18 ☆Einbruch
☆Dorothea☆
Ich mustere das Haus vor mir. Sie haben das Küchenfenster wirklich offengelassen. Ich steige durch das Blumenbeet davor, möglichst ohne etwas zu zertrampeln, aber das fällt mir im schwachen Schein der Strassenlaternen schwer. Leise öffne ich das Fenster weiter und suche halt für meinen Fuss, um hochzukommen. Ich kralle mich in den Fensterrahmen und - Schritte! Es kommt jemand! Ich lasse mich fallen. Durch die Stauden hindurch spähe ich auf die Strasse. Jemand spaziert sie entlang, ein Hund bellt. Seine Nase führt ihn zum offenen Gartentor. Ich halte die Luft an. „Lass doch mal die Igel in Ruhe", murmelt der Besitzer und zieht ihn weg. Was tut der mitten in der Nacht hier?
Das habe ich anders geplant, es war fahrlässig anzunehmen, dass hier niemand vorbeiläuft. So kann ich nicht durch dieses Fenster rein. Das sieht man von der Strasse zu gut. Ich schleiche um die Hausecke hinter einen Busch.
Warum habe ich nicht damit gerechnet? Frustriert beisse ich mir auf die Lippe. Heute Abend habe ich zum Essen ein Bier getrunken, damit mich die schimpfende Stimme meiner Grossmutter nicht verfolgt. Sie wäre sich sicher, dass ich dafür in die Hölle komme, aber ich tue es um meiner Familie zu helfen. Ruhig Blut! Die Vor- und Nachteile habe ich schon mit mir selbst ausdiskutiert. Ich hatte am Nachmittag das offene Küchenfenster entdeckt und es von aussen leicht zugezogen, sodass nicht auffällt, dass es eigentlich offen ist. Und dachte, es sei der perfekte Plan. Jetzt heisst es, schnell zu improvisieren. Ich rufe mir die Eigenheiten meines Elternhauses ins Gedächtnis, in der Hoffnung, es sind noch dieselben. Die Kellertür! Wir hatten den Schlüssel daneben versteckt! Motiviert springe ich auf, doch... er ist 100 Jahre später sicher nicht mehr dort.
Ich kralle meine Fingernägel in die Handflächen, um die Zweifel zu verdrängen. Dabei stechen mir die verschlungenen Muster ins Auge, die Klea mir aufgemalt hat. Das war vor dem Streit. Sie wollte mich überzeugen, hierzubleiben, hat es aber unterdrückt, um mich nicht zu verärgern. Und eigentlich hat sie trotzdem geholfen. Was sie jetzt wohl macht? Was sie über mein Vorhaben denken würde?
Klea ist mir ans Herz gewachsen. Obwohl sie 5 Jahre jünger ist, versteht sie mich besser, als meine Cousine Maria, mit der ich fast alles teilte. Klea verurteilt mich nicht für meine Abenteuerlust, sondern versteht sie, ohne sie zu teilen. Hier, 2021 könnte ich Abenteuer erleben- nein! Ich werde meine Familie nicht im Stich lassen! Die Zeitreise ist eine Prüfung.
Entschieden schleiche ich zur Kellertür und taste unter der überhängenden Stufe nach dem Schlüssel. Er glänzt im Schein einer Laterne silbrig. Dass er am selben Ort versteckt ist, ist ein Zeichen! Ich sollte in mein Zimmer gehen und so zurückreisen. Ich schiebe die Tür auf und... sie quietscht nicht! Sie müssen irgendwas gemacht haben.
Ich setze einen Fuss vor den Anderen, achte besonders auf die knarrenden Treppenstufen und erstarre. Ein rasselnder Atem dröhnt in meinen Ohren. Perikulös schaue ich durch einen Türspalt auf die Person. Erleichterung durchflutet mich, als ich einen alten Mann sehe, der im Schlaf so atmet. Mein Herz stottert einen Augenblick, in dem ich in ihm jemanden zu sehen glaube, den ich kenne, dann schüttle ich das Gefühl ab. Es bringt mich auf einen Gedanken, den ich in den Monaten hier nie gedacht habe. Die Menschen heute leben viel länger, was wenn jemand lebt, der meine Zeit kennt, ja den ich sogar gekannt habe?! Ich beisse mir schmerzhaft auf die Lippe und konzentriere mich auf mein Vorhaben.
