14 | lächelnde Gesichter
Ungefähr eine Stunde später hatte Ravi längst vergessen, dass er nicht in Unterstadt war. Die vielen, bunt Lichter um ihn herum waren zu einem einzelnen Wirbel verschwommen. Anfangs hatte er die Symbole und Muster auf den Wandteppichen noch erkannt, jetzt sah er nur noch Rot, Gold und das dunkle Braun der Wand.
Es war ein lustiges Gefühl, zu tanzen, aber den Boden nicht unter den Füßen zu fühlen. Wer gegenüber von ihm stand und wie lange sie schon über die Tanzfläche wirbelten, wusste Ravi nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Er lachte, als sie gegen ein anderes Paar stießen und er beinah auf dem Boden gelandet wäre. Er lachte, als sein Partner sich schließlich einmal vor ihm verbeugte. Mit wackeligen Beinen tat er das selbe, verlor jedoch die Balance.
Der Boden war angenehm kühl, so angenehm, dass Ravi die Schmerzen in seiner Wange gar nicht bemerkte. Seufzend schmiegte er sich an die Kälte. Wieso war es in diesem Saal so warm? Wieso waren seine Klamotten so warm?
»Oh, geht es Ihnen gut, Mister Sundew? Brauchen sie Hilfe?«, drang eine Stimme in sein Bewusstsein. Langsam hob er den Kopf. Eine junge Frau lächelte ihn an und hielt ihm die Hand hin. Wie nett. Früher hatte ihm nie jemand geholfen, wenn er auf dem Boden gelandet war.
Aber jetzt war er ja ein Prinz, und niemand wagte es mehr, ihm wehzutun. Niemand würde seinen Kopf in den Matsch drücken, niemand würde auf ihn eintreten. Er lachte.
»Mir geht es gut. Sehr gut sogar. Es ist schön hier«, brabbelte er vor sich hin und nahm schließlich die Hand der Adeligen. Mit taumelnden Schritten kam er wieder auf die Beine. Einige der Menschen in seiner Umgebung starrten auffällig zu ihm rüber und tuschelten hinter hervorgehaltener Hand, doch erstaunlicherweise interessierte ihn das nicht weiter. Im Gegenteil, es war doch gut, dass sie ihm Aufmerksamkeit schenkten. Die ganze Stadt sollte ihn so anschauen!
»Warum sind Sie eigentlich ans Schloss gekommen, Mister Sundew? Es muss sicher ein wichtiger Grund sein, wenn sie so hart dafür gearbeitet haben!«, fragte irgendjemand, doch Ravi konnte nicht zuordnen, wer. Vor ihm standen so viele Menschen, alle lächelten, alle waren glücklich. Die junge Lady, die ihm geholfen hatte, gab es dreimal. Komisch. Aber eigentlich gut, sie war schließlich sehr nett gewesen.
Bevor er antwortete, hob er sein Glas noch einmal an die Lippen und nahm einen Schluck. Seine Kehle brannte, doch auf einen angenehme Weise. Er lachte noch einmal. »Der Grund? Ohhh, das ist eine einfache Frage! Ich hab es für meine Schwester getan. Meine Schwester, die ist nämlich gestorben, müsst ihr wissen, nur wegen ... nur wegen den blöden Soldaten!«
Neugierige Gesichter lächelte ihn an. Als er taumelte, stütze ihn jemand. »Das muss schrecklich gewesen sein. Aber, Mister Ravi, heißt das, Sie sind hier, um Rache zu nehmen?«
Rache? Er brauchte etwas, um zu verstehen. Doch dann ging ihm ein Licht auf. »Ja, genau! Ich werde mächtig werden, und dann finde ich sie, und dann-«
Eine Hand legte sich auf vor seinen Mund und verhinderte, dass er weiterredete. Erst war er etwas wütend, doch dann merkte er, wie angenehm kalt der weiße Stoff vor seinem Gesicht war. Glücklich lehnte er sich nach vorne und schmiegte sich an die Hand.
