11 | Unterstadt
Prinz Adrian in einem braunem, völlig schmucklosem Hemd zu sehen, war wie einem Totem beim Reden zuzuhören. Es passt nicht, war unwirklich und hätte nie passieren sollen. Es kostete Ravi all seine Selbstbeherrschung, bei seinem Anblick nicht in Gelächter auszubrechen, vor allem nachdem ihn Coco doch noch dazu gebracht hatte, ein Glas Bier zu trinken.
»Ravi, dir scheint mein Outfit ja zu gefallen«, meinte der Prinz mit hochgezogenen Augenbrauen, während er sich auf einen freien Hocker fallen ließ. Schnell senkte Ravi den Blick. Das fing ja schon einmal gut an. Faszinierend, wie er das Gespräch ruinierte, bevor es überhaupt begann.
»Es tut mir leid, mein Prinz.«
»Keine Sorge, die Meisten reagieren so«, sagte er beruhigend und klopfte seinem Gegenüber auf die Schulter. »Und jetzt lass den Kopf nicht hängen. Unser Bündnis ist doch ein Grund zur Freude, nicht wahr?«
Ravi erstarrte. Noch hatte er eigentlich nicht zugestimmt. Oder reichte Adrian seine Anwesenheit etwa schon als Bestätigung? Er zwang seine Mundwinkel nach oben und hob langsam den Kopf. Sein Herzschlag beschleunigte sich unmerklich. Der Kronprinz durfte nicht merken, dass er zweifelte!
»Natürlich! Ich muss zugeben, dass ich anfangs etwas Zweifel hatte, doch diese haben sich schnell erledigt. Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen, mein Prinz«, stimmte er fröhlich zu. Crell kam mit monotonem Gesichtsausdruck zu ihnen rüber, als Ravi ihm zuwinkte. »Wollen Sie etwas trinken oder essen, mein Prinz? Geht natürlich aufs Haus, das versteht sich von selbst.«
Während Adrian scheinbar nachdachte, zuckte Ravi kurz zusammen, als Crell ihm auf den Fuß trat. Anscheinend seine Art, seinen Freund darauf hinzuweisen, dass diese Taverne auch nur begrenzte finanzielle Mittel hatte.
Er ignorierte die Schmerzen und bestellte ein Wasser. Adrian beobachtete ihn neugierig. »Vertraust du mir nicht, Ravi? Oder betrinkst du dich aus Prinzip nicht?«, fragte er, bevor er um ein Glas Wein bat. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, wie viel Alkohol Ravi bereits intus hatte?
»Mein Prinz, natürlich vertraue ich Ihnen. Ich vertrage nur nicht sonderlich viel, das ist alles«, erklärte er schnell. Adrian nickte. Mit einem Lächeln lehnte er sich zurück.
»Sehr vernünftig.«
Kurz darauf kam Crell mit einem gefülltem Krug wieder. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, stellte der Kronprinz sein Getränk wieder ab. Ravi nippte an seinem Wasser. Durch die verschwommene Oberfläche des Glases sah er Adrian, wie er etwas aus seiner Brusttasche zog und es auf den Tisch legte.
»Du bist doch sicher neugierig, welchen Teil du in diesem Spiel übernehmen wirst, oder?«
Was für eine Frage. Natürlich war er neugierig, wer wäre das nicht? Mit zusammengekniffenen Augen musterte er das kleine Papier vor sich. Es war eine Eintrittskarte für den Seelenzug in einem Monat. Nein, um genau zu sein, waren es sogar zwei Tickets. Ravi legte angestrengt die Stirn in Falten. »Ihr wollt, dass ich ihn auf dieses Fest locke?«
Ihm gefiel dieser Plan nicht. Natürlich, Caden war gefährlich. Aber sein Vertrauen zu missbrauchen und ihn dann umzubringen kam ihm dann doch etwas harsch vor. Seufzend nahm er noch einen Schluck Wasser. Wobei es für solche Gedanken wahrscheinlich sowieso zu spät war. Er hatte sich dafür entschieden Caden umzubringen, wie es genau passierte sollte ihm egal sein.
