Prolog
Hektisch rennen die Menschen über die Straße. Sie haben ihre Kapuzen tief in ihr Gesicht gezogen oder versuchen sich mit einem Schirm vor dem Regen zu schützen.
Dieser prasselt ununterbrochen auf sie herunter und durchnässt sie mit jeder verstreichenden Sekunde immer mehr. Laut plätschernd trifft er auf das Dach des kleinen Kioskes, welcher wie verlassen an der Straßenecke steht. Die Markise, welche als kleines Vordach dient, biegt sich bedenklich unter dem Gewicht der Wassermassen, welche sich darauf ansammeln.
Nathan, welcher gelangweilt im Inneren des Kioskes sitzt, denkt aber nicht im Entferntesten daran, sie hereinzurollen. Er ist mit seinen Gedanken ganz woanders.
Um genau zu sein, bei der jungen Frau, welche die Straße heruntergelaufen kommt. Im Gegensatz zu den anderen Leuten um sie herum, scheint sie weder eine Jacke noch einen Schirm dabeizuhaben. Der Regen fällt ungebremst auf ihr schwarzes Top, ihre dunkelblaue Jeans klebt ihr wie eine zweite Haut an den dünnen Beinen, welche sie immer weiter über den feuchten Bürgersteig tragen. Mit jedem weiteren Schritt, nähert sie sich dem Mann im Kiosk.
Bevor sich dieser fragen kann, ob sein kleines Geschäft wirklich ihr Ziel ist, schlüpft sie unter die knarzende Markise und schüttelt mit dem Kopf. Dadurch lösen sich vereinzelte braune Haarsträhnen und fliegen ihr wirr um das hübsche Gesicht herum. So aus der Nähe betrachtet, verschlägt diese Frau Nathan den Atem. Ihre hohen Wangenknochen, die dichten, schwarzen Wimpern, welche ihre dunklen Augen umranden und an denen Regentropfen hängen.
Seufzend fährt sie sich mit den Händen durch ihre Haare, damit die Strähnen nicht in ihrem Gesicht hängen bleiben. Nathan mustert sie ungeniert weiter und sein Blick bleibt an ihren vollen, mit rotem Lippenstift bemalten Lippen hängen. Genau diesen Effekt wollte die Frau bestimmt damit erzielen, sonst hätte sie die verführerisch wirkende, rote Farbe nicht so dick aufgetragen.
Nachdem die Frau ihre Haare so gut es in dieser Situation möglich ist, gerichtet hat, wendet sie sich dem Mann im Inneren des Kioskes zu. Kurz mustert sie ihn, verliert aber schnell wieder das Interesse. Der Mann sieht normal aus, fast schon langweilig, mit seinen schwarzen Haaren, dem drei Tage Bart und dem grauen Pullover. Seine grauen Augen starren die Frau weiterhin unverwandt an und sie runzelt deswegen leicht ihre Stirn, denkt sich aber nichts dabei.
Schließlich ist sie die Einzige, die hier vor ihm steht, da ist es logisch, dass er sie so abwartend mustert. „Was kann ich für Sie tun?", fragt er mit kratziger Stimme, die sich sehr danach anhört, als wäre sie heute noch nicht allzu oft benutzt worden. Das verwundert die Frau, da es bedeuten würde, dass er heute noch nicht allzu viele Kunden hatte. Aber andererseits kaufen die meisten Leute in den großen, billigen Supermarktketten und nicht in einem altmodischen, kleinen Kiosk.
„Haben Sie zufällig einen Schirm?" Der Frau ist es fast schon unangenehm, nach einem Schirm zu fragen. Aber als sie heute Morgen zu ihrer Freundin gelaufen ist, war strahlender Sonnenschein. Da sie nicht die Fähigkeit besitzt, in die Zukunft zu schauen, hat sie nichts zum Schutz gegen Regen mitgenommen. Und jetzt bahnt sich das größte Unwetter an, was seit einigen Wochen geherrscht hat. Was wiederum ein Zeichen dafür ist, wie viel Glück die Frau momentan in ihrem Leben hat. Irgendwie geht alles schief, aber sie hat es mittlerweile aufgegeben, sich deswegen Vorwürfe zu machen.