»Sie haben ja ein wirklich gutes Verhältnis zu ihrem Seelenverwandten, Prinz Caden. Wieso kommt mir das so bekannt vor?«
»Ha, mal sehen, ob er die nächsten Wochen überlebt. Der Seelenzug soll schließlich ein beliebter Tag für Mord sein, nicht wahr, mein Prinz?«
»Falls sie einen Sarg brauchen, da gibt es gerade ein besonderes Angebot. Man muss nur seinen Seelenverwandten umbringen, und kriegt einen besonders schönen geschenkt!«
Ravi verstand kein Wort. Alles verschwamm in seinem Kopf zu einem Wirrwarr an Geräuschen. Lachend sah er auf, zu den vielen lächelnden Gesichtern, deren Lippen sich bewegten. Seelenverwandter ... Er hatte doch gar keinen Seelenverwandten. Und er brauchte auch keinen. Genau, er brauchte keinen.
»Schaut mal, jetzt läuft er weg. So typisch. Schämt sich wahrscheinlich für seine Verbrechen.«
»Heute Abend aber keine Toten, ja, Prinz Caden?«
Die lächelnden Gesichter lachten, und er lachte mit. So lange, bis er nicht mehr konnte und hustend nach vorne stolperte. Zwei Arme fingen ihn auf, zuckten zurück und hielten ihn dann doch fest.
»Ich hab dir gesagt, dass du aufpassen sollst«, zischte es an seinem Ohr, und ausnahmsweise verstand er, was die Stimme ihm sagen wollte. Doch wieso sollte er aufpassen? Alle hier lächelten. Alle hier waren glücklich, wie in einem Traum. An einem so schönem Ort gab es sicher gar keine Gefahren.
Während die Lichter langsam verschwanden und das Gelächter leiser wurde, sanken Ravis Augenlieder immer tiefer. Er war müde, so müde ... Aber schlafen wollte er doch eigentlich gar nicht. Er wollte lieber noch Spaß haben und bei den lächelnden Gesichtern bleiben.
Als die Arme, die ihn die ganze Zeit getragen hatten, plötzlich verschwanden, merkte er es kaum. Weicher Stoff umhüllte ihn und zog ihn in eine Welt aus Träumen. Es war immer noch warm, doch diesmal nicht zu warm. Mit fast ganz geschlossenen Augen sah er neben sich.
Komisch. Da auf dem Boden, außerhalb des Bettes, lag jemand. Er sah aus, als ob er starke Schmerzen hätte. Seine eine Hand war weiß wie eine fluffige Wolke. Die andere schwarz wie verbranntes Holz. Wirklich komisch.
Ravis Sichtfeld wurde immer kleiner, während er die Person am Boden musterte. Jetzt liefen ihm sogar Tränen über die Wangen. Wieso war er nicht glücklich? Jeder hier war glücklich, nur er nicht.
Hoffentlich ging es ihm bald wieder besser.
ஓ๑♡๑ஓ
Als Ravi am Morgen aufwachte, fühlte sich sein Kopf an, als ob jemand ihn die ganze Nacht mit einem Hammer bearbeitet hätte. Brummen wäre untertrieben, Kreischen beschrieb es schon viel besser. Stöhnend zwang er seine Augen, sich zu öffnen, bereute es aber sofort wieder, als grelle Sonnenstrahlen ihn blendeten. Gequält stöhnend drehte er sich zur Seite und vergrub den Kopf in einem Kissen.
Erst nach ein paar Minuten merkte er, dass dieses nachtblaue Fellkissen nicht in seinem Bett gelegen hatte. Es dauerte weiter drei Minuten, bis er verstanden, dass kein einziges der Kissen in seinem Bett gelegen hatte. Entsetzt sprang er auf.
Und wäre beinah in Caden reingelaufen, der mit hochgezogenen Augenbrauen neben dem Bett stand und ihm ein Glas Wasser hinhielt. Zuerst war er erleichtert, immerhin nur bei Caden im Bett gelandet zu sein, doch dann erinnerte er sich plötzlich.
»Der Ball ... Habe ich ...?«, murmelte er, und obwohl er keinen einzigen zusammenhängenden Satz gesagt hatte, nickte Caden.
»Ja, du hast zu viel getrunken, wenn du das sagen willst. Ja, du hast meine Warnung ignoriert und beinah laut herausgebrüllt, wie sehr du den Adel hasst. Vor dem Adel.«
Es war das erste Mal, dass er in Cadens Augen etwas anderes als Leere oder Sorge sah. Der Eisprinz war also tatsächlich in der Lage, wütend zu werden. Ravi wusste nicht warum, doch bei dem Gedanken fing er plötzlich an, wie blöd zu grinsen.
