Kapitel 5
„Hab ich dir schon erzählt, was Sam gemacht hat?"
Aria, meine beste Freundin schüttelte den Kopf.
„Er hat gefragt, ob ich mit ihm zum Ball gehen möchte. Du weißt schon, der Abschlussball von Markus im Januar."
„Cool", Aria strahlte. "Was wirst du anziehen?" Wir saßen auf ihrem Bett und betrachteten den Inhalt ihres Schrankes. Zum Glück hatten wir teilweise die gleiche Figur, sodass wir öfter mal Sachen austauschten.
„Keine Ahnung", ich zuckte mit den Schultern. Wenn es nach mir gehen würde, würde ich mit Jeans und Pulli kommen, doch das würde meine Eltern nie erlauben.
„Ich helf dir." Aria grinste. „Wir werden schon was passendes finden." Prüfend fischte sie ein kurzes Sommerkleid raus und hielt es in die Luft.
Ich wachte durch ein lautes Klopfen auf, das mindestens zehn Minuten lang ging.
„Hmpf", machte ich, dann schälte ich mich aus meiner warmen Decke und ging zur Tür. Davor stand Lucie, in einem weiten türkisem Sommerkleid, strahlte mich an und meinte dann singend:
„Oh, holde Meid, weh mir mein Frühstück, lass mich geschwind ziehen meine Sachen und rennen meine Beine, mein Magen sonst leer ausgeht."
Ich starrte sie sprachlos an. Was zum Teufel sollte das?!
„Los, zieh dich an! In fünf Minuten ist Frühstückszeit!", sie schob mich beiseite und betrat unaufgefordert mein Zimmer.
„Wow, deins sieht jedenfalls gemütlicher aus als meins."
„Hm", machte ich wenig hilfreich und suchte eilig meine Sachen, die verstreut im Zimmer lagen, zusammen.
„Hast du etwa ohne Bettbezug geschlafen?! Das wir dir Kerry nie verzeihen!", Lucie wurde hysterisch.
„Wer?", fragte ich hüpfend. Socken anzuziehen war halt eine Kunst, die ich nicht beherrschte.
„Die Putz- und Waschfrau. Sie ist für die Häuser während der Ferien zuständig. Los, komm, wir haben nicht mehr viel Zeit!"
Meinen Pullover streifte ich mir auf dem Weg über. Auch Schuhe waren für Lucie anscheinend überflüssig, denn sie lagen, wie ich leider erst im Speisesaal feststellte, noch in meinem Zimmer. Das Frühstück ging praktisch genauso weiter, wie das Abendessen aufgehört hatte. Voller Spaß, guter Laune und Humor. Sander und Raf hatten anscheinend ihre Klamotten über Nacht vertauscht, denn Sander trug ein enges Shirt, und Rafael ein weites helles Hemd. Kaum waren wir fertig, verabschiedete ich mich entschuldigend.
„Ich würde mich gerne noch richtig anziehen, bevor ich in die Stadt gehe", was ich dort vorhatte, verschwieg ich vorsorglich.
„Warte, ich komm mit ins Wohnheim. Muss gleich los zur Schicht", Rafael grinste mich an, hakte sich unter und zog mich mit nach draußen. Er war erstaunlich kräftig. Sander und Lucie wechselten einen bedeutungsvollen Blick, sagten aber zum Glück nichts. So überquerten Raf und ich schweigend den Hof.
„Du hör mal", fing er da auf einmal an, kurz bevor wir unser Wohnheim erreicht hatten. Ich hatte es gewusst. Ich hatte es einfach gewusst!
„Ich find das total cool, dass du damit so locker umgehst. Also mit Sander und mir", er breitete die Arme aus und drehte sich um Kreis wie ein kleines Kind. Was sollte das werden?
„Du musst wissen, dass Lucie damals auf Sander stand, kurz bevor das alles rausgekommen ist", eingehend sah er mich an. Diese blauen Augen waren einfach der Hammer!
„Oh", entgeistert blieb ich stehen und erwiderte seinen Blick.
„Ja", Rafael betrachtete jetzt eingehend das Blumenbeet links von uns. „Wir haben uns richtig gut verstanden. Sind zu dritt losgezogen, haben Unfug gemacht, Partys geschmissen und spontane Fahrten unternommen. Dabei sind Sander und ich uns näher gekommen, bis wir uns dann ein paar Monate später geoutet haben. Es war ein kleiner Schock für alle, aber für Lucie war es mehr. Es war wie Verrat. Wo sie doch gerade für Sander geschwärmt hatte, was auch damals jeder wusste."
