1 | Applaus
Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn herunter, als Ravi aus den Schatten trat und sich in die Schlange aus Menschen stellte, die den Platz in zwei Hälften teilte. Vor ihm standen die anderen Zwanzigjährigen aus Unterstadt, in Zweier-, Dreier- und selten sogar Vierergruppen. Sie lachten, plauderten und verhielten sich so, als ob das alles nicht wichtig wäre.
Schon hier zeigte sich, wie sehr er sich von den anderen unterschied. Für sie war dieser Tag nur ein weiterer, unbedeutender Sonntag in einem unbedeutendem Leben. Eine Seelenverbindung hieß für die meisten hier endlich die Gründung einer Familie, den Aufbau eines sicheren Lebens. Nichts, von dem etwas abhing. Mit wem man verbunden wurde, war egal. Liebe fand man überall.
Kopfschüttelnd huschte Ravi an einer Familie vorbei, die sich begeistert über die Zeit nach dem Ritual unterhielt. All diese Gefühle, diese Glückseligkeit und Sicherheit ... Das war nicht, wofür er hier war. Das war nicht, worauf er sich vorbereitet hatte. Wofür er Jahre gearbeitet hatte.
Niemand fiel auf, wie er sich langsam weiter nach vorne arbeitete. Schon oft hatte er gehört, das er mit seiner zerbrechlichen Gestalt und der geringen Größe von niemandem bemerkt wurde, doch all diese Menschen hatten das als Nachteil gesehen. Anscheinend hatten sie noch nie versucht, sich in einer unendlich langen Schlange vorzudrängeln.
Wobei drängeln wahrscheinlich das falsche Wort war. Er drängt niemanden zur Seite, er schlüpfte durch Löcher. Wenn ihn jemand komisch ansah, stellte er sich zu einer Gruppe dazu und tat so, als ob er zuhören würde. Nur, um dann weiter zu schleichen, wie ein Wurm, der sich langsam durch eine Holzwand fraß.
Als er sein Ziel endlich erblickte, stockte ihm kurz der Atem. Es war so ... anders. Es gehörte nicht in diese Stadt, nicht in diese Gegend, in der hinter jeder Ecke eine vergammelte Leiche lag und Staub und Dreck die Luft verpesteten. Unterstadt war ein Drecksloch, und das Zelt, das da vorne stand, wirkte wie aus einer anderen Welt. Unvorstellbar, das nur wenige Kilometer entfernt ganze Viertel so glänzend und protzig sein sollten.
Ungeduldig musterte er die vier anderen Anwärter, die noch vor ihm standen. Konnten sie sich nicht beeilen? Für sie war dieses Ritual doch sowieso nur ein anderes, unwichtiges Fest, bei dem sie den Prunk und den Reichtum der Oberschicht bewundern durften. Und die Seelenverbindung war ein Accessoire, ähnlich wie eine Feder oder ein Edelstein. Für all diese Dummköpfe hatte sie doch sowieso keine höhere Bedeutung.
Ravis Blick schweifte wieder zu dem großen Zelt, das vor ihm stand. Gold und Blau vermischte sich zu einem eindrücklichem Kunstwerk, in dessen Mitte gut erkennbar das Wappen der Königsfamilie prangte. Für ihn war diese Verbindung mehr als ein Schmuckstück. Sie war sein Ticket, seine Gelegenheit, auf die er zwölf Jahre lange gewartete hatte. Er brauchte sie. Mehr als irgendjemand anderes hier.
»Name?«, knurrte der Beamte in dem Zelt und starrte ihn böse an. Ravi starrte zurück. Höflichkeit war wohl einfach zu viel erwartet.
»Ravi Sundew.«
Der Stifte kratzte über das Papier. Ohne es wirklich zu wollen, erhaschte Ravi einen kurzen Blick auf die Liste. Es waren viele, wirklich viele. Nicht jedes Jahr hatte es so viele in seinem Alter gegeben, die sich zum Ritual meldeten.
Aber das hieß nur, das er sich noch mehr anstrengen musste. Kein Grund zur Panik. Er war bereit. Sie würden staunen, all diese eingebildeten Arschlöcher auf ihren Thronen. 'Ein Unterstädtler konnte es zu nichts bringen'? Pah. Sie würden schon sehen. Sie alle würden sehen, wie falsch sie lagen.
»Hallo, bist du schwerhörig?! Geburtsdaten, jetzt!«, fauchte es erneut von seiner rechten Seite. Genervt wandte er sich wieder dem Beamten zu. Wenn er die Macht hätte, würde er solche unhöflichen Idioten direkt davonjagen. Oder auf einen Posten verbannen, bei dem sie niemandem störten. Friedhofwärter zum Beispiel.