Im ersten Stock steuere ich meine Zimmertür an. Ich schlüpfe hinein und schliesse sie wieder, falls jemand über den Gang läuft. Es sieht erstaunlich gleich aus, wie vor hundert Jahren. Das Zimmer ist langschmal, gegenüber der Tür, an der kurzen Seite, ist mein Fenster, welches offen steht. Bei diesen Temperaturen?! Die Vorhänge sind auf, was es mir, zusammen mit einem Lichtchen neben dem Bett, ermöglicht, die Einrichtung zu sehen. Meine Blümchentapete ist mit einer farbigen Wand ersetzt worden. Ich schleiche zum Schreibtisch gegenüber dem Bett, welcher neben meinen alten Einbauschränken steht. Bei diesem Anblick macht sich ein hoffnungsfrohes Grinsen auf meinen Lippen breit. Je näher die Umgebung meinem Zimmer kommt, je eher wird das Zurückreisen möglich.
Ich stosse gegen etwas Hartes und kann im letzten Moment Schmerzenslaute unterdrücken. „Mist", rutscht mir trotzdem über die Lippen. Ein kleiner Körper dreht sich unter der Decke. Verschreckt lausche ich seinem Murmeln, dann senkt sich wieder die Stille über uns. Es muss ein Kinderzimmer sein, auf dem Boden sind Spielzeuge. Ich setze mich an den Schreibtisch und gönne mir ein paar tiefe Atemzüge. Das Kind ist der Junge, der nach seiner Mutter rief, als ich am ersten Januar an die Tür klopfte.
Ich hole einige Gegenstände aus der Tasche meines Mantels und streiche Falten aus meinem Kleid. Es ist exakt das, was ich bei der Reise hierhin trug. In dem Versuch, so nah wie möglich an die Umstände 1920 heranzukommen, bin ich hier eingebrochen. Ich war zwar bei der Zeitreise in der Schule, aber diese wurde umgebaut, im Gegensatz zu meinem Haus. Auf dem Schreibtisch liegt nun ein belgischer Franken. Ich erinnere mich daran, wie ich die Münze als Wechselgeld bekommen hatte, und als Andenken an die Reise behielt.
„Dorothea, holst du uns mit deinem Bruder bitte Waffeln von dem Stand." Meine Mutter reicht mir und Wilhelm Geld und diskutiert dann ernst mit Vater. Er musste sich nach dem Springreittournier ausserhalb des Stadions auf einer Bank niederlassen. Seit einigen Wochen hat er ein Herzleiden, aber er wollte sich nicht davon abbringen lassen, mit uns nach Antwerpen zu den Olympischen Spielen zu reisen. Mutter will nicht, dass wir davon etwas mitbekommen.
Wilhelm zupft an meinem Rock. „Was ist mit Vater? Hat er immer noch die Erkältung, so lange?" Ich streiche ihm über die blonden Haare. „Das ist nur wegen der ganzen Aufregung. Wir holen ihm etwas Süsses, dann wird er sich freuen." Er zögert, aber beim Anblick der Waffeln, grinst er. Wir bestellen und beim Bezahlen bekomme ich eine ulkig aussehende Münze zurück.
Der Standinhaber scheucht einen Neger herum, die belgische Spezialität zu backen. Durch den Stress stolpert er und lässt sein Werkzeug fallen, was den Antwerper rot anlaufen lässt. Er schimpft auf Flämisch drauf los, und ich bin froh, dass wir ihn nicht verstehen. In mir wallt Mitleid für den Betroffenen auf. „Entschuldigen Sie bitte Herr, wären Sie so freundlich, Ihren Ton in Gegenwart eines Kindes zu mässigen?" Wilhelm betrachtet die Szene stumm aus grossen Augen. Der Mann verzieht missmutig das Gesicht, verschont aber unsere Ohren. Noch während wir das duftende Gebäck an uns nehmen, greift der Mann zum Stock.