Ich strich ihm betroffen über die Schulter. Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, wie schrecklich sich Lucie gefühlt haben muss. Verraten von dem besten Freund.
„Lucie ist dann spontan ein halbes Jahr nach Italien gegangen. Keine Nachricht, kein Brief. Seit sie zurück ist, klappt das auch wieder mit uns dreien. Wir werden halt vernünftiger. Nur manchmal, wenn Sander und ich alleine sein wollen, wird sie traurig und geht einfach."
„So wie gestern Abend", schlussfolgerte ich leise.
„So wie gestern Abend", bestätigte er.
„Du hast mir das wahrscheinlich nicht ohne Grund erzählt, oder?"
Er grinste schwach.
„Nein", gab er freimütig zu. „Sander und ich versuchen sie so selten wie möglich auszugrenzen, was auch echt schwer ist. Doch manchmal brauchen wir einfach mal ein bisschen Zeit für uns. Wir hatten die Idee, ob wie uns vielleicht in Zukunft abstimmen können, dass du dann den Abend was mit Lucie planst. Also nur wenn dir das Recht ist."
Nachdenklich betrachtete ich schweigend meine Fingernägel. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Hinter Lucies Rücken etwas planen.
„Ich denk drüber nach, okay?"
Ein Schatten huschte über Rafaels Gesicht. Nur kurz, doch ich sah ihn.
„Du würdest uns einen großen Gefallen tun", dann drehte er sich um und ging. Ich sah ihm traurig hinterher, bis er um die Ecke verschwand. Er verlangte schon recht viel von mir, indem er mich eingeweiht hatte. Wie in Trance lief ich den Weg zu meinem Zimmer.
Dort angekommen, schmiss ich mich aufs Bett. Auch wenn sie es nicht sollten, berührten die Menschen mich hier schon tiefer, als ich es eigentlich wollte. Und ich war erst wenige Stunden hier. Das würde kein einfaches halbes Jahr werden. Nachdem ich ein paar Minuten einfach so dar lag, stand ich mit neuem Mut auf. Egal was kommt, ich würde es schaffen. Das hatte Tristan mir immer eingebläut. Mein Blick fiel auf den Koffer. Es wurde Zeit ihn auszupacken. Ich klappte den Deckel hoch und betrachtete mein Chaos. In meiner Eile hatte ich nicht Zeit aufs zusammen Falten gelegt, und auch eine Struktur ließ sich nur schemenhaft erkennen. Am Anfang versuchte ich es noch mit verschieden Haufen, die ich neben den Koffer legte, doch schon bald kippte ich den ganzen Inhalt einfach auf dem Boden aus. Es war eindeutig die bessere Idee gewesen. Innerhalb weniger Minuten hatte ich die Sachen, mit denen ich meine Identitäten wechselte, raus gepickt und in einer Ecke gesammelt, sodass man sie von der Tür aus nicht sehen konnte.
Meine Klamotten sortierte ich nach „waschen" und „sauber", wobei die Sachen, die nicht zu einer Studentin passten, ebenfalls in der Ecke landeten. Meine sauberen Klamotten kamen dann schön ordentlich in den Schrank, die dreckigen auf einen Haufen neben der Tür. Meine wenigen Bücher und Habseligkeiten stellte ich ins Regal, die Kultursachen kamen übers Waschbecken und der Koffer unters Bett. Meine Handtasche sortierte ich ebenfalls aus. Viele Länder gleich viele Pässe. Diejenigen, die hier gefährlich für mich werden könnten, kamen ebenfalls in die Ecke. Im Laufe der Woche würde ich Stück für Stück einige der Sachen nach Schweden schicken. Dort hatte ich am Anfang meiner Flucht einen Rückzugsort nur für mich geschaffen. Wenn es Sachen gab, die mich auffliegen lassen könnten, schickte ich sie mit der Post dahin. Bis jetzt war das auch immer problemlos abgelaufen. Zufrieden sah ich mich im Zimmer um. Es wirkte immer noch sehr unpersönlich, wie in einer Werbung für Einrichtungsmöbel. Ich beschloss, dass der Stadtbesuch noch warten konnte. Erstmal musste Ordnung in mein Chaos kommen. Neben der Treppe gab es einen Schrank, in dem Bettbezüge und Wäschewannen aufbewahrt wurden. Ich schnappe mir von jedem eins, dann zog ich mich ins Zimmer zurück. Und nicht zu früh. Unten fiel eine Tür ins Schloss, dann erklang unverkennbar Lucies Stimme. Ich wusste nicht, warum ich mich vor ihr versteckte, doch ich vertraute meinem Instinkt, als er sagte, Rückzug.