»Siebter Oktober. In Unterstadt, dritter Bezirk«, antwortete er mit einem Lächeln, das gekünstelter nicht sein könnte. Zwölf Jahre. Zwölf verdammte Jahre hatte er sich zurückgehalten, alles für sich behalten und bloß nicht seine Meinung gesagt. Da würde er sich in den letzten Stunden nicht alles ruinieren lassen, bloß weil so ein Beamter das Wort 'Höflichkeit' nicht kannte.
Sobald er weiter gewunken wurde, schubste ihn sein Hintermann nach vorne und gab ihm nicht einmal eine Millisekunde, sich auf das, was jetzt kam, vorzubereiten. Aus dem Augenwinkel sah er den Blick seines Kontrahenten, der vor Wut nur so funkelte. Da hatte wohl jemand große Probleme damit, dass jemand besser drängeln konnte als er.
Naserümpfend schüttelte Ravi den Kopf, bevor er sich umdrehte und seine ganze Aufmerksamkeit auf den Platz vor sich richtete. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag stockte ihm der Atem.
Es war wunderschön.
Viele seiner älteren Freunde hatten ihm schon vorgeschwärmt, wie beeindruckend das Innere des Tempels war, doch keiner hatte die richtigen Worte gefunden, um dieses Gebilde zu beschreiben. Selbst das Zelt wirkte verglichen hiermit wie eine alte, vergammelte Taverne.
Das riesige, kuppelförmige Dach wurde von mehreren goldenen Säulen gehalten, alle verziert mit tausenden Sternen, die glitzerten wie Wasser während einem Sonnenaufgang. Der Boden war im Gegensatz dazu aus Obsidian gebaut und nachtschwarz, nur die große Zeichnung eines Mondes in der Mitte stach mit ihrer silbernen Farbe heraus.
Doch all das war nur die Grundfeste für die Decke. Das Blau, das dort über ihm schwebte, schien ständig den Farbton zu wechseln. Manchmal war es dunkel wie der Nachthimmel, manchmal hell wie Meerwasser an der Küste, und manchmal sogar violett, wie Veilchen im Licht der untergehenden Sonne.
Inmitten dieses Meeres aus Blautönen schwammen weiße Zeichnungen, die jeweils eins der zwölf Sternzeichen darstellten. Jede war bis ins letzte Detail ausgeschmückt und mit verschiedenen Kristallen verziert, von Saphir bis Smaragd war alles dabei. Sein Blick strich das Bild des Skorpions. Rubinrote Augen, schwarze Stacheln und noch dunklere Scheren. Die Farben des Unglücks.
Wundervoll, dass selbst die Sterne gegen ihn zu stehen schienen.
Schnaubend wandte er den Kopf ab und sah sich erneut um. Die matt leuchtenden Buntglasfenstern an den Wänden waren nicht wenige beeindruckend als der Rest des Tempels, doch diesmal würdigte Ravi ihnen keinen Blick. All das hier war bereits ein Teil der Prüfung. Und jemand, der zu lange verträumt auf irgendwelche Wände starrte, bekam sicher eine schlechtere Wertung.
»Da bist du ja, Sundew.«
Ach ja, da war ja auch noch etwas gewesen. Sein Freund aus der Warteschlange, der es nicht ausgehalten hatte, eine Minute länger zu warten.
Seufzend drehte er sich um und hob eine Augenbraue.
»Ja, da bin ich. Überraschend, nicht?« Es gab Menschen, die er nicht mochte, aber trotzdem nett zu ihnen war. Einfach, weil er es musste. Elliot Alary gehört nicht zu diesen.
Genauso wenig gehört Elliot Alary aber zu den Menschen, die besonders viel Selbstbeherrschung besaßen. Und so hätte Ravi wohl damit rechnen sollen, dass er nicht mit einem belustigtem Lachen reagieren würde.
Trotzdem war er zu langsam und schaffte es nicht, rechtzeitig zur Seite zu springen. Elliots Hand schloss sich eisenfest um seinen Hemdkragen und hob ihn mühelos hoch. Manchmal beneidet Ravi ihn wirklich um seine Stärke. Auf Dauer war es anstrengend, nur intelligent zu sein.
»Dachtest du wirklich, du kommst einfach so davon, Wichser?«, zischte Elliot. Ravi zuckte mit den Schultern, zumindest versuchte er es. Sonderlich gut funktionierte das jedoch nicht, wenn man mit den Füßen nicht mehr auf dem Boden stand.
