Epilog
Erschöpft hängt die junge Frau auf dem Stuhl. Ihre Finger brennen wie Feuer, der Schmerz steigert sich mit jeder Sekunde weiter.
Lucia weiß nicht, wie viele Fingernägel er ihr als Trophäen rausgerissen hat, aber irgendwann hört er endlich auf. Lautlos laufen ihr Tränen über das Gesicht, sie ist zu erschöpft, um noch richtig zu weinen. Die Schmerzen fressen sie von innen auf, machen sie handlungsunfähig. Sie sind so stark, dass Lucia das Messer, welches immer noch in ihrem Bein steckt, schon fast vergessen hat. Aber jetzt, als sie daran zurückdenkt, spürt sie auch die kalte Klinge wieder. Einen Fremdkörper, welcher dort nicht hingehört.
"Schau sie dir an", grinst Nathan stolz, aber die Frau reagiert zuerst nicht. Er wackelt an dem Messer und sie reißt sofort ihre Augen auf. "Ich sagte, du sollst es dir ansehen", knurrt er. Müde nickt sie und er zeigt auf den Tisch, auf dem ordentlich aufgereiht ihre Fingernägel liegen. Lucia vermisst ihre Existenz schon jetzt ungemein. Denn ihre blanken Fingerkuppen sind viel zu empfindlich, noch sind sie leicht durch das Blut betäubt, welches darüber fließt. Aber sie spürt bereits jeden minimalen Lufthauch und will sich gar nicht vorstellen, wie stark es brennen wird, wenn sie dort jemand berührt.
"Es sind genau sieben. Extra für dich. Da du meine Nummer 7 bist", erklärt er ihr und sie unterdrücke ein Würgen. Lucia ist dankbar dafür, dass sie nicht seine Nummer 20 war, denn dann hätte er sich an all ihren Fingern inklusive Zehen bedienen müssen.
"Schön", keucht sie kraftlos und ihr fallen ohne ihr Zutun die Augen wieder zu. Leicht tätschelt er ihre Wange, aber sie hält die Augen weiterhin geschlossen. Seufzend hört sie ihn in seinem Rucksack herumwühlen und will gar nicht so genau wissen, was er als nächstes mit ihr vorhat. Sehr zu ihrer Überraschung löst er den Knoten des Seils an ihrer rechten Hand. Zitternd sieht sie auf ihre blutüberströmten Finger und traut sich nicht, sie auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
Nathan hebt ihren Arm hoch und biegt ihn wieder in Richtung Rücken von Lucia. Ihr Blut fängt an, in ihren Adern zu pulsieren. Er wird unvorsichtig, er denkt, sie wäre halb ohnmächtig. Das muss sie ausnutzen.
Als er auch ihre linke Hand freigegeben hat, handelt sie instinktiv. Lucia greift nach dem Messer, welches in ihrem Bein steckt und zieht es ruckartig heraus. Laut stöhnt sie durch den Schmerz auf, welcher in ihren Fingern, aber auch im Bein entsteht.
Fast blind rammt sie das Messer nach vorne und stellt zufrieden fest, dass sie kurzzeitig auf Widerstand trifft. Nathan schnaubt entrüstet auf und weicht ein kleines Stück von ihr zurück. Hastig wischt sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, um wieder besser sehen zu können.
Leider hat sie ihn nur leicht am Arm erwischt. Bevor sie erneut zustechen kann, reißt er ihr das Messer aus der Hand. Dabei berührt er ihre zerschundenen Fingerkuppen und sie jammere gequält auf. Dieser Schmerz ist schlimmer als erwartet. Die dunkelblaue Färbung ihrer Haut ist verschwunden, sie wird wieder richtig durchblutet, was den Blutfluss nun erst richtig antreibt.
"Na warte", droht Nathan und kommt bedrohlich mit dem Messer auf sie zu. Mit der scharfen Klinge fährt er die Konturen ihrer Lippen entlang. Mit den Augen verfolgt er gefesselt seiner eigenen Bewegung. Lucia sitzt angespannt und so steif wie möglich auf ihrem Stuhl, aus Angst, noch schlimmer mit dem Messer verletzt zu werden.