Eine Stunde später spazierte ich beschwingt aus dem Wohnheim in Richtung Stadt und war stolz auf mich. Ich hatte mein Bett bezogen, meine Wäsche gewaschen und mir zum Schluss im Internet noch mal eine Karte der Stadt angesehen, nachdem ich meine irgendwie nicht wieder finden konnte. Eigentlich war die Innenstadt ziemlich schlicht aufgebaut. Viele parallele Straßen, große Kreuzungen und eine rundliche ausgeschilderte Fußgängerzone. Außerdem hatte ich mir mehr zu 'Alycya Greay' ausgedacht. Sie kam jetzt aus einer mittelständigen Familie, hatte Abitur gemacht, aber keine Ahnung was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Dadurch war sie zweimal im Ausland gewesen. Einmal in Amerika, als Aupair und einmal in Costa Rica, als Unterstützern einer Hilfsorganisation. Ich brachte in meine neuen Identitäten immer wahre schon erlebte Geschichten ein. Das war leichter zu spielen, als sich ständig etwas Neues auszudenken und dann den Überblick zu verlieren. Als Hobby hatte ich Sport aufgeschrieben. Falls jemand fragte, sie hatte vieles ausprobiert, so wie ich. Außerdem war sie Einzelkind, hatte Schauspieler als Eltern und kam aus einer Kleinstadt irgendwo im Nirgendwo Dänemarks.
Mein Weg führte mich zu einem kleinen, heruntergekommen Schreibwarenhaus. Ich konnte mich stundenlang in so was aufhalten. Alles war so schön geordnet und neu. Die ganzen Farben regten meine Fantasie und meine Lust zu malen an. Doch heute ermahnte ich mich. Alles was ich brauchte waren Briefumschläge, eine handvoll Stift und einen normalen Block. Die restlichen Schulsachen würde ich später besorgen. Ich bezahlte und setzte meinen Weg entschlossen fort. An einer Ampel stehend, wurde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Verstohlen sah ich nach links und rechts, konnte aber niemand Verdächtigen erkennen. Wahrscheinlich wurde ich mit der Zeit einfach paranoid, was vielen in meiner Branche passierte. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, suchte ich einen kleinen Supermarkt auf. Ich hatte zwar zweimal am Tag richtige Mahlzeiten, doch konnten ein paar Kekse und Wasserflaschen auf dem Zimmer nicht schaden.
Ich tauchte zwischen den Regalen ab und wartete. Wenn meine Theorie richtig war, musste am Ende des Gangs jeden Augenblick ein Mann auftauchen, der sich hektisch umsah. Nervös betrachtete ich die Flaschen vor mir. Es waren Fruchtschorlen ohne Zuckerzusatz. Nach zehn Minuten kam immer noch niemand um die Ecke. Enttäuscht und auch ein bisschen erleichtert stand ich auf. Damit meine Tarnung perfekt war, schnappte ich mir zwei kleine Flaschen der Fruchtschorle und ging zur Kasse. Als ich wieder draußen stand, checkte ich unauffällig die Lage. Nirgends waren zwei oder drei Männer in Anzügen zu sehen, die auffällig unauffällig herum standen und so taten als würden sie die Zeitung verkehrt herum lesen oder so. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich verfolgt werden würde. In anderen Ländern ist mir das schon mehrmals passiert. Meistens waren es Gangs, die ich ausversehen verärgert hatte. Doch ab und zu kamen auch Polizisten. Ich hatte bis jetzt zwar noch nicht rausgefunden, was sie von mir wollten, dafür war ich immer zu schnell ausgebüxt, aber allein die Tatsache, dass sie hinter mir herliefen, konnte nichts Gutes bedeuten. Ein Blick auf mein Handy zeigte mit, dass es Zeit wurde das HUMAINS zu suchen. Ich las mir Marks Beschreibung noch mal durch bevor ich losging. Aus der Stadt raus, neben der Bibliothek. Ich irrte 20 Minuten in der Innenstadt herum, bis ich endlich aufgab, und einen Passanten fragte.