»Exakt. Du sollst bis in einem Monat sein Vertrauen und seine Zuneigung gewinnen, sodass er mit dir dorthin geht. Dort bringst du ihn dann an einen bestimmten Ort, den wir noch aussuchen. Und was dann passiert, kannst du dir ja denken.«
»Werden dann nicht alle mich verdächtigen?«
»Nein. Wir sorgen dafür, dass es wie ein Überfall aussieht. Ich habe andere Verbündete, die den Anschlag für mich übernehmen. Sie wissen das natürlich nicht, doch sie werden als Sündenbock dienen. Überführt von keinem Anderem als dir, Ravi.«
Grinsend hob Adrian seinen Krug an und nahm einen Schluck. »Du wirst ein Held sein. Jemand, der alles verloren hat, aber trotzdem weitermacht. Als dank wird der König dir natürlich irgendeinen wichtigen Rang geben, und wenn ich dann erstmal die Krone trage, befördere ich dich zu meinem ersten Berater.«
Mit große Augen sah Ravi zu seinem Prinzen herüber. Erster königlicher Berater? Damit hätte er fast so viel Macht wie Adrian jetzt hatte, wenn nicht sogar mehr. Niemand könnte ihn je wieder verletzen. Und auch seine Freunde nicht - denen könnte er dann nämlich auch wichtige Ränge verleihen und sie so aus Unterstadt retten. Er bezweifelte zwar, dass Coco dass wollte, doch ihre Sicherheit ging vor, wie Crell selbst gesagt hatte.
»Wie genau soll ich sein Vertrauen gewinnen? Er ist ... ziemlich misstrauisch. Seit einem kleinem ... Streit vor ein paar Tagen spricht er nicht einmal mehr mit mir. Ich bin mir ziemlich sicher das er mich hasst.«
Zu seiner Überraschung begann Adrian schallend zu lachen. Das unangenehme Gefühl in seiner Brust wuchs immer weiter. Am liebsten wäre er einfach aus der Taverne gestürmt. »Mach dir da keine Sorgen. Wir haben ein paar Ausflüge organisiert, bei denen ihr euch näher kommen könnt. Und, ob du es glaubst oder nicht, Caden mag dich. Mehr als du dir vorstellen kannst. Natürlich tut er so, als ob er misstrauisch wäre, doch eigentlich ist er genau das Gegenteil.«
Fast hätte Ravi das Wasser wieder ausgespuckt, als er das hört. Caden mochte ihn? Egal wie er es drehte und wendete, in seinem Kopf klang das einfach falsch. An ihrem ersten Tag hatte der dritte Prinz ihn zweimal angegriffen, ihm mehrmals mit dem Tod gedroht und schlussendlich nicht mal mehr mit ihm geredet. Die ganze Woche kassierte er schon böse Blicke aus Cadens Richtung, einfach nur weil er mit Ruelle, dem Königspaar oder Adrian redete. Das war nicht das, was Ravi sich unter mögen vorstellte.
»Du glaubst mir nicht, oder? Nun, warum hilft er dir dann die ganze Zeit? Und warum lugt er ständig zu dir rüber, wenn du gerade nicht aufpasst? Wieso hat er mich gebeten, dich länger schlafen zu lassen, weil du übermüdet bist? Wieso lässt er dir jeden Abend teuren Tee vorbeibringen? Wieso weiß er genau, welche Sorten du magst, obwohl du es nie wirklich gesagt hast?«
Diesen Abend hatte Ravi schon viele Überraschungen erlebet, doch keine hatte ihn so aus der Bahn geworfen wie das. Caden hatte ... ihm Tee vorbeibringen lassen? Auf jeden der beigefügten Notizen hatte gestanden, dass diese von Adrian selbst stammten! Caden hatte ... für ihn nach späteren Aufstehzeiten gefragt? Er hatte sich nie darüber beschwert, immer schon um 7:00 Uhr aus dem Bett zu fallen!
Ungläubig sah er in sein eigenes Gesicht, dass sich auf der Oberfläche seines Wasser spiegelte. Wenn man es so sah, schien es wirklich so, als ob Caden ihn mögen - oder zumindest nicht hassen - würde.
Er strengte sich an, es zu verstecken, doch bei dem Gedanken wurde seine Laune fast augenblicklich besser. Mit einem Lächeln wandte er sich wieder an Adrian. »Liegt das an der Seelenverbindung? Er kann mich deswegen nicht hassen, oder? Weil wir verbunden sind.«
Adrians Nicken reichte ihm als Antwort. Tief in seinem Inneren leuchtete etwas auf, und eine angenehme Wärme begann sich in ihm auszubreiten. Caden mochte ihn. Caden mochte Ravi Sundew, das Straßenkind aus Unterstadt.
