Souvenirs de Souffrance
Folgender OS schaffte es unter die Top 27 Geschichten des europäischen Literaturwettbewerbs 2020 der Jugend-Literaturwerkstatt (Graz). Es wurden in meiner Altersgruppe (14-18) 144 Texte aus unterschiedlichen Ländern (Österreich, Slowenien, Deutschland,....) eingesendet und einige Monate lang bewertet.
Das Thema lautete "anfangen" und sollte eine Anregung für die Texte sein, jedoch hatte ich schon wenige Monate vorher an eine Fanfiction gedacht, die im Ungefähren genau dieses Thema traf. Deshalb habe ich den geplanten Stoff grob in diesem One-Shot verpackt und vielleicht wird er im Laufe des Jahres noch einmal aufgefasst und als richtige Fanfiction verpackt, wie es ursprünglich auch geplant war.
Es tut mir übrigens leid, falls die Charaktere zu sehr Out Of Character geworden sind. Ich wollte mich nicht zu sehr auf die canon Charaktere von Britain und France verlassen, wegen eventuellem Copyright beim Wettbewerb und dem Fakt, dass der aufgearbeitete Stoff eine leicht abgeänderte Persönlichkeit einfach verlangte, um zu funktionieren.
Aber nun viel Spaß beim Lesen!^^
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Souvenirs de souffrance - Schmerzliche Erinnerungen
Die Zeit, sie verbirgt und erzählt so vieles,
Sie überrascht uns, zeigt Facetten außerhalb unseres eigentlichen Zieles.
Man kann sie weder vorhersehen, noch lenken,
Sie übertrifft jegliches menschliches Denken.
Doch hält sie uns manch' Freude bereit,
Die wie eine Blume im Frühling nach der lieben Sonne schreit.
Leise prasselte der sanfte Nieselregen gegen die ungeputzte Fensterscheibe. Das klare, rau klingende Geräusch eines Bleistiftes, der über ein Blatt Papier glitt, war das Einzige, was das regelmäßige Trommeln und Rauschen der Wassertropfen unterbinden konnte. Das Licht einer einzelnen Kerze, deren Flamme nach und nach zu erlöschen drohte, spendete mir allein durch den majestätischen Schein eine gewisse Wärme und Zufriedenheit, die ich seit langer Zeit in meinem Leben vermisste.
Gelangweilt und mit einem Schimmer von Müdigkeit in meinen Augen, betrachtete ich meine, vom Minenstaub des Bleistifts verdreckte, Hand und beachtete die kleine Skizze nur vage. Immerhin wusste ich nur zu gut, welches Motiv sie aufzeigte und wie sehr mich genau dieses Motiv zutiefst verletzte und mein Herz in Scherben brach. Ein bedrücktes Seufzen verließ meine trockenen Lippen, ehe ich das Bild gezielt umdrehte, um dem Schmerz, den ich darin fand, zu entgehen.
„Ich hätte es wissen müssen", wisperte ich mir selbst zu, raufte mir die zerzausten blonden Haare und ließ den Kopf schließlich in die stützenden Hände sinken. „Es war doch vorhersehbar. Es war so verdammt vorhersehbar...Warum bin ich dieses Risiko denn überhaupt eingegangen, wenn ich doch wusste, wie sehr es mich zerstören würde?" Ich wusste die Antwort, wollte sie mir aber keineswegs eingestehen. Sie erschien mir so lächerlich, so unglaublich leichtsinnig und naiv, dass ich mir wünschte, ich hätte es nie so weit kommen lassen. Doch egal wie sehr ich es mir auch erwünscht und erbetet hätte, ich wäre immer und immer wieder auf den gleichen beschwerlichen Pfad geschickt worden, der meine Taten und Schritte in eiserne Ketten legte und mich kaum vorankommen ließ.
Denn letzten Endes hätte ich mich erneut dafür entschieden. Letzten Endes hätte ich mir diese Last ein weiteres Mal auf die Schultern geladen und diese Qualen willkommen geheißen. Denn hinter diesem Ozean des Schmerzes, dieser Flut, die meinen Körper paralysierte und untertauchte, wartete ein Funke Zufriedenheit und Hoffnung, eine schützende Insel, auf mich, die mich von Allem befreien würde.
