𝟝 | 𝕃𝕚𝕟𝕖𝕥
Ein weiterer Morgen ist angebrochen und dennoch liege ich auf meinem Bett. Allein. Hilflos. Meine Mutter hat sich heute extra frei genommen und ich bin ihr unendlich dankbar dafür. Es tat gestern so gut in ihre Arme zu liegen und all den Schmerz endlich loszulassen. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich konnte mich nicht mehr daran erinnern wie sie gegangen ist. Seufzend setze ich mich auf. Ich bin erschöpfter denn je und meine Kehle fühlt sich so trocken an, als hätte ich eine gute Woche lang nichts mehr getrunken. Ich huste stark, um den bitteren Geschmack auf meiner Zunge zu vertreiben und die Schmerzen in meinem Hals zu lindern, doch es nützt nichts.
Erst jetzt merke ich, dass auf meinem Nachttisch neben meinem Bett ein silbernes Tablet liegt. Auf diesem befindet sich ein Glas Wasser und zwei Sandwiches. Eines mit feinster Erdbeermarmelade und das andere mit einer dicken Scheibe Käse. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und trotzdem nehme ich das Essen nicht zu mir. Ich stehe auf, ignoriere den Protest meines Magens, der mächtig rebelliert und gehe schweren Schrittes in das Bad, um mich frisch zu machen.
Das heiße Wasser prasselt zischend auf meiner nackten Haut und der Schmerz lenkt meine Gedanken für ein paar Sekunden ab. Doch sobald ich mich an das Wasser gewöhnt habe, ist das Chaos in meinem innern wieder da. Ich schluchze. Sinke kraftlos auf die weißen Fliesen.
"Es ist nicht deine Schuld, Sonne." flüstert meine Mutter mir zu und streicht mir weiterhin durch die Haare. Ich schüttele wild den Kopf an ihrer Schulter. "Ich hätte sie fragen sollen, was los ist. Mit ihr reden sollen. Aber ich habe es nicht getan und dann war sie...weg." Ich schluchze hörbar an ihrer Schulter und klammere mich nur noch fester an sie. "Ich hätte es vielleicht noch stoppen können, ihr helfen können."
Schluchzend wische ich meine Tränen weg und stemme meine zitternden Hände auf dem Boden um aufzustehen. Langsam drehe ich das Wasser ab und schlürfe mit einem Handtuch gewickelt wieder zurück in mein Zimmer. Ich trockne mich ab, benutze die gestrigen Worte von meiner Mutter als Trost und ziehe mir eine verwaschene schwarze Jeans und einen grauen Pulli an, der sich so weich anfühlt als ob man in Federn gewickelt wäre. Mit zitternden Händen greife ich nach meiner Haarbürste auf der Komode und bürste meine langen rubinroten Haare, die mir mittlerweile bis zur Brust gehen. Vielleicht wäre ein neuer Haarschnitt nicht schlecht, denke ich. Verwerfe aber den Gedanken gleich wieder.
Die einzigen guten Friseur Salons befanden sich in den Malls, wo ich nicht gerne war. Zum einen mochte ich keine große Menschenmenge und zum anderen weil es mich zu sehr an Ivelle erinnert. Früher sind wir beide von der einen Mall zur nächsten gerannt und haben unsere Ersparnisse aus dem Fenster geworfen. Wir hatten so viel Spaß, auch wenn wir am Ende des Tages so müde waren, dass wir es kaum noch bis nach Hause geschafft haben. Sie hatte es immer geschafft mich zu überreden etwas völlig idiotisches zu tun oder mich meinen größten Ängsten zu stellen. Ivelle war einfach immer für mich da, aber war ich es anscheinend nicht. Wir hatten uns nämlich immer alles erzählt, egal wie schmutzig unsere Geheimnisse gewesen waren, haben wir uns immer reinen Wein eingeschenkt. Doch wie sehr ich es nicht wahr haben möchte, weiß ich ganz tief in mir, dass sie ein Geheimnis hatte. Ein Geheimnis, dass sie verändert hatte und womöglich für ihr Verschwinden verantwortlich war. Ich weiß, dass ich vielleicht zu jung war, alles zu verstehen, dennoch schmerzte es zu wissen, dass sie nicht ganz offen war.
Abermals fing ich an zu weinen. Ich war wie ein Wrack, dass schon längst zertrümmert und nicht zu retten war. Eigentlich war ich immer das Sture, Ehrgeizige Mädchen gewesen, doch jetzt war kaum noch etwas von meinem früheren Ich übrig. Und das raubte mir jene Hoffnung auf einen Neuanfang, denn ich wollte nicht nach vorne sehen und die Vergangenheit ruhen lassen. Ich wollte meine Schwester finden und diesen Schmerz einfach in die nächste Tonne werfen, um allen zu zeigen, dass ich sehr wohl recht habe. Aber wie sollte ich sie je finden, wenn ich nicht wusste, wonach sie gesucht hatte? Ich wusste zwar, dass sie anfing jeden Sonntag mit dem Fahrrad zu fahren, aber sie hatte mir nie gesagt, warum sie es tat.
"Warum nimmst du mich eigentlich nie mit? Ich kann doch auch schon Fahrrad fahren!", gab ich trotzig von mir und stampfte mit dem Fuß, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ive aber schmunzelte nur und schüttelte den Kopf. "Ich weiß doch, dass du Fahrrad fahren kannst und das sogar besser als ich! Aber es ist einfach viel zu gefährlich, dass du mit kommst, geschweige dich einzuweihen. Außerdem-" "Aber du meinst doch immer, das Geheimnisse böse sind und wir uns deswegen immer alles erzählen!", fiel ich ihr ins Wort und sah sie herausfordernd an. Ive aber seufzte nur tief. "Ich weiß, aber das Risiko kann ich nicht eingehen. Ich würde dich damit nur in Gefahr bringen, Lin." Trotzig schüttelte ich den Kopf. "Ist es aber auch nicht für dich gefährlich? Du weißt ja schließlich davon!"
Nach diesen Worten wusste ich, dass ich zu weit gegangen war, denn sie hatte einen ganz komischen Gesichtsausdruck gemacht, den ich früher überhaupt nicht zuordnen konnte. Jetzt aber, wusste ich ganz genau, was in ihren Augen stand. Es war Schmerz. Angst. Verzweiflung. Doch früher, bevor Ive verschwunden ist, kannte ich sowas wie Leid oder Schmerz nicht. Ich hatte nur das Positive in allem gesehen, hatte meinen eigenen Willen und keine Ahnung darüber, dass das Leben auch eine schlechte Seite hatte. Nun wusste ich es besser.
Das Leben war kein Paradies. Es gab immer zwei Seiten. Wie bei einer Medaille. Nur war das Leben nicht wie eine Medaille, sondern eher wie Himmel und Hölle. Es war niemals einfach für einen Menschen und dennoch forderte das Leben seinen Preis. Denn wie heißt es doch so schön? Geben und Nehmen.
Uns wird ein Leben mit Hindernissen geschenkt und dennoch ist der Tod unser Preis. Der Preis, den wir immer wieder zahlen müssen.
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