Er mochte den Klang dieses Satzes.
»Dann ist dieser Auftrag kein Problem. Ich werde ihn dazu bringen, mich zu lieben, sodass er mir einen Ausflug zum Seelenzug gar nicht mehr abschlagen kann!«, meinte er mit neuem Enthusiasmus. Adrian nickte erneut, diesmal eindeutig zufrieden.
»Gut, gut. Aber pass auf, dass du deine Seele nicht an ihn verlierst. Er ist ein formidabler Schauspieler - Und da er dich mag, wird er alles daran setzten, dass du ihn auch magst.«
Ravi winkte ab. »Er ist ein Seelenloser. Ich könnte ihn niemals mögen, mein Prinz. Ihr müsst euch keine Sorgen machen.«
Mit einem lauten Knall stellte der Prinz seinen jetzt leeren Krug wieder ab. Lachend erhob er sich von seinem Stuhl. »Dann ist ja gut. Es wäre schließlich wirklich eine Schande, wenn wir auch noch gegen dich kämpfen müssten.«
Obwohl weder eine Tür noch ein Fenster sich öffneten, fuhr Ravi ein kalter Schauer über den Rücken. Mit halb geöffneten Augen sah er dem Kronprinzen hinterher. Es war ein gefährliches Spiel, auf das er sich da eingelassen hatte. Egal ob er gewann oder verlor, sein Leben war in keinem Fall sicher.
»Das macht zwei Silbermünzen«, forderte Crell, der plötzlich hinter ihm auftauchte. Mit offenem Mund sah er auf den leeren Krug und sein halbvolles Glas.
»Ich dachte das geht aufs Haus!«
»Schön, dass du das dachtest. Mein Geld will ich trotzdem.«
Als Crell nach zwei Minuten bettelndem Hundeblick immer noch mit ausgestreckter Hand dastand, seufzte Ravi ergeben und ließ seinen Kopf auf den Tisch sinken. »Ich habe keine zwei Silbermünzen.«
Die Falten auf Crells Stirn wurden noch tiefer. Er sah nicht so aus, als ob er vorhätte, deswegen nachzugeben. »Dann beschaff dir welche. Für Leute wie dich findet man hier in Unterstadt überall Arbeit.«
»Was heißt 'Leute wie dich'?!«
»Rücksichtslos, keine Selbstachtung, bereit für Geld alles zu tun, keinen Stol-«
»Okay, Okay, hör auf! So schlimm bin ich auch wieder nicht«, meinte er beleidigt. Keinen Stolz? Keine Selbstachtung? Pah. Schon bald würde er ein Prinz sein, und dann würde er Crell schon zeigen, wie viel Stolz er eigentlich hatte. Manchmal musste man den einfach zurückstellen, um Erfolg zu haben.
Mit einem letzten Seufzen ließ Crell ihn schließlich doch gehen, so wie immer. Er tat zwar immer so, als ob ihm alle anderen egal waren, doch eigentlich war er doch sehr gutherzig. Da war sich Ravi ziemlich sicher.
»Heute kommst du nochmal davon, aber nächstes mal bringst du gefälligst Geld mit!«, hörte man ihn noch rufen, während Ravi sich durch die Menge einen Weg zur Tür bahnte. Glücklicherweise entkam er, bevor Coco ihn bemerkte. Auf eine Abschiedsumarmung konnte er und besonders seine Knochen verzichten.
Draußen war es noch etwas dunkler als vorhin, auch wenn es unklar war, ob die Sonne noch schien. Der Himmel war grau und voller Wolken, weder Blau noch Weiß lugten irgendwo hervor. Mit verschränkten Armen schlenderte er die Straßen entlang.
Coco hätte sicher gewollt, dass er seine Familie besuchte. Seine Eltern machten sich wie verrückt Sorgen um ihn, so hatte sie versichert, und es wäre verantwortungslos, dass zu ignorieren. Doch egal wie logisch es klang, er konnte einfach nicht.
'Gib einfach auf!'
'Du bist nicht deine Schwester!'
'Du wirst immer machtlos sein!'