»Wirklich? Ich kann mich an nichts erinnern. Aber da du ja alles weißt, kannst du mir vielleicht auch erklären, wie ich in deinem Bett gelandet bin?«
Caden schnaubte und stellte das Wasser auf den Nachttisch, als niemand es ihm abnahm. Wahrscheinlich waren das nur Halluzinationen, doch es sah fast so aus, als ob der Prinz etwas rot im Gesicht war. »Bevor du allen verkünden konntest, das du den Adel hasst, habe ich dich hierher gebracht. Und da dein Zimmer abgeschlossen war, musstest du wohl oder übel hier übernachten. Du solltest dankbar sein das ich dich nicht einfach auf den Boden geschmissen habe, verdient hättest du es nämlich.«
Nachdem er ein paar Sekunden nur stumm mit offenem Mund dagesessen hatte, brachte Ravi schließlich doch einen Ton heraus. »Also ... Ähm ... Danke. Du hast doch nicht auf dem Boden geschlafen, oder?«
Anstatt zu antworten, trat Caden nur einen Schritt zur Seite und zeigte demonstrativ auf die dünne Matratze, die hinter ihm auf dem Boden lag. Diesmal war es Ravi, der rot anlief. Leider war das definitiv keine Halluzination.
»Es ... Es tut mir leid, Caden. Das nächste Mal pass ich besser auf.«
»Das will ich hoffen. Diesen Rettungsservice gibt es nämlich nur einmal. Das nächste Mal helfe ich dir nicht.«
Langsam rutschte Ravi runter vom Bett und zwang seine wackeligen Beine still zu stehen. Schon nach einem Schritt wurde ihm schwindelig, und er sank zurück auf die weiße Matratze.
»Ich ... Ähm ... Glaube nicht, dass ich bis in mein Zimmer komme.«
Ravi hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich war, doch Cadens Augenbraue wanderten noch höher. »Ach, tatsächlich? Hast du wenigstens deinen Schlüssel?«
»Ähm ... Warte ...«, meinte er, durchsuchte seine Taschen und kratze sich dann verlegen am Kopf. »Nein. Denn muss jemand geklaut haben-«
»So viel zu 'Pass lieber auf dich selber auf'.«
»Ich gebe ja zu, du hattest recht! Ich hatte keine Ahnung, dass die königlichen Bälle so ... gefährlich sind.«
»Pfff. Du hast immer noch keine Ahnung. Vielleicht hätte ich dich einfach da lassen sollen, dann wärst du jetzt wahrscheinlich im Bett von irgendeinem Lord und garantiert etwas schuldbewusster.«
Allein bei dem Gedanken wurde Ravi leicht schlecht. Mit einem Seufzen holte er tief Luft. »Ich verspreche dir dass ich nachher schuldbewusst bin, Caden. Aber gerade fühlt sich mein Kopf an wie frisch aus der Schmiede, und ich sehe dein Gesicht dreimal. Gib mir einfach ... ein bisschen Zeit, okay?«
Fast sofort wurde Cadens Gesichtsausdruck etwas sanfter und er nickte. Noch einmal hob er das Wasser hoch und drückte es Ravi diesmal in die Hand, bevor er sich beschweren konnte. »Meinetwegen. Aber dann trink wenigstens etwas, okay? Ich würde dir ja irgendein Mittel gegen die Kopfschmerzen geben, aber das war eher Yinans Fachgebiet. Und der ist gerade ... nicht verfügbar.«
Die Schuldgefühle kamen so plötzlich, dass Ravi kurz kaum Atmen könnte. Kurz hatte er es vergessen, seine Mission. Adrians Plan. Das Beil, das knapp über seinem Hals schwebte.
Caden hatte ihm geholfen, doch am Enden würde ihm das nur den Tod bringen.
»Ich bin etwas müde. Ist es okay wenn ich auf deinem Bett schlafe?«, brachte er mühsam hervor. Caden lächelte ihn leicht an und nickte. Wahrscheinlich dachte er, dieser gequälte Unterton kam von den Kopfschmerzen. Doch die waren gerade Ravis geringstes Problem.
Sein Magen drehte sich wild im Kreis, wenn er daran dachte, was er Caden antun würde. Seine Hände zitterten unkontrolliert, und er wickelte sich eng in Cadens Decke ein.
Er hatte keine Wahl. Er hatte keine Wahl. Er hatte keine Wahl.
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