In meinem Hals bildet sich ein Kloss, so gern würde ich ihm helfen. Aber es geht nicht. Beim Zurückgehen kommt mir ein Artikel einer liberalen Zeitung in den Sinn, den ich gelesen habe. Es ging um eine Pionierin, die sich in Afrika etwas aufgebaut hat, und dort versucht den Menschen zu helfen. Ich träume schon lange davon, die weite Welt zu sehen. Was wenn- was wenn ich in Belgisch-Kongo Lehrerin sein könnte? Ich beherrsche Französisch und was für ein Abenteuer das wäre!
Mein kleiner Bruder hüpft voraus zur Bank. „Vater, dort hat jemand gearbeitet, seine Haut war wie dunkle Schokolade!"
„Hoffentlich schmecken die Waffeln trotzdem", lacht Vater.
Mir fällt aus der Perspektive der Zukunft erst auf, wie rassistisch es dort war. Mein Herz schmerzt wehmütig beim Gedanken an meinen Bruder und lenkt mich somit ab. Er ist - war - nur wenig jünger als dieser Junge, aber mit einem völlig anderen Leben. Jetzt reise ich zurück und helfe ihm! Ich habe ein geschnitztes Holzpferd dabei, das muss ich Wilhelm zurückbringen.
Ich verstaue alles in meine Manteltaschen exakt, wie bei der Hinreise, und schliesse meine Augen.
Am Finger trage ich meinen Verlobungsring von letztem, nein dem Frühling 1920. Josef und ich hatten für unsere Familien eine Feier organisiert. Die Verlobung war keine Überraschung, schon seit dem Tod meines Bruders Friedrich hat Vater darauf gewartet, dass ich mich vermähle. Und mit Josef hat es gepasst. Er ist attraktiv, und... und er kann gut schiessen! Wir verstehen uns im grossen Ganzen recht gut. Bei ihm habe ich das Gefühl nach unserer Vermählung weiter studieren und arbeiten zu dürfen. Wir hatten darüber gesprochen und er war, denk ich, einverstanden. - Ja, das war er mit Sicherheit! 2021 könnte ich aber... Nein! Gott hat mich 1897 in die Welt gesetzt, das ist meine Zeit!
Ich lenke meine Gedanken zu meiner Cousine Maria, und wie wir als Kinder gespielt haben. Meistens waren wir zuhause mit unseren Puppen, aber manchmal durften wir in Begleitung von Friedrich im Wald spielen. Das war immer am lustigsten, wir haben Hütten gebaut und Räuber gespielt. Meine Mutter hat fürchterlich getobt, wenn ich schmutzig nachhause kam, und sich geärgert, dass ich mich benehme wie ein Junge. Als Kind war mir das egal. Maria war anders, sie hat darauf geachtet, sauber zu bleiben und hat nie mit Friedrich und mir Räuber gespielt.
Ich höre Rascheln von Stoff. Das muss... Das ist sicher Mutter, die meine Vorhänge zur Seite schiebt, weil ich verschlafen habe! Ich reisse die Augen auf und fahre herum, aber bei den Fenstern steht niemand. Und- es ist dunkel. Ein durchdringendes Kreischen lässt mein Herz stocken. Fallen jetzt die Bomben in Zürich?! Bevor ich mich in den Keller retten kann, bemerke ich zwei braune durchdringende Augen. Eine gespenstische Stille hat sich über uns gelegt und erst in dieser bemerke ich, dass ich mich im Zimmer des Jungen befinde. 2021! Meine Beine reagieren schneller, als mein Kopf und gehen zum offenen Fenster. Im Haus höre ich Schritte. Seine Eltern!
Ich blicke in den Garten hinunter. Drei Meter. „Bitte sag deinen Eltern, es war ein Vogel", flehe ich den Burschen an. „Ich wollte nur mein altes Zimmer nochmal sehen. Du musst wissen, als Kind habe ich hier gelebt. Lebwohl!" Ich schaue in seine Augen. Bevor seine Eltern die Tür öffnen, springe ich aus dem Fenster.
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