𝟜 | 𝕃𝕚𝕟𝕖𝕥
Die Zeit, die ich zu Hause blieb, war erdrückend und still. Meine Mutter war immer noch nicht gekommen, obwohl es mittlerweile Abends war. Mich kümmerte es aber kein bisschen. Ich hatte keine Lust auf weitere Diskussionen mit ihr, geschweige denn überhaupt unter ihre Augen zu treten. Mir hatte der Streit mächtig zugesetzt und selbst Mrs. Lason hatte bemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich bin ihr dankbar, dass sie mich nicht allein gelassen hat, auch wenn die Situation unangenehm war. Sie hatte mich da rausgeholt, bevor noch etwas schlimmeres passieren konnte. Ich hatte mich nicht mehr selbst im Griff gehabt, alles in mir hatte danach geschrien mich wieder unter Kontrolle zu kriegen, doch es war da schon zu spät gewesen, als das ich noch etwas ändern hätte können.
"Linet?"
Ich schließe meine Augen und ziehe mir die eben noch gefaltete Decke über den Kopf, um sie nicht sehen zu müssen. Ich höre wie meine Mutter reinkommt und die Tür hinter sich schließt. Dann spüre ich wie die Matratze bei einem zweiten Gewicht etwas nachgibt, daraufhin einen Arm auf meinem Schenkel. Mit der anderen Hand zieht sie vorsichtig meine Decke vom Kopf und legt ihre Hand auf meine Schulter. Immer noch sind meine Augen geschlossen, wage es nicht sie nur einen Millimeter zu bewegen. Aber der Widerstand schwindet und die Verletztlichkeit kehrt mit einem Schlag zurück. Tränen steigen wieder in mir hoch, denn meine Mutter hat die Angewohnheit allein schon mit ihrer woligen Wärme den ganzen Staudamm in mir zu brechen. Einfach so. Ohne etwas zu sagen.
"Schau mich doch an, Linet...bitte.."
Ganz ohne ein Befehl von mir, sind meine Augen schon offen und treffen die Ihren. Ich schlucke bei Ihrem Blick, der so schuldbewusst wirkt, dass meine Triade in meinem Hals stecken bleibt. Ich erwidere nichts. Spreche nicht. Wir starren uns einfach nur an. Ich würde ihr so viele Worte gegen den Kopf werfen. Schreien. Schimpfen. Weinen. Doch ich bringe es einfach nicht über mich. Kein Wort kommt mir über die Lippen. Einfach nichts. Gar nichts.
"Lin..."
Ich verziehe mein Gesicht. Es schmerzt zu hören wie sie meinen Spitznamen ausspricht. Ivelle hatte mich früher immer so genannt. Plötzlich ziehen Erinnerungen wie ein Film an mir vorbei und lassen mich schlucken. Wie konnte sie es nur wagen diesen Namen auszusprechen?
"Bitte rede mit mir, Lin."
Wieder. Ich kann nicht mehr. Alles in mir zieht sich zusammen und ich schluchze hörbar. Sofort finde ich mich in den Armen meiner Mutter wieder und bette meinen Kopf an ihrer Schulter. Ich spüre wie ihre Hand über meine Haare streicht und sie mich mit ihren Worten zu beruhigen versucht. Weinend klammere ich mich an sie und fühle mich wie ein kleines Kind, dass vor kurzem ihre Schwester verloren hat. Dabei ist es schon Jahre her, trotzdem fühlt es sich wie gestern an. Denn mit meiner Schwester habe ich alles andere auch verloren. Meine Freunde haben mich verlassen, andere Bekannte wollten nichts mehr von mir wissen. Trauer und Verlust ist der Menschheit unangenehm und erdrückend. Sie tun alle so, als ob dieses Gefühl nicht existieren würde. Als ob es ganz fremd wäre, nicht auf diese Welt gehörte. Menschen, die in ihrer Phantomwelt leben und die Realität versuchen zu überspielen. Die Angst vor der Realität haben und diese verdrängen wollen. Jeder Mensch geht anders mit Trauer um und trauert anders. Aber doch bleiben sie bei dem Verhalten immer gleich.
"Es tut mir Leid, Lin. Ich wollte dir nicht weh tun. Ich dachte nur, es wäre das Beste. Für uns beide."
Meine Mutter spricht leise, dennoch höre ich ihre Worte deutlich. Meine Tränen sind mittlerweile versiegt. Ich fühle mich nur noch leer. Ganz stumpf. Da ist nur noch dieser Schmerz. Der Schmerz des Verlustes.
"Wie kannst du nur sowas sagen? Ich will Ivelle nicht vergessen. Ich...ich vermisse sie. So sehr." flüstere ich leise.
Wieder sammeln sich Tränen in meinen Augen, obwohl ich geglaubt hatte, dass ich alles rausgelassen hatte. Doch das stimmte nicht, denn der Schmerz in meiner Brust wird schlimmer und ich schluchze laut.
"Shhh...ich vermisse sie auch, Lin. Mehr als du denkst. Aber ich will nicht, dass du diesen ganzen Schmerz ertragen musst. Es ist schrecklich dich so sehen zu müssen, mein Engel. Ich möchte nur das Beste für dich. Nur das Beste."
"Ich weiß, Mama. Und ich wünschte sie wäre nicht weg. Sie fehlt mir so."
Wieder ein Schluchzen. Ich presse mein Gesicht an ihrer Schulter und lasse die nächsten Tränen laufen. Mein Hals ist trocken, meine Brust brennt. Ich will einfach nur, dass das alles ein Ende hat. Ich will sie wieder zurück und ihre Arme um mich spüren. Sie an mich drücken und ihre Hand in meine nehmen. Mit ihr durch den Wald rennen. Ihr glockenhelles Lachen hören und ihren Duft einatmen, der wie süßer Honig schmeckt. In ihre olivgrünen Augen schauen und wissen, dass sie bei mir ist. Egal wann. Egal wo. Und egal wie.
Aber sie ist nicht mehr da. Einfach weg. Ihr Verlust wird immer klarer. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen ist wie weggeblasen, denn der Schmerz raubt sie mir. Immer stärker zieht es in meiner Brust und plötzlich ist es so unerträglich, dass ich anfange leise zu schreien. Ich kralle mich an den Rücken meiner Mutter und ich spüre wie sie selbst von Schluchzern geschüttelt wird. Trotzdem streicht sie durch meine Haare, küsst mich auf den Kopf und spricht leise mit mir, um mich zu beruhigen.
Doch ich werde nicht leiser, sondern immer lauter. Ich schreie, weine, schluchze. Alles schmerzt so fürchterlich in mir. Ein Schmerz, den ich seit Jahren versucht habe zu verdrängen und jetzt schlägt er mir volle Kanne ins Gesicht.
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