Ihre Worte waren überall. Seit er Unterstadt betreten hatte, hörte er sie die ganze Zeit. Hinter jeder Ecke sah er das mitleidige Lächeln seiner Mutter, durch jedes Fenster die Leere in den Augen seines Vaters. Er wollte sie nicht sehen. Nein, er hatte fast schon panische Angst davor, sie zu sehen.
Als er den Kopf ho, zuckte er zusammen. Seine Beine hatten ihn unbewusst immer tiefer in das Herz von Unterstadt getragen, weg von den Märkten und den überfüllten Straßen. Die schimmligen, braunen Arbeiterhäuser, die sich hier an den Straßenseiten aneinander schmiegten, kannte er besser als jeden anderen Ort.
Tausendmal war er diese ungleichmäßige Straße entlang gerannt, tausendmal war er über die vielen Schlaglöcher und herausragenden Steine gesprungen. Auf seiner linken Seite hang die Wäscheleine, von der er so oft etwas geliehen hatte, wenn seine Mutter kein Wasser mehr hatte, um Klamotten zu waschen. Etwas weiter vorne war die Treppe mit dem quietschendem Geländer, das er immer heruntergerutscht war. Wenn er sich konzentrierte, konnte er beinah das Jauchzen seines früheren Ichs hören, das fröhliches Lachen seiner Freunde.
Mittlerweile war das Geländer lange zerbrochen und die Wäscheleine leer. Dachziegel lagen über den Boden verteilt, zusammen mit Scherben, Müll und anderen Dingen, die kaum definierbar waren. Nachdem sie gestorben war, hatte es niemanden mehr gegeben, der mit ihm von der Schüle zurück gerannt war.
Seine Gedanken fühlten sich an wie in Watte, als er über die dreckige Hauswand strich und Staub von einer kleinen Drachenstatue pustete. Das war es. Das Haus. Sein Haus. Ihr Haus.
Mit zitternden Händen wandte er sich von dem Trümmerhaufen ab. Nachdem sie gestoben war, hatte sich dieses große Haus zu leer angefühlt. Sein Vater war verrückt geworden und hatte ständig behauptet, ihre Stimme zu hören. Seine Mutter hatte jede Nacht stundenlang geweint, solange, bis keiner der Beiden es mehr ausgehalten hatte. Als Ravi eines Tages von der Schule gekommen war, stand sein Zuhause in Flammen.
Er beugte sich langsam zu der Drachenstatue herunter und berührte sie mit dem Kopf. Dieses kleine Bauwerk war alles, was von der Kunst seiner Schwester noch da war, und da ihre Leiche zusammen mit all ihren Besitztümern verschwunden war, hatte er irgendwann angefangen, sie als eine Art Grabstein zu betrachten. Obwohl sie lange tot war, fühlte es sich an, als ob ihre Seele immer noch in der kleinen Gestalt mit den schrumpeligen Flügeln lebte.
'Dieser Drache ist für dich, Ravi! Damit du immer jemanden hast, der auf dich aufpasst!', hatte sie ihm freudenstrahlend verkündet, nachdem er ihr abends immer vorgeheult hatte, wie große Angst er davor hatte, alleine zu sein. Damals hatte er noch nicht gewusst, dass er wirklich bald alleine sein würde, und hatte den Drachen nur augenverdrehend in den Garten gestellt, als Ersatz für einen kaputten Gartenzwerg.
»Ich habe es geschafft, Ley. Ich bin nicht mehr machtlos. Toll, oder? Jetzt ... Jetzt kann ich dich beschützen. Niemand wird dir jemals wieder wehtun«, hauchte er. Mit beiden Händen umschloss er Statue und schloss sie in seine Arme. Eine Träne wischte den Staub auf seinen Wangen weg.
»Aber ... Ich vermisse dich. Niemand hier versteht mich. Niemandem kann ich alles erzählen. Ich lüge sie alle an, und ich weiß nicht einmal, warum. Sag mir, Ley, wann habe ich aufgehört, zu vertrauen? Wann bin ich so geworden?«
Niemand antwortete ihm, und nachdem er ein paar Minuten still geweint hatte, packte er die Figur in seine Tasche und wischte sich die Tränen aus den Augen. Es war keine Zeit für Trauer. Er musste Caden dazu bringen, ihm zu vertrauen. Für seine Sicherheit und für die Stabilisierung seiner Macht.
Damit niemals wieder jemand verschwinden musste, so wie Ley damals verschwunden war.
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