, als er langsam neben Lilly trat. »Na Maisie, hast du mich vermisst?«
Das kleine Mädchen lachte laut und freudig, als sie sich in seine Arme warf und er sie an sich drückte. »Und wie!«, sie kicherte. »Ich hab mir schon gedacht, dass du der alte Freund warst von dem Lilly erzählt hat.«
Jacob zog amüsiert eine Augenbraue hoch und warf einen Blick zu Lillian. »Ach, hat sie das?«
Maisie nickte, lehnte sich mit einem unbändigen Grinsen zu Lillian und flüsterte ihrer großen Schwester etwas hinter hervorghaltener Hand ins Ohr. Lillian's Augen wurden ein Stückchen größer, ihr Lächeln frecher und ihre Wangen einen ganzen Ton farbiger. »Maisie!« Lillian versuchte streng und empört zu klingen, doch sie lachte. Sie lachte, weil ihre kleine Schwester wieder sie selbst zu sein schien. Egal was passiert war -sie wollte es am Besten gar nicht wissen- es hatte ihr geholfen.
Maisie redete und scherzte noch eine ganze Weile mit Jacob und Lillian war sich sicher, sie hatte ihn noch nie so viel und glücklich lachen sehen. Doch irgendwann setzte Maisie sich gerade hin, verschränkte ihre Finger ineinander und räusperte sich. »Wieso seid ihr hier, Lilly?«
Lillian wurde ernster, ebenso Jacob und Maisie spürte, dass es wichtig war. Ihre Schwester lehnte sich etwas zu der Jüngeren vor und sagte leise: »Du musst uns helfen Maisie.«
Sie nickte. »Womit?«
Lillian atmete kurz auf, sah ihrer Schwester in die Augen. »Du bist der schlauste Mensch den ich kenne, wenn uns jemand helfen kann, dann du. Ich habe einen Auftrag angenommen -etwas wie ein persönliches Anliegen- und... egal was ich versuche, nichts passt zusammen. Einmal denke ich, ich habe das Rätsel geknackt, doch dann wiederspricht sich alles wieder und kommt mir so... furchtbar abstrakt vor! Ich weiß nicht mehr wohin mit allem, alle erwarten von mir, dass ich weiß was vor sich geht und weshalb. Aber ich kann mir nichts erschließen! Ich... ich fühle mich nutzlos.«
Lillian's Kopf sank auf ihre Unterarme, die auf der Bettkante lagen. Sie war niedergeschlagen.
Maisie jedoch war mehr als nur neugierig geworden. »Sag mir alles was ich wissen muss, Lilly. Ich helfe dir.«
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A/N: Das Bild oben soll Lillian's Outfit zeigen, aber anstatt Violett eben Königsblau :)
Und es geht weiter....
Hättet ihr erwartet, dass Miss Thatcher so... freundlich reagiert?
Oder dass Maisie noch mal ins Spiel kommt um Jacob & Lillian zu helfen?
Und am wichtigsten: wird sie ihnen tatsächlich helfen können?
~May&Bae
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