„Entschuldigen Sie, ich suche die Bibliothek. Können Sie mir vielleicht den Weg sagen?", ein junger Mann schaute erschrocken von seiner Zeitung auf. „Wie bitte?", sein Blick glitt gehetzt an mir vorbei, bevor er mein Gesicht erfasste.
„Ich suche die Bibliothek", erklärte ich ihm langsam. „Leider bin ich nicht von hier. Können Sie mir vielleicht den Weg sagen?" ich lächelte ihn charmant an.
„Äh, ja klar", umständlich faltete er seine Zeitung zusammen. Dabei brachte er es zu Stande sie zweimal fallen zu lassen. Er war eindeutig nervös. Fragt sich nur, warum?
„Sie müssen hier die Straße ganz runter. Dann rechts und wieder links. Am Ende der Straße steht dann links ein großes altes Gebäude. Das ist die Bibliothek."
„Danke", ich lächelte.
„Kein Problem", er griff seine Tasche und rannte förmlich davon.
„Komischer Typ", murmelte ich leise. Im Geiste ging ich seine Wegbeschreibung noch mal durch, dann machte ich mich auf den Weg.
Es stellte sich als sehr schwierig raus, die richtige linke Abzweigung zu finden. Gleich mehrere Straßen waren auf der linken Seite. Ich lief die erste fröhlich runter, in dem Glauben, die richtige gefunden zu haben. Doch am Ende war weder ein altes, noch ein grün-rotes Gebäude, auf dem groß HUMAINS stand. Genervt ging ich wieder zurück. Langsam lief mir die Zeit davon. Als ich wieder auf die Hauptstraße kam, sah ich mir die Straßen noch mal ganz genau an. Gleich am Anfang gab es eine kleine Gasse, die ich übersehen haben muss. Neugierig folgte ich der Straße, bis ich am Ende ein grün-rotes Gebäude sehen konnte. Endlich geschafft! Die letzten paar Meter rannte ich. Schon von weitem konnte man sehen, dass die Tür weit offen stand und Leute aller Art rein und raus strömten. Ich straffte die Schultern, schaute ein letztes Mal auf die Uhr und näherte mich dann der grünen Tür. Es dauerte ein bisschen, bis ich mich durch die Massen gekämpft hatte, doch der Anblick war es wert.
Das Innere wurde in sanften Blautönen gehalten, man fühlte sich gleich wie in einer Unterwasserwelt, mit all den grünen Strichen. Sogar der Tresen, die Tische und Stühle und die Outfits der Kellnerinnen waren blau oder türkis und mit weißen Muscheln und Perlen verziert. Der Boden war mit Sandgelben Fliesen ausgelegt. Es musste Monate gedauert haben, dass alles so detailgetreu gemalt zu haben.
„Alycya!", rief eine Stimme von hinten aus dem Gewühl.
Ich drehte mich um. Ganz hinten in der letzten Ecke saß Mark an einem Zweiertisch und winkte wie verrückt, um sich bemerkbar zu machen. Auch wenn ich es niemals für möglich gehalten hatte, klopfte mein Herz in diesem Augenblick wie wild. Meine Knie zitterten und das Blut schoss mir in die Wangen. Das war mir das letztes Mal bei Sam passiert. Doch bevor ich wieder zu sentimental wurde, verdrängte ich den Gedanken und konzentrierte mich auf das hier und jetzt. Ich bannte mir einen Weg durch die vielen Leute, wobei ich versuchte niemanden umzulaufen. Etwas atemlos kam ich am Tisch an.
„Hi", ich strahlte.
„Hey", sein Blick glitt über meine Klamotten. „Setz dich doch. Ich hatte schon Angst, dass du mich sitzen lässt und nicht kommst." Ich ließ mich ihm gegenüber auf den, man glaubt es kaum, blauen Stuhl gleiten.
„Das würde ich niemals machen", versprach ich hoch und heilig und merkte wie mir das Blut wieder in die Wangen schoss. Ich sah bestimmt aus wie eine überreife Tomate.