Ich schwelgte wieder in Erinnerungen, rief Geschehnisse aus alten Zeiten zurück. Zeiten, die so unbeschwert und sorglos vorbei gingen und nun in die Gegenwart reichten. Zeiten, deren Momente ich wie einen kostbaren Schatz in meinem Herzen aufbewahren wollte. Sie machten mich glücklich und doch brachten sie wie die Dornen einer wilden Rose mein Inneres zum Bluten. Denn auch diese kleinen Details meines Lebens kreisten um den einen Grund meines Leids; um eine Person, an deren Seite ich zerbrach, während ich verzweifelt versuchte, sie vor ihrem Zerfall zu bewahren. Wir beide litten. Wir beide hatten unsere Gründe, wobei ich bezweifelte, dass er die meinen wahrgenommen hatte.
Ich schüttelte den Kopf. Ich verlor mich zu sehr in meinem eigenen Selbstmitleid, wobei sein Wohlergehen für mich höchste Priorität sein sollte. Ich war zu egozentrisch und selbstsüchtig geworden, oder nicht?
Seufzend erhob ich mich von meinem Platz, wagte einen raschen Blick aus dem Fenster und erkannte die dunklen Gewitterwolken, die den ehemals strahlend blauen Himmel verdeckten. Es regnete nun schon seit Tagen und es machte nicht den Eindruck, bald aufzuhören. Vielleicht waren es auch die kühlen Regentage, die mich mit ihrem trüben Anblick besonders melancholisch stimmten.
Sie kamen mir mit Bildern entgegen. Bilder, die mit ihrer Bittersüße sowohl Schönes, als auch Schreckliches in Erinnerung riefen. Schönes, wie ein gemeinsames Suchen eines Unterstandes bei den häufigen Frühjahrsgewittern. Schreckliches, wie die vielen Streitigkeiten, die wir im Laufe der Jahre angesammelt hatten. Ich erinnerte mich gut an beides, an jede schöne Sekunde der Zeit als wir noch Kinder waren, aber auch an jene furchtbaren Augenblicke, die für mich wie Höllenfeuer auf Erden waren.
Ich erinnerte mich gut an meine Kindheit, besonders an den Teil, den ich in Frankreich verbringen durfte, bevor ich zurück nach Großbritannien zog. Ich war um die sieben Jahre alt gewesen, als ich meine neue Nachbarschaft in einem fremden Land mit einer mir unbekannten Sprache kennenlernte. Ich hatte kein Wort verstanden, was meine Eltern zu diesen Menschen sagten. Ich war immerhin noch ein kleines Kind und Französisch war mir unbekannt. Ich hatte mich hoffnungslos verloren gefühlt, sogar ziemlich ähnlich wie jetzt, und war voll und ganz auf die Hilfe meiner Eltern angewiesen. Doch dann traf ich auf diesen Jungen. Er war ebenfalls sieben gewesen, hatte im Garten der Wohnanlage mit einem Ball gespielt und mich beim Erkunden entdeckt. Auch er war mir zunächst mit Französisch entgegengekommen, doch als er bemerkte, wie verunsichert ich die ganze Zeit herumirrte, wechselte er plötzlich auf Englisch.
Ich lächelte schwach.
Selbst wenn sein Englisch damals ziemlich gebrochen und ausbaufähig klang, war ich mehr als glücklich gewesen, jemanden gefunden zu haben, mit dem ich reden konnte. Der blonde Junge entpuppte sich schließlich als Francis, dessen Appartement direkt neben dem meinen lag, weswegen ich ihn, wohl oder übel, täglich sah. Wir lernten vieles voneinander. Während er mir Stück für Stück in meinem neuen Alltag aushalf und mir wenigstens ein paar Wörter und Phrasen seiner Sprache beibrachte, war ich derjenige, der ihm das Englische näherbrachte. Es hatte dazu geführt, dass wir viel Zeit miteinander verbrachten, vielleicht sogar innerhalb weniger Woche gute Freunde wurden, die sich im Laufe der Zeit nicht mehr vorstellen konnten, ohne den anderen zu sein. Francis hatte mich oft gegen die älteren Nachbarskinder verteidigt, deren täglicher Spott meiner Herkunft zugrunde lag. Ich hatte es als Siebenjähriger nie verstanden, geschweige denn bemerkt, dass das der Grund gewesen sein könnte, weshalb ich nur schwer Anschluss fand.
