𝟛 | 𝕃𝕚𝕟𝕖𝕥
"Ist alles in Ordnung, Miss Green?"
Vor Schreck schießt mein Kopf in die Höhe und trifft das Gesicht von Mrs. Lason. Ihre nussbraunen Haare gehen ihr in Locken bis zur Schulter. Kleine Falten in ihrem Gesicht und vereinzelte graue Strähnen im Haar zeigen, dass sie schon viele Jahre hinter sich hat. Ihr Lächeln ist hell, dennoch legt sich ein besorgter Ausdruck auf ihrem Gesicht, der sie wie eine Mutter aussehen lässt. "Ja", gebe ich nach gefühlten Ewigkeiten mit heiserer Stimme zurück. Ihre hellgrünen Augen stechen förmlich aus ihrem Gesicht und ich sehe wie sich kleine Sorgenfalten auf der Stirn bilden.
"Warum dann die Tränen?"
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Erst jetzt wird mir die Unannehmlichkeit der Situation klar. Ich kann meiner Lehrerin oder sonst wen nicht von meinen Problemen zu Hause erzählen. Geschweige davon wie es mir Tag zu Tag ergeht und mit all den Gefühlen klarzukommen, die wie ein tobender Sturm in mir beben. Es war schon schlimm genug, dass ganz Wellington von dem Verschwinden meiner Schwester Bescheid wusste und es immer noch vielen bewusst ist. Es war schrecklich für mich. Vor allem weil ich noch ein Kind war und gerade mal mit acht Jahren ging es bei mir bergab. Erneut liefen mit Tränen über die Wangen und ich wische sie mir schnell mit den Handrücken weg. Ich höre wie Mrs. Lason leise seufzt, woraufhin ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sie richte.
"Brauchen sie ein paar Minuten, bevor sie in meinem Unterricht erscheinen?" Perplex starre ich sie an.
"Erlauben sie mir das wirklich? Sonst...sonst...Ich...äh..." ich stoppe und wische mir erneut über die Augen, um meine Tränen endgültig ein Ende zu machen.
"Gehen Sie ruhig. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen."
"Danke, Mrs. Lason." gebe ich nun von mir. Sie nickt lächelnd und verschwindet durch die Tür. Ich atme tief ein und aus, bevor ich ein Stockwerk nach unten gehe, um mich auf den Mädchen Toiletten zu sammeln.
Das erste worauf ich auf der Toilette treffe, ist das Gesicht eines Mädchens, welche mich aus trüben Augen entgegenstarrt. Ihre sonst so glückliche und unbekümmerte Miene wirkt düster und erfroren. Die Haut unter ihren braunen Augen ist rot angeschwollen, so als ob sie eine fette Faust ins Gesicht gekriegt hätte. Die Gesichtszüge waren früher mal weich und ihr Ansehen angenehm. Jetzt ist davon nicht mehr viel übrig. Denn es wirkt alles auf einmal hart und kantig, dennoch sind die Rundungen im Gesicht nicht verkümmert. Doch, dass was einem am meisten zurück schreckt, sind die leeren Augen. Sie wirken wie ein Loch. Erbleicht. Augen, die einem einen Schauer über den Rücken jagen. Das Mädchen versucht zu Lächeln, um das Unheimliche auf ihrem Gesicht zu vertreiben. Doch das Lächeln wirkt nicht freundlich, schon gar nicht zaghaft und süß. Es ist wie eine lächerliche Lüge. Das Mädchen seufzt, bewusst über ihren Anblick.