"Dein roter Lippenstift war es", flüstert Nathan schließlich. "Der ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich wollte mehr über dich erfahren. Wochenlang habe ich dich beobachtet, war in deiner Wohnung...habe Kameras installiert, damit ich alles von dir erfahre."
Gedankenverloren trennt er mit der scharfen Schneide des Messers ihre zusammengepressten Lippen. Bereitwillig öffnet Lucia sie, damit er ihr nicht die Lippe zerschneidet. Sanft, fast schon vorsichtig fährt die scharfe Klinge zu ihrem linken Mundwinkel.
Lucia ist inzwischen eiskalt. Hat dieser Spinner wirklich Kameras in ihrer Wohnung installiert? Hat er ihr immer zugesehen, egal was sie getan hat? Beim Duschen, Ankleiden oder Schlafen? Ihr wird bei dem Gedanken ganz anders.
"Es hat nicht lange gedauert, bis ich den perfekten Plan für den heutigen Tag hatte. Das Versteck hinter deinem Kleiderschrank war besser als erwartet, du hast mich nicht gesehen, obwohl du scheinbar etwas geahnt haben musstest, als du in die Wohnung kamst." Leicht lächelt er sie an und positioniert das Messer genau an ihrem Mundwinkel.
Seine Vorgehensweise hat er inzwischen perfektioniert. Sein Kiosk ist der optimale Platz, um Menschen zu beobachten. Das wird er auch in Zukunft weiterhin tun. Aber erstmal muss er das mit seinem Opfer Nummer 7 beenden.
Lucia versucht ihre Lippen zusammenzupressen und ihren Kopf wegzuziehen, aber bei jeder noch so kleinen Bewegung, schneidet das Messer bereits in ihre Haut und sie wagt es nicht, sich nochmal zu rühren.
"Lächelnd gefällst du mir besser. Dann wirkt dein roter, markanter Lippenstift mehr", überlegt Nathan. Dann stößt er ohne Vorankündigung das Messer in ihren Mundwinkel.
Durch den Schwung schneidet er ihre halbe Wange auf und zieht das Messer dann wieder heraus. Lucia schreit gequält auf und dreht ihren Kopf weg, aber Nathan reißt sie an ihren Haaren wieder zurück. "Lächeln Lucia, Lächeln."
Er setzt das Messer an ihrem rechten Mundwinkel an und Lucia kneift mit pochendem Herzen ihre Augen zusammen. Sie spürt, wie der Druck auf ihrem Mundwinkel zunimmt, wie sich die Haut langsam dehnt und der scharfen Klinge nicht mehr länger standhalten kann. Da kracht plötzlich etwas laut gegen das Fenster. Es befindet sich genau über dem Tisch, sodass der Knall sehr nah wirkt.
Nathan erschreckt sich, sodass er mit dem Messer abrutscht und auch ihre Haare wieder freigibt. Lucia öffnet vorsichtig ihre Augen und sieht aus dem Augenwinkel einen schwarzen Schatten vor der Fensterscheibe.
Gehetzt schaut Nathan zum Fenster herüber, an dem eine fette schwarze Krähe sitzt. Sie quetscht sich auf die schmale Fensterbank und blinzelt sie mit ihren kleinen, schwarzen Augen aufmerksam an.
Der Herzschlag von Lucia beschleunigt sich. Diese Krähe rettet ihr gerade das Leben. Nathan ist von ihrer Anwesenheit so abgelenkt, dass er nicht bemerkt, wie sie sich langsam nach unten beugt.
Mit zusammengebissenen Zähnen greift sie nach einer Glasscherbe. Sie hat ihn dafür gehasst, diese Vase zerstört zu haben. Sie war ihr so wichtig gewesen, sie hat sie immer vorsichtig behandelt. Aber jetzt in dieser Situation, ist sie ihr nur in zerstörtem Zustand eine Hilfe.