„Für so jemanden, hatte ich dich auch nicht eingeschätzt", er sah mich unter seinen Lidern durch an.
„Wie hast du mich denn eingeschätzt?", neckend grinste ich ihn an, bevor ich ganz Ladylike meine Karte aufschlug und mein Gesicht dahinter versteckte. Nun war es am ihm, rot zu werden.
„Äh", brachte er heraus, wurde aber zu seinem Glück von der Kellnerin gerettet.
„Was darf es für Sie beide sein?", sie zückte ihren, ROTEN Stift und sah wissend grinsend zwischen uns hin und her.
„Ich hätte gerne einen Mango Smoothie und einen Blaubeermuffin", meinte Mark, dann sah er mich abwartend an.
„Ähm", ich überflog die Karte. „Ich hätte gerne einen Schokomuffin mit Chili und einen Kokosmilchshake."
„Alles klar!", die Bedienung verschwand wieder, aber nicht ohne die Karten mitzunehmen.
„Also", brach ich das peinliche Schweigen zwischen uns. „Wie hast du mich eingeschätzt?" Jetzt war ich wirklich neugierig.
„Ich habe und halte dich immer noch für eine schöne, junge, mutige Frau, die einen eigenen Kopf hat und sich nicht vorschreiben lässt, was sie machen soll und darf." Wow, er hatte innerhalb weniger Minuten meinen richtigen Charakter erkannt. Nicht Alycyas, sondern Leylas. Der Typ war gruselig. Und er hatte gute Menschenkenntnisse.
„War das alles?", ich versuchte meine Furcht über seine Entdeckung zu verbergen. Mein Vater hat uns früher immer eingetrichtert, nur Fragen zu stellen, wenn wir uns sicher waren, mit der Antwort leben zu können. Ich hatte ihn lange Zeit nicht verstanden, doch in diesem Moment passte seine Weisheit.
„Außerdem glaube ich, dass du einen guten Modegeschmack hast, vorlaut bist und kleine Kinder magst."
Ungläubig sah ich ihn an, dann fing ich an zu lachen.
„Tut mir Leid", brachte ich irgendwann heraus, bemüht wieder Luft zu bekommen, was nicht ganz funktionierte. „Aber mit der zweiten Aussage, hast du jeden beschrieben, nur nicht mich."
Nun musste auch er grinsen. „Ein Versuch war es Wert."
Er nahm es anscheinend nicht schlimm, dass er damit vollkommen daneben lag.
„Wie siehst du mich?", jetzt drehte er den Spieß um.
Kurz überlegte ich.
In den letzten Jahren hatte ich viel über Menschen und ihren Charakter erfahren. Meistens konnte man Hobbys und Berufe an dem Aussehen und besonders an den Fingern erkennen.
„Ich glaube, du bist ein sehr beschäftigter Mann, der in einer führenden Position arbeitet. Neben deinem Job versuchst du in deiner Freizeit abzuschalten, was du auch beim Klavierspielen machst. Du hasst Ungerechtigkeiten und setzt dich sehr für benachteiligte Menschen ein." Das meiste davon war geraten, doch seine Musikalität war mir aufgefallen. Er wippte im Takt mit dem Fuß mit und trommelte mit seinen Fingern auf einem imaginären Klavier. Es hätte auch eine Gitarre sein können, doch seine Fingerkuppen waren weich und nicht hart.
„Woher weißt du, dass ich Klavier spiele?", er wirkte echt erstaunt.
Ich grinste schelmisch. „In den letzten Jahren habe ich viel über Menschen erfahren. Meist mehr, als sie selbst wissen."
Zum Glück rettete mich in diesem Augenblick die Bedienung vor weiteren Fragen.
„Einmal Kokosshake mit Schokomuffin, und für Sie Mango Smoothie mit Blaubeermuffin. Guten Appetit!"
„Danke", er lächelte ihr zu. In meinem Bauch piekste was. War ich etwa eifersüchtig?
„Du hast tatsächlich Recht. Ich spiele Klavier um abzuschalten", er beobachtete mich, wie ich freudestrahlend in meinen Muffin biss. Dank einiger Länder machte scharfes Essen mir nichts mehr aus, ja ich liebte es mittlerweile.
„Wie kann man Chili nur mit Schokolade mischen?", er schüttelte den Kopf und wandte sich seinem Blaubeermuffin zu.