Ich schüttele den Kopf und wende den Blick von meinem Spiegelbild ab. Mit zitternden Händen drehe ich den Wasserhahn auf, um mir mein Gesicht anschließend gründlich zu waschen. Oder eher meine angeschwollene Haut zu vertreiben. Du meinst wohl dein ganzes Aussehen, flüstert der Pessimist in mir und ich halte in meiner Bewegung inne, als ich mir gerade noch eine Hand voll Wasser geschöpft habe, um sie auf mein Gesicht zu klatschen. Das stimmt überhaupt nicht, versuche ich klar zu stellen, glaube aber meinen Worten nicht mal selbst. Ich spüre wie das Wasser auf meinen Händen immer weniger wird und höre das leise 'platsch', wenn ein Tropfen in den Waschbecken landet. Sieh dich doch mal selbst an, Linet. Als ob du jemals mit Wasser etwas bewirken könntest. Dein Verlust hat dir dein Gesicht genommen und das, was dich ausgemacht hat. Du bist ein Schatten deiner selbst und allein deine Schwester ist daran Schuld. Nur sie. Allein.
Mein Körper zittert und ich klammere mich mit meinen Händen am Waschbecken fest, um nicht wie ein lebloser Sack zu Boden zu fallen.
"Das...das, das ist nicht wahr. D-Du...du lügst!"
Nur ein Wispern verlässt meinen Mund, weil mir die Wahrheit der Worte bewusst ist, doch kann ich sie nach all den Jahren immer noch nicht fassen. Warum musstest du nur gehen, Ivelle? Was hast du getan?
Ein lauter Schluchzer verlässt meine Kehle und mein Griff am Waschbecken wird schwächer. Ich falle auf die Knie, so schnell, dass ich es gar nicht wirklich mitbekam. Meine Hände pressen sich wie von selbst auf meine Augen, um die kommenden Tränen zu verdrängen, doch sie kamen einfach. Ohne Ende. Warum musste es nur so kommen? Warum musste mein ach so schlaues Gewissen mir noch mehr zusetzen? Warum nur....warum nur bist du nicht mehr hier, Ivelle? Ich...ich vermisse dich. Ich will, dich wieder zurück.
"Ich will wieder bei dir sein, mich in deinen Armen wiederfinden."
Ein Flüstern der Worte, kaum hörbar, aber dennoch klangen diese viel zu laut in meinen Ohren. So laut. Sie wird nicht zurückkommen und auch nicht an deiner Seite stehen. Das weißt du. Und du weißt auch, dass sie an all dem Leid schuld ist. Ihre Geheimnisse haben sich selbst und dich gleich mit dazu vernichtet. Es ist alles ihre Schuld. Ivelle's Schuld.
"Hör auf!"
Meine laute Stimme schallt durch den Raum und meine Hände bewegen sich ganz automatisch auf meine Ohren.
"Verschwinde. Lass mich in Ruhe!"
Die Stimme wollte einfach nicht aufhören, immer wiederholt sie all die Worte, gestaltet die Wahrheit schlimmer und spielt mit mir. Spielt schrecklich mit mir. "Bitte..." ich schluchze. Laut. Sehr laut.
Plötzlich umklammert etwas meine Schulter. Sanft, dennoch kräftig wie ein Versprechen. "Miss Green?"
Eine Stimme, eine weibliche. Sie war so freundlich...sorgenvoll und...
"Redet mit mir, Miss Green."
Mrs. Lason.
Ich kneife meine Augen zu. Reagiere nicht. Will einfach nur dass dieser Albtraum ein Ende nimmt. Doch als ich meine Augen öffne sitzt Mrs. Lason plötzlich vor mir und nimmt sanft meine verschwitzten und immer noch zitternden Hände in die Ihren. Beruhigend streicht sie über meine nassen Hände und schaut mir in die Augen. Ich schlucke und entziehe ihr langsam diese. Die Situation ist mir peinlich. Zu peinlich, als dass ich ihre Fürsorge verdient hätte.
"Gehen sie nach Hause. Ruhen sie sich aus, Miss Green."
Ihre Stimme ist bestimmend und lässt keinen Widerspruch durch. Kaum merklich nicke ich und stemme meine zitternden Hände auf den kalten Boden, doch ich bewege mich kein Stück. Wortlos hilft mir Mrs. Lason und legt meinen Arm um ihren Hals, worauf sie ihren Arm um meine Hüfte legt. Dann geht sie Stück für Stück mit mir und begleitet mich bis nach Hause.
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