Erst im Nachhinein, als junger Erwachsener, als ich hier so vor dem angeschlagenen Fenster stand, bemerkte ich die möglichen Indizien für ihr Verhalten. Ich bemerkte sie und fand sie augenblicklich mehr als absurd. Weshalb wurde man verstoßen und schief angeguckt, wenn die Herkunft nicht mit dem Land, in dem man nun aufwuchs übereinstimmte? Warum verurteilten Menschen jemanden, bevor sie einen überhaupt kannten? Warum waren manche Menschen so hasserfüllt und sahen nur die Dinge, die für sie negativ erschienen, wenn es doch durchaus Positives gab?
Ich wusste es nicht. Nicht einmal jetzt war ich mir sicher, es zu verstehen. Jedoch blieb mir eines immer im Klaren. Dieser Nachbarsjunge, Francis, der mir damals in der Finsternis meiner Orientierungslosigkeit Halt gegeben und mich nicht auf Anhieb verstoßen hatte, hatte mein angsterfülltes Leben erleuchtet, geprägt und in Farbe getaucht. Er war da, als ich ihn am meisten brauchte...aber, war ich das in diesem Moment auch?
Mein Blick verfinsterte sich und ich wandte mich vom Fenster ab.
Ich hatte es versucht. Ich hatte es wirklich versucht, auch wenn mein Verstand mir von der ersten Sekunde an weiß machen wollte, dass es nur in einer Misere enden würde. Ich wollte ihm helfen; vielleicht hatte ich es sogar schon getan, ohne mir dessen voll und ganz bewusst zu sein. Denn auch ihm ging es für lange Zeit miserabel.
Ich warf einen müden Blick auf die Uhr, las die Uhrzeit ab und bemerkte, dass es bereits vier Uhr morgens war. Kopfschüttelnd fuhr ich mir durch die Haare und bahnte mir meinen Weg ins Badezimmer. Ich musste mich auf andere Gedanken bringen und hoffentlich meine ganzen Sorgen mit einem Bad davonschwemmen lassen.
***
Das heiße Wasser brannte gerade noch angenehm auf meiner geröteten Haut, der zentimeterhohe Schaum verdeckte meinen blassen Körper und das Rauschen des eingeschalteten Wasserhahns löste Ruhe und Ausgeglichenheit in mir aus. Ich spürte die sanften, unscheinbaren Wellen gegen mich preschen, bildete mir ein, das Gekreische der Seemöwen gehört zu haben und wünschte mir für einen Moment, wieder an der englischen Küste entlang laufen zu können.
Es waren Augenblicke wie diese, die mich aus meinem grauen Alltag herausrissen und mich allezeit einen kühlen Kopf behalten ließen. Augenblicke, in denen ich einfach alle Sorgen abstreifen konnte, die mir das Leben unnötig erschwerten. Ich war frei. - Frei von meinen inneren Dämonen, wenn auch nur für begrenzte Zeit. Ich konnte tief durchatmen, einfach vergessen und diesen kleinen Funken der momentanen Zufriedenheit für mich allein behalten. Ich atmete tief ein, schmeckte die erhitzte Luft quasi auf meiner Zunge und tauchte in Sekundenschnelle mit dem Kopf ins Wasser ein. Umarmende Wärme, Sicherheit und ein tranceartiger Zustand unterwarfen meinen Körper sowie meinen Verstand, pausierten sie, bis ich mich vollkommen in der sinnlichen Schwerelosigkeit des Wassers verlor. Ich verweilte einige Sekunden in diesem Zustand, ließ das Gefühl des immer dringlicher werdenden Sauerstoffs auf mich einwirken und tauchte letzten Endes wieder auf. Blonde Strähnen klebten wie feuchte Tentakel auf meiner Stirn, weswegen ich sie mir kurzerhand mit einer einzelnen Handbewegung nach hinten strich. Ich atmete aus und ließ meinen trägen Blick durch den Wasserdampf gefüllten Raum gleiten; vorbei an zahlreichen Deodorants, dem ein oder anderen Rasierer und Schaumbäderflaschen, immer weiter, bis zur obersten Ablage meines Badezimmerschranks, die mir ein Fitzelchen schwarzen Filz zusammen mit schöner Federpracht offenbarte.
Ich grinste schief, als ich den alten Federhut darin erkannte, den ich vor acht Jahren bei einer Schulaufführung trug. Er war zwar bereits etwas eingestaubt, aber nichtsdestotrotz wirkte er immer noch mächtig und besonders auf mich ein wie am ersten Tag.
