16 ☆Gefühlskarussell
☆Dorothea☆
„Hey Dorothea. Ähh es tut mir leid, dass du durch den Stromschlag nicht zurückreisen konntest", behauptet Klea mit einem zögernden Lächeln. Sie scheint erleichtert zu sein, dass ich nach vorletzter Woche wieder komme.
„Ja, mir auch." Ich lasse mich auf den Stuhl neben ihr fallen und lächle gezwungen. „Aber ich bin zuversichtlich, bald klappt es." Während der Magister die Technik verflucht, zeigt mir Klea das Titelbild eines Films auf ihrem leuchtenden Rechteck. Prägnante Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
„Ich habe eine Doku rausgesucht, um dir den weiteren Verlauf vom Jahrhundert zu zeigen, das du verpasst hast. Im Unterricht behandeln wir ja bisher nur das, was du schon kennst. Hast du Zeit, sie dir nachher an zu schauen?" Seufzend stimme ich zu. Klea hat mir immens geholfen und sie meint es nur gut. Auch wenn sie mich nicht versteht. Ich will nicht wissen, was passiert, wenn ich mein Leben 1920 weiterlebe.
Nachdem Unterricht setzen wir uns mit ihrem Laptop in ein leeres Klassenzimmer. Klea hat ihre Füsse auf dem Tisch hochgelegt und ich unterdrücke es, sie Masszuregeln. Es fühlt sich eigentümlich an, eine Wochenschau über ein ganzes Jahrhundert zu schauen, wovon ich nur zwanzig Jahre erlebt habe. Sie erwähnen Revolutionen, eine große Depression und Nationalsozialisten, nach dem sie mit dem Krieg durch sind. Am seltsamsten finde ich, dass sie ihn den 'Ersten Weltkrieg' nennen. Mein Kopf ist ein Karussell, das ich immer schneller dreht, bis es wegen einem Begriff zu einem abrupten Halt kommt und sich überschlägt. Ein zweiter Weltkrieg?! Ich starre versteinert den Bildschirm an. Sie zählen auf, was dort alles schrekliches passiert ist, und mir wird schlecht.
Ich springe auf. Energisch drücke ich auf dem leuchtenden Laptop-Viereck herum, bis der Film gestoppt wird. „Warum zeigst du mir das Klea? Ich muss nachhause, dieser Krieg bedeutet umso mehr, dass sie mich brauchen!"
Sie schüttelt den Kopf und erhebt sich ebenfalls. „Tut es nicht, die Schweiz ist neutral. Aber es war trotzdem scheisse! 2021 bist du frei, sicher und kannst ein besseres Leben führen!"
Ihre Argumentation ist so unsinnig, sie widerspricht sich selbst. „Nein! Früher war ich nicht frei, aber hier ist es nicht besser, wenn du mich zum Bleiben zwingst!" Trotz meiner Worte, weiss ich, dass ich diese Zeit und Klea zeitlebens vermissen werde.
„Das will ich nicht, es ist nur-" Mein enttäuschtes Kopfschütteln, unterbricht Kleas Stammeln von Ausreden.
„Ich dachte, du möchtest mir helfen ..." Ich beisse die Zähne zusammen und wende mich von ihr ab. Etwas in mir will das Gegenteil, nämlich sie, 2021 und die Freiheit hier umarmen. Doch ich weiss, dass es nicht geht. Egoistische Menschen leben weder lange noch glücklich.
Klea atmet tief durch und stellt sich mit einem bemühten Lächeln vor mich. „Dorothea, es ist bewundernswert, wie du dich um deine Familie sorgst. Das will ich dir nicht ausreden. Aber du hast genauso ein schönes Leben verdient. Deshalb musst du-"
Mein Gesicht wird steinern. „Kein aber! Ich muss gar nichts! Wann kapierst du es denn endlich?!" Sie schnieft und ich seufze. „Das war nicht so gemeint. Ich will zurück, das hat nichts mit dir zu tun. Ich mag es hier schon. Klea, ich bin froh, dich kennengelernt zu haben. Trotzdem ist 1920 mein Zuhause, da ist meine Familie. Entweder du hilfst mir oder du lässt es bleiben." Ich gebe mir Mühe, meinen entschiedenen Ton weich zu halten, aber sie übergeht mich einfach.
„Du kannst mir doch nicht vorwerfen, dir nicht zu helfen! Ich habe dir mit dem Stromschlag geholfen, das sogar, obwohl es sau gefährlich ist."
„Dann hör auch auf, ständig versuchen, mich zum Hierbleiben zu bewegen!"
Klea blinzelt sich Tränen aus den Augen. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben, rede ich mir ein. Es war ihre Entscheidung, sich mit mir anzufreunden. „Das kann ich nicht! Siehst du nicht ein, wie viel besser dein Leben hier ist? Du bist mündig, kannst Arbeiten, reisen: ja die ganze Welt sehen!" Das weiss ich doch! Aber meine Familie... Hat Klea denn keine Familie, um die sie sich sorgt?
Vor lauter Frustration brechen alle Sorgen, die ich versucht habe zu begraben, aus mir heraus. „Hör auf! Du verstehst gar nicht, wie das ist. Ich hab meine ganze Familie alleingelassen! Mein Bruder ist an der Spanischen Grippe gestorben und ich müsste seine Aufgaben übernehmen. Wegen meines Verschwindens lastet alles auf meinen kleinen Bruder, einem Kind! Und seitdem der Krieg Vaters Geschäft zerschmettert hat, kommt er nicht wieder auf die Füsse. Seine Gesundheit schwächelt, Mutter versucht, seine Geschäfte zu übernehmen, aber es geht nicht. Meine Cousine ist in ein tiefes Loch gestürzt, nachdem sie vielleicht überfallen wurde. Sie übergibt sich und ist niedergeschlagen." Ein verzweifeltes Seufzen verlässt meine Lippen, dann packt mich die Wut wieder. „Meine Familie braucht mich. Ich bin nicht so egoistisch wie alle in dieser Zeit! Ausserdem bin ich verlobt!"
Klea ist von meinem Ausbruch zurückgeschreckt, aber sie strafft die Schultern. „Siehst du, heute ist das kein Problem mehr, deine Mutter könnte hier arbeiten und dein Vater kann geheilt werden."
Mir rauchen die Ohren vor Zorn und mir fällt das Atmen schwer, so missverstanden fühle ich mich. „Ich lebe aber nicht in deinem geliebten HEUTE!", brülle ich zurück. „Das Heim meiner Familie und mir ist 1920!" Ich schlage die Tür zu, bleibe stehen und versuche verzweifelt, den Grimm wegzuatmen. So darf mich keiner sehen.
Ich höre Klea stockend murmeln: „Ich verstehe dich nicht. Ich dachte, du bist meine Freundin, Dorothea. Ich hätte das mit dem Stromschlag nie vorschlagen sollen." Aufgebracht stürme ich davon.
~
Es war nicht meine Absicht, das Kapitel genau jetzt hochzuladen, wo ein dritter Weltkrieg sich näher anfült als jeh. Jetzt denke ich irgendwie darüber nach, ob die Geschichte in 2022 spielen sollte, nur damit ich das einbauen kann...
Eigentlich sollte auch Corona ein Thema sein, aber dann dachte ich, darüber wird schon genug gesprochen. Was haltet ihr von solchen aktuellen Themen in Büchern?
~ Linea
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