15 | Zweifel
Es war ein verträumter Herbsttag, an dem Caden sterben würde. Die goldenen Blätter der Bäume tanzten im schummrigen Licht der aufgehenden Sonne, während Ravi auf seinem Balkon stand und aus halb geschlossenen Augen Mittelstand beobachtete.
Schon jetzt waren viele Menschen auf den Straßen, rannten herum wie Ameisen und brüllten lauter als jedes andere Tier. All diese Menschen würden ihn verehren, dass hatte Adrian ihm versprochen. All diese Menschen würden ihm zujubeln, ihn mit Rosen bewerfen, ihn anlächeln.
Dafür, dass er ein Monster tötete, dass kein Monster war.
»Ich vermisse wirklich die Zeit, in der ich noch deine Gedanken lesen konnte. Da musste ich dich noch nicht fragen, über was du gerade so angestrengt nachdenkst«, schmunzelte Caden, der direkt neben ihm am Geländer lehnte und lächelnd den Himmel betrachtete.
In den letzten Wochen hatte er sich jeden Tag, den sie zusammen verbracht hatten, verändert. Seine davor bleiche Haut hatte mittlerweile eine gesunden, leicht gebräunten Farbton, und seine davor so leeren Augen glühten jetzt lebensfroh.
Am ersten Tag war er wie die verblassende Schönheit des Mondes gewesen, jetzt strahlte er heller als die Sonne selbst.
»Pah, gerade sind meine Gedanken nicht wirklich lesenswert. Ich habe nur die Menschen da unten mit Ameisen verglichen.«
»Nicht sehr lesenswert?! Das ist doch ein sehr guter Gedankengang, finde ich zumindest.«
Auch Ravi hatte sich in den letzten Wochen verändert, doch bei ihm merkte es niemand. Die Ringe unter seinen Augen waren dunkler geworden, seine Haare unordentlicher, sein Licht matter. Niemand wusste, warum er seit dieser einen Ballnacht vor vier Wochen kaum noch schlafen konnte. Selbst er konnte sich diese Frage kaum beantworten, dabei war die Antwort doch offensichtlich.
Seit Caden sich damals den ganzen Vormittag um ihn gekümmert hatte, wusste er, dass Yinan recht gehabt hatte. Caden war kein Monster, er war ein Opfer. Von was wusste Ravi noch nicht, doch es hatte sicher mit seiner Berührungsangst zu tun.
Trotzdem hatte er nicht einmal ein Wort des Zweifels an Adrians Plan geäußert. Er konnte einfach nicht. Jedes Mal blitzen Bilder seiner toten Schwester vor ihm auf. Er hatte ihr versprochen, genug Macht zu erlangen, um niemals wieder jemanden sterben zu sehen, und Cadens Tod war der Schlüssel zu genau dieser Macht. Es wäre Verrat an seiner Familie, wenn er Caden nicht tötete.
Doch allein der Gedanken daran, wie er seinem Seelenverwandte eine Klinge an den Hals hielt, ihm klar machte, dass er all die Zeit gelogen hatte, ihm klarmachte, dass er ihn immer noch für ein Monster hielt, ließ irgendetwas tief in ihm aufschreien.
Er wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war.
Er wusste nicht mehr, was gelogen und was real war.
»Caden, gehst du heute Abend zum Seelenzug?«, fragte er mit tonloser Stimme. Der Prinz lächelte nur und nickte.
»Natürlich. Zusammen mit dir. Du hast schließlich Tickets, oder?«
Er erinnerte sich noch daran, wie er Yinan gefragt hatte, ob Caden von Adrians Plan wusste. Damals hatte er bejaht, doch mittlerweile war sich Ravi ziemlich sicher, dass er gelogen hatte. In den letzten Wochen hatte Caden ihn wie einen richtigen Seelenverwandten behandelt, und nicht wie jemand, der einen Anschlag plante.
Diese Sicherheit bekam jetzt Risse, als er Cadens selbstsicheres Lächeln sah. Kurz entglitten ihm seine Gesichtszüge. Doch sein Gegenüber lachte nur und zog zwei goldene Karten aus einer Tasche.