Schließlich ist es nicht ihre Schuld gewesen, dass die Firma ihres Chefs Insolvenz anmelden musste und sie ihren Job verloren hat. Auch, dass ihre letzte Beziehung in die Brüche ging, lag nicht nur an ihr. Der Drogen- und Alkoholkonsum ihres ehemaligen Partners hatte mit der Zeit Überhand genommen, sodass sie einen Schlussstrich unter diese Beziehung gezogen hat. Seitdem fühlt sie sich wieder frei, der Druck auf ihren Schultern ist verschwunden und sie bereut diese Entscheidung keine Sekunde.
Auch wenn ihre Eltern davon nicht begeistert sind, sie haben sich vor ihrem inneren Auge bereits mit einem Enkelkind auf den Armen sitzen sehen. Auf das können sie nun noch ein bisschen warten, was anderes bleibt ihnen schließlich auch nicht übrig.
„Einen Schirm?", vergewissert sich der Verkäufer sicherheitshalber um zu überprüfen, dass er sich nicht verhört hat. Die Leute kaufen Zeitungen, Zigaretten und Süßigkeiten bei ihm, aber noch nie hat jemand nach einem so banalen Alltagsgegenstand gefragt.
„Es regnet", weist ihn die Frau trocken auf eine sehr offensichtliche Tatsache hin. Mit ihren Händen zeigt sie an ihrem durchnässten Körper entlang und Nathan kann es leider nicht verhindern, mit seinen Augen an ihrem Busen hängenzubleiben, dessen Rundungen durch das weit ausgeschnittene Top auch noch wunderbar zu sehen sind.
„Achso", antwortet er dämlich und ärgert sich selbst darüber. „Nein habe ich nicht", fügt er dann schnell hinzu. Mit einem kurzen Blick überprüft er, ob sein eigenes Exemplar noch neben seinem Rucksack liegt. Er kann ihr nicht seinen eigenen Schirm verkaufen, bei diesem sinnflutartigen Regen kann er den sehr gut selbst gebrauchen.
Die Frau atmet enttäuscht auf und reibt sich mit den Händen über ihre nackten Arme, auf denen sich inzwischen eine Gänsehaut gebildet hat. „Dann vielleicht...eine Jacke?", wagt sie einen neuen Versuch und beißt sich auf ihre leicht zitternde Lippe. Langsam fängt sie an, Nathan leid zu tun. Und er spürt in sich das Bedürfnis, ihr helfen zu wollen.
Dieses wird noch gesteigert, als ihm auffällt, dass sie keinen BH trägt. Durch die Kälte, welche von ihrem Körper Besitz ergriffen hat, zeichnen sich deutlich die Abdrücke ihrer Brustwarzen unter dem Top ab. Aufrecht stehen sie da und springen ihn fast an, lassen ihn vergessen, was die letzte Frage der Frau gewesen war.
Mit seinen Gedanken ist er plötzlich ganz woanders. Ihm bieten sich mit dieser Frau auf einmal Möglichkeiten, an die er schon lange nicht mehr gedacht hat. Er spürt die Aufregung in sich, gepaart mit ein wenig Erregung und ist dankbar dafür, dass sie davon nichts sehen kann, weil er auf einem alten, klapprigen Stuhl sitzt und sich über seinen Beinen die Ablage mit Süßigkeiten für die gefräßigen Kinder befindet.
„Ich...kann Ihnen meinen geben", hört er sich sagen und wundert sich irgendwie gar nicht darüber. Denn er hat einen Plan. Leicht lächelnd blickt er die Frau an, welche vor lauter Dankbarkeit nicht die Kälte wahrnimmt, die in seinen Augen liegt. Dieser drohende Unterton, als er ihr seinen eigenen Schirm durch das kleine Fenster nach draußen reicht.