„Möchtest du mal probieren?", ich hielt ihm meinen angebissenen Muffin hin. Zweifelnd sah er mich an. „Es ist total lecker", versicherte ich ihm ernst.
„Okay", zögernd nahm er den Muffin. Biss ab, kaute, schluckte und fing an zu husten. Er griff hektisch nach seinem Glas und leerte es bis zur Hälfte. Mit rotem Kopf sah er mich an. „Wie kann man nur so etwas Scharfes essen?"
Ich grinste breit.
„Bin halt viel rumgekommen", ungerührt aß ich meinen Muffin auf. „Da lernt man irgendwann scharfes Essen kennen. Mit der Zeit gewöhnt man sich dran."
Skeptik lag in seinem Blick, als er sein Glas ganz leerte.
„Ich zeig dir mal was richtig scharfes Essen ist, dann wirst du das hier herbeisehnen", der Kokosshake schmeckte zwar nicht so gut wie in Brasilien, doch man konnte ihn durchaus trinken. Schweigend aßen wir beide auf.
„Lust auf eine Besichtigungstour?", fragte er.
„Ich dachte, du hast einen wichtigen Termin", der beleidigte Ton in meiner Stimme fiel ihm anscheinend nicht auf, denn er meinte unbekümmert:
„Ich hab vorhin, bevor du da warst, einen Anruf bekommen. Der Termin fällt aus. Ich hab also den ganzen Nachmittag Zeit." Äußerlich blieb ich ganz cool, doch innerlich jubelte ich. Einen ganzen Nachmittag mit ihm Zeit verbringen? Wer sagt dazu schon nein.
„Okay" stimmte ich zu. „Willst du sofort los?"
„Klar", er stand auf, legte Geld auf den Tisch und schob mich in Richtung Ausgang.
„Eigentlich wollte ich dich einladen. Und nicht umgekehrt", entrüstet verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Du wirst noch früh genug Zeit kriegen, mich einzuladen", er grinste und legte ganz selbstverständlich den Arm um meine Schultern. Wohl definierte Muskeln schmiegten sich an meinen Rücken, als er mich jetzt näher an sich ran zog.
„Also, wie gut hast du hergefunden?"
„Ähm, um ehrlich zu sein, hab ich irgendwann jemanden gefragt", bewusst starrte ich nach unten.
„War meine Beschreibung nicht gut?", ärgerlich murmelte er vor sich hin. „...hätte vielleicht doch abholen sollen..."
„Nein, alles gut", versicherte ich ihm schnell und entwich seinem Arm. „Ich hab mich schon in der Innenstadt verlaufen."
„Das ist keine Entschuldigung. Aber egal, wo warst du denn schon überall?"
Er blieb stehen.
„An der Uni", den Stadtbesuch verschwieg ich. „Und in der einen Bäckerei."
„Okay, dann haben wir ein großes Gebiet, was wir abkämpfen müssen, damit du dich hier auskennst."
Und er hielt Wort. Ich sah an diesem Tag jede Touristenaktration die man kennen sollte, wenn man hier wohnt. Außerdem zeigte er mir viele Schleichwege, mit denen man super abkürzen konnte, was mir nicht viel brachte, da ich mich sowieso verlaufen würde.
Als es langsam dunkel wurde, machten wir uns auf in die Innenstadt.
„Ich bringe dich noch zur Uni, nicht dass du auf dem Weg verloren gehst. Das wäre nicht gut", er lächelte mich an. Während des Tages waren wir uns immer mal wieder näher gekommen. Da war was zwischen uns, das konnte ich spüren. Ein Funke, ein Knistern. Hoffentlich spürte er es auch.
„Danke", murmelte ich, als wir das Hauptgebäude erreicht hatten.
„Keine Ursache. Vielleicht können wir uns ja mal wieder sehen. Auf einen richtigen Kaffee. Oder ein Essen?"
Ich nickte nur.
„Man sieht sich", er beugte sich vor und hauchtemir einen Kuss auf die Lippen. Bevor ich wusste, was geschehen war, hatte ersich umgedreht und ging. Wie erstarrt stand ich da und blickte ihm nach.Langsam kroch die fiese Novemberkälte durch meine Jeans. Es wurde Zeit, dassich ins Warme kam.
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