Lucia versucht, den starken Schmerz zu ignorieren, welcher durch ihre Finger schießt, als sie mit der Scherbe ihre Füße befreit. Dabei ritzt sie sich selbst die Handfläche auf, aber das realisiert sie fast gar nicht. Dafür kämpft ihr Körper an anderen Stellen mit viel heftigeren Verletzungen. Ihre Wange schmerzt, der Schnitt brennt und warmes Blut sammelt sich in ihrem Mund. Es läuft ihren Rachen herunter und von außen ihre Wange entlang. Sie wird für immer entstellt sein, egal was sie nun mit der Scherbe erreichen wird. Sie ist gewaltsam zu einem dauerhaften, einseitigen Lächeln gezwungen.
Ein Kratzen an der Scheibe informiert Lucia darüber, dass die Krähe ihren Platz noch immer nicht verlassen hat. Sie liebt dieses Vieh, auch wenn sie diese sonst immer verabscheut hat. Aber jetzt ist sie ihre einzige Hoffnung. Zusammen mit der scharfen Scherbe in ihrer Hand, gibt sie Lucia die Kraft, um endlich mit dem Kämpfen anzufangen.
Die Karten bei diesem Spiel sind neu gemischt worden. Nun hat sie eine kleine Chance, den Sieg an sich zu reißen. Sie hat schon viel verloren, er hat sie gedemütigt und seinen Spaß daran gehabt. Aber das ist nun vorbei.
Lucia will sich nicht noch mehr von ihm zerstören lassen. Jetzt ist sie an der Reihe.
Zwar weiß sie, dass sie deutlich im Nachteil ist, aber sie fühlt sich gestärkt. Von unten blickt sie zu dem Bild herüber, welches sie mit ihrem Hund auf dem Arm zeigt. Er kann ihr nicht mehr helfen, also muss sie sich selbst beschützen. Er würde es so wollen.
Genauso wie ihre Mutter. Sie wäre nicht auf ihre Tochter sauer, weil ihre Vase zerbrochen vor dieser liegt. Sie wäre stolz auf Lucia, dass sie damit weiterkämpft. Denn ihr Leben ist wichtiger als diese Vase.
Tief atmet sie noch einmal durch, nimmt die Scherbe fester in ihre Hand. Sie ist ihr einziger Halt und gleichzeitig ihre größte Chance.
Entschlossen springt sie auf und greift Nathan damit an. Ignoriert den Schmerz, welcher dabei in ihrem Körper tobt. Versucht die Schwäche aus ihren Gliedern zu vertreiben. Adrenalin pumpt durch ihren Körper und lässt ihn stärker agieren, als es eigentlich möglich ist.
Nathan gibt nicht wehrlos auf, sondern sticht weiter mit seinem Messer auf Lucia ein.
Die Krähe am Fenster sieht dem hektischen Treiben aufmerksam zu. Sie versteht nicht, was dort vor sich geht. Sowas hat sie noch nie gesehen.
Nervös schlägt sie mit ihren Flügeln, dazu bereit, jeden Augenblick wegzufliegen. Sie weiß nicht, dass in dieser Wohnung eine junge Frau um ihr Leben kämpft. Und sie weiß auch nicht, dass das einzige Ziel des Mannes ist, ihr genau dieses zu nehmen.
Es ist ein unerbittlicher Kampf, welcher schließlich sein Ende findet.
Blut spritzt plötzlich gegen die Scheibe. Erschrocken krächzt die Krähe auf und hebt flatternd von der Fensterbank ab. Ihr Krächzen vermischt sich mit dem gequälten, allerletzten Schrei aus der Wohnung.
Er wird vom Wind davongetragen, genauso wie die Krähe. Sie lässt sich auf den Böen treiben, bringt immer mehr Abstand zwischen sich und dieser mit Blut bespritzen Fensterscheibe.
Sie wird nie wieder dorthin zurückkehren.
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