»Du hast sie auf deinem Schreibtisch liegen lassen, Idiot. Ich konnte sie gar nicht übersehen.«
Sein Lachen war so herzlich und fröhlich, dass Ravi sich zurückhalten musste, um ihm nicht ins Gesicht zu schreien, dass er es jemand anderem schenken sollte. Er selbst hatte es nicht verdient.
»... Oh. Das wars wohl mit der Überraschung«, murmelte er, ließ ein wenig Enttäuschung in seiner Stimme mitschwingen. Nicht nur sein Aussehen hatte sich in den letzten Wochen verändert, auch seine Talente. Er schaffte er nicht mehr, sich zum Lernen zu motivieren, und wenn er zusammen mit Caden alte Sprachen übte, konnte er sich nichts merken.
Doch Lügen, Schauspielern und Fälschen, dass konnte er jetzt so gut wie kein Anderer. Anfangs war es ihm schwer gefallen und Caden hatte ihn manchmal schief angeschaut, doch das war jetzt Geschichte. Er konnte Lachen, wenn er eigentlich weinen wollte, und alle glaubten ihm.
Und Caden war mit genau diesem Talent so unfassbar einfach zu manipulieren. Als er sich mit einem schiefen Lächeln entschuldigte und versprach, dass er sich trotzdem sehr freute, war es, als ob Ravi die ganze Szene schon zum zweiten Mal sah.
Caden war einfach zu gut für ihn.
»Treffen wir uns heute Abend hier im Zimmer? Ich muss noch etwas erledigen«, schlug er vor, und sein Seelenverwandter nickte sofort gehorsam. Sie hatten in letzter Zeit fast alles zusammen gemacht, das ganze Schloss dachte, sie wären ein Paar. Trotzdem hinterfragte Caden ihn nicht.
Auch, als er davon erzählte, dass Adrian ihn eingeladen hatte, zeigte er kein bisschen Misstrauen, und selbst als er gegen Mittag vom Kronprinzen persönlich abgeholt wurde, zweifelte er nicht eine Sekunde. Verzweiflung drehte Ravi den Magen um.
Wieso konnte Caden ihn nicht ein bisschen weniger mögen und ein bisschen mehr hassen?
»Wie laufen die Vorbereitungen, Ravi?«, fragte Adrian, als sie kurz darauf im Schlossgarten im Kreis liefen und den Kindern dabei zusahen, wie sie von Ast zu Ast sprangen. Ihr Geschrei würde verhindern, dass ihr Gespräch von irgendjemand Ungeladenem gehört wurde.
»Gut. Er vertraut mir. Wir treffen und heute Abend und gehen dann zum Seelenzug.«
»Das sind gute Nachrichten. Meine Freunde sind auch bereit. Sie schärfen seit einer Woche ihre Waffen und können es kaum noch erwarten.«
Ravi hasst es, wie Adrian von Caden redet, als ob er nur ein Tier wäre, dass man jagen musste.
»Wo genau soll ich ihn hinbringen?«, fragte er trotzdem. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet. Sein Bauch fühlte sich an, als ob ein wildes Tier darin mit einer Fliege kämpfte.
»Zur Goldbrücke. Sie ist aktuell gesperrt, wegen einem Unfall. Also perfekt für unser Unterfangen.«
Er schwieg. Adrian legte die Stirn in Falten.
»Ravi, kann ich dir eine Frage stellen?«
»Natürlich, mein Prinz. Sie müssen nicht fragen. Ich bin im Rang weit unter Ihnen.«
»Glaubst du immer noch, dass Caden ein Monster ist?«
Die Luft schien plötzlich kälter zu werden, als Ravi abrupt stehen blieb. Ein Schweißtropfen lief seinen Nacken herunter. Seine Arme hatte er hinter dem Rücken verschränkt, sodass Adrian nicht sah, dass seine Hände zitterten.
»Natürlich.«
»Sag es.«
»Wie bitte?«
»Sag mir, dass Caden ein Monster ist.«
Jegliche Freundlichkeit war aus Adrians Augen gewichen und offenbarte ein kaltes Herz, dass zu allem bereit war. Auf einmal vergaß Ravi alles, was er über Lügen gelernt hatte.
»Caden ist ein Monster«, würgte er hervor.
»Ravi ... Ich hoffe, du wirst keine falsche Entscheidung treffen«, meinte Adrian lächelnd.
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