„Was bekommen Sie dafür?", fragt sie über die Tatsache erleichtert, doch nicht die letzten zwanzig Minuten durch den Regen nach Hause laufen zu müssen.
„Nichts, ich habe alles, was ich brauche", teilt er ihr mit und sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln. „Vielen Dank, Sie retten mir das Leben!", lacht sie leicht und öffnet ihren neu gewonnenen Schirm. Bevor sie allerdings geht, sieht sie Nathan nochmal fragend an. "Und ich muss wirklich nicht dafür bezahlen?", hakt sie erneut nach.
Amüsiert schmunzelnd schüttelt Nathan mit dem Kopf und sieht ihr hinterher, wie sie sich leicht nickend wieder in Bewegung setzt. Sie verschwimmt mit den anderen, umherlaufenden Menschen in der Masse. Aber sein grüner, leuchtender Schirm sorgt dafür, dass er sie nicht aus den Augen verliert.
Schnell schlüpft er in seine Jacke, schultert den Rucksack und verschließt seinen Kiosk. Heute wird sowieso niemand mehr kommen, in einer halben Stunde hätte er offiziell Feierabend. Und er hat jetzt Wichtigeres zu tun.
Der kalte Regen prasselt ihm ins Gesicht und er zieht sich schnell die Kapuze tiefer in die Stirn. Dann macht er sich auf den Weg.
Seine Schuhe geben leicht platschende Geräusche von sich, während er der Frau mit gebührendem Abstand hinterherläuft. Es war eine grandiose Idee von ihm gewesen, ihr seinen grünen Schirm zu geben. In der heranbrechenden Dämmerung leuchtet dieser, sodass er ihr ohne Probleme folgen kann.
Ein eiskaltes Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. "Keine Angst, du wirst noch dafür bezahlen", flüstert er vor sich hin, während er der Frau weiter hinterher läuft.
Er gelangt in eine heruntergekommene Wohngegend. Alte Häuser, welche definitiv schon ihre beste Zeit hinter sich haben, säumen seinen Weg. Die Mülleimer quillen über, ein muffiger Gestank liegt in der Luft, wird nur mit dem Geruch des frischen Regens etwas angenehmer.
Lautlos zuckt ein Blitz hinter einem der Häuser über den Himmel. Keine drei Sekunden später folgt ein grollender Donner. Mit zusammengebissenen Zähnen steckt sich Nathan seine Hände in die Jackentaschen. Warum muss ausgerechnet heute so ein beschissenes Wetter sein, wenn er sein nächstes Opfer findet?
Aber andererseits...ohne diesen Regen wäre sie ihm vermutlich gar nicht aufgefallen.
Dieser Gedanke motiviert ihn dazu, sich weiter durch das Unwetter zu kämpfen. Zu dem nervigen Regen gesellt sich ein paar Meter später auch noch Sturm, der ihm die Tropfen gewaltsam ins Gesicht klatscht. Wie kleine Nadelstiche fühlen sich die einzelnen Tropfen an, aber er ignoriert den Schmerz.
Nach einer gefühlten Ewigkeit verringert die Frau ihre Geschwindigkeit und bleibt vor einem der Häuser stehen. Die Fassade aus Backsteinen trotzt dem Regen, die braunen Steine sind aber einige Nuancen dunkler, als sie es bei Sonnenschein gewesen wären. Klimpernd zieht die Frau ihren Schlüssel hervor und öffnet die Tür.
Nathan steht einen Block von ihr entfernt und wartet, bis sie im Haus verschwunden ist. Aus seinem Winkel sieht er, wie das Licht im Flur angeht. Schnell läuft er weiter auf das Haus zu, hält sich im Schatten der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite verborgen. Es dauert nicht lange, bis ganz oben unter dem Dach weitere Fenster hell erleuchtet sind.
Kalt grinsend notiert sich Nathan die Wohnung der Frau in seinem imaginären Notizblock.
Punkt eins auf seiner Liste ist somit abgehakt. Es folgen weitere, bis er alles über sie weiß.
Und dann kann sein Spiel endlich beginnen.
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