»Ja. Es sind schließlich ein paar Sekunden länger anstehen, ich dachte nicht, dass das so ein Problem-«
»Das ist nicht, was ich meine!«, brüllte Elliot. Er hob seinen Arm noch höher. Langsam war es wirklich unangenehm, hier wie ein nasser Mehlsack herumzuhängen. Die Leute begannen bereits, zu starren und näher zu kommen.
»Ich habe das Gefühl, dass ich das nicht sagen sollte, aber ... Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Wenn Elliot davor wütend gewesen war, stand er jetzt kurz davor, zu explodieren.
»Das solltest du aber, Wichser! Du hast mein Leben zerstört!«, schrie er.
Oh.
»Ähm ... Tut mir leid?«
Anscheinend war eine Entschuldigung keine gute Idee gewesen, denn Elliot wurde fast augenblicklich noch roter im Gesicht.
»Stirb!«
Eine Faust flog mit beängstigender Geschwindigkeit auf sein Gesicht zu, und er hätte sicher ein paar Zähne verloren, wenn er Elliot nicht davor eine gezielten Tritt zwischen die Beine verpasst hätte.
Elegant landete er auf den Füßen und sah auf seinen Freund herunter, der zusammengekrümmt auf dem Boden kniete. Jetzt, wo er die verzweifelte Frustration in Elliots Gesichts sah, erinnerte er sich auch wieder, wie er dessen Leben zerstört hatte.
In Vorbereitung auf das baldige Ritual hatte Elliot ihn vor großem Publikum zu einem Kampf herausgefordert, wahrscheinlich, weil er in seiner eher schmächtigen Statur und geringen Körpergröße einen einfachen Gegner gesehen hatte. Leider hatte dieses kurze Scharmützel damit geendet, dass Elliot ziemlich schnell im Staub gelandet war. Genau wie sein Ruf.
Die Erinnerung ließ Ravi grinsen und er beugte sich zu Elliot herunter. »Wieso dachtest du eigentlich, dass du hier gewinnen könntest?«
Mit einem animalischen Knurren kämpfte der Geschlagene sich auf die Beine. Er schnappte nach Ravis Bein, wahrscheinlich, um ihn auch auf den Boden zu ziehen, doch diesmal war er zu langsam. Anstatt jedoch zur Seite zu springen, wie er es gemacht hätte, wenn es hier kein Publikum gäbe, packte er Elliot am Handgelenk und zog seinen Arm in einem unnatürlichem Winkel nach hinten.
»Lächerlich. Du bist ja schwerer zu belehren als ein Kleinkind. Hat dir eine Blamage nicht gereicht?«, flüsterte er Elliot ins Ohr.
Eigentlich war er war kein großer Fan davon, Menschen zu blamieren. Dafür hatte er noch zu gut im Kopf, wie es sich anfühlt, selbst das Opfer zu sein. Doch an den Blicken der Zuschauer merkte er, dass sie genau das wollten. Demütigung. Schmerzen. Verzweiflung. Die Bewohner von Unterstadt würden sich wohl nie ändern.
»Ich bring dich um«, zischte Elliot mit rasselndem Atem. Der dachte wohl, diese Drohung wäre beunruhigend. Etwas Neues, beängstigendes. Ravi lachte. Er hatte schon so viele Morddrohungen erhalten, er hatte aufgehört, sie zu zählen. Sein ganzer Bezirk würde ihn am liebsten tot sehen.
Gut, dass er nicht vorhatte, jemals wieder nach Unterstadt zurückzukehren.
»Viel Glück dabei.«
Er ließ von Elliot ab. Das war nicht, was sich die Menschen gewünscht hatten. Sie wollten das Knacken von Knochen hören, den Aufschrei eines Verlierers, der vor Schmerzen Tränen in den Augen hatte. Das gierige Glitzern in ihren Augen verriet das und vieles mehr.
Doch der Adel war kein Fan von unnötiger Brutalität. Sie wollten jemand, der grausam war, doch nicht mithilfe von Waffen oder mit Fäusten, sondern mithilfe von Worten. Elliot jetzt den Arm zu brechen, würde nur von unkontrollierten Emotionen oder sadistischen Zügen zeugen.
Lächelnd wandte er sich an die Masse von Zuschauern und verbeugte sich. Das erste Klatschen kam aus den hinteren Reihen, von irgendjemand, der sich gut versteckt hatte. Es dauerte jedoch nicht lange, bis auch der Rest in Applaus ausbrach. Niemand schien auch nur daran zu denken, dass sie bei den Prüfungen genauso wie Elliot enden könnten.
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