Ich ließ mich zurück ins Wasser sinken, den Kopf noch voll und ganz bei der Aufführung habend. Es geschah im Sommer kurz bevor ich mit meinen Eltern zurück nach Großbritannien zog. Meine Schule hatte die Idee gehabt, einige geschichtliche Ereignisse per Theaterstück besser zu veranschaulichen und ich war tatsächlich überrascht wie viel Spaß so ein zeitaufwendiges Projekt machen konnte. Das Auswendiglernen meines Skriptes war zwar ein Kreuz im Nacken, jedoch bereitete mir das Zusammenstellen eines Kostüms und gemeinsame Proben auf der Bühne mit Requisiten sowie die Aufführung selbst eine Freude, die ich nicht einmal anständig zu beschreiben vermochte. Das Licht des Scheinwerfers war auf mich gerichtet, die Blitze von Smartphones strahlten mir wie ein Meer aus Sternen entgegen. Mein Herz hatte rasant und federleicht gegen meine Brust gehämmert und ein automatisches Grinsen zeichnete sich im Eifer des Gefechts auf mein Gesicht, das ich kaum unterdrücken konnte. Ich schritt mit Puddingbeinen über das Parkett, hatte mir meinen Text im Schnelldurchlauf erneut eingeprägt und beobachtete, wie Francis – der meinen Gegenspieler darstellte – mir mit der gleichen siegessicheren Grimasse entgegenschritt. Kurz bevor wir uns schlussendlich gegenüberstanden und das lodernde Feuer innigster Motivation in den Augen des jeweils anderen fanden, setzte mein Herz für einen raschen Augenblick aus und die Zeit blieb förmlich stehen. Mein Lampenfieber schien wie ein Eisblock zugefroren zu sein, meine Nervosität hatte ich hinuntergeschluckt, jegliche Hintergrundgeräusche verschwammen und wanderten in eine fiktive andere Welt. Denn in diesem Moment war alles unwichtig. In diesem Moment gab es nur Francis und mich. Francis, ich und der Kampfgeist, sein Bestes zu geben und den anderen zu übertrumpfen. Spott und Hohn sowie eine reine, brüderliche Rivalität spiegelten sich in seinen königsblauen Seelenspiegel - die Augen – wider und ich war überzeugt, dass er auch dasselbe in den meinen fände.
Ich lächelte betrübt und doch erleichtert.
Ich hatte mich damals, trotz des Drucks, der auf mir lag, erhabener und wohler gefühlt als je zuvor. Ein Gefühl der tiefen Verbundenheit, dass sich wie eine schleichende Katze an mich heranpirschte, überfiel mich mit der Schnelligkeit eines Augenzwinkerns und zog mich in seinen aussichtslosen Bann. Ein Bann, der vielleicht mehr Bedeutung hatte, als vorerst gedacht.
Langsam füllte sich der Raum mit hellem Sonnenlicht, kleine Lichtstreifen malten sich auf den Badezimmerboden ab und es wurde zunehmend wärmer. Womöglich würde es bald fünf werden, dachte ich, bereits das Shampoo in der, vom Wasser schrumpeligen, Hand haltend. Ich hatte also noch Zeit, einen kurzen Morgenspaziergang zu machen, ehe ich zur Arbeit ging, weswegen ich mir hastig die Haare wusch und schnellstmöglich die Badewanne verließ. Doch mein Kopf steckte immer noch in der lästigen Vergangenheit, spielte alte Erlebnisse ab und ließ die bittersüße Nostalgie in mir sprießen.
Während ich mir die Haare trocken rubbelte, reflektierte ich meine Jugendzeit, die die ein oder andere Phase aufrief, für die ich mich im Nachhinein in Grund und Boden schämte. Ich erinnerte mich an die vielen Streiche, an meine fehlende Motivation für alles und die häufigeren Streitigkeiten, die ich gemeinsam mit Francis ausgetragen hatte. Sogar die gegenseitigen Sticheleien, nachdem wir uns mit anderen Schülern beinahe krankenhausreif geprügelt hatten, blieben nicht aus.
Ich kicherte und erschrak. Es war lange her, seit ich das letzte Mal so sorglos vor mich hin gegluckst hatte, geschweige denn, mich in irgendeiner Art und Weise gut gefühlt. Dass mir die Fähigkeit, über Vergangenes zu lachen, noch nicht zur Gänze verwehrt war, beruhigte mich ungemein. Ich empfand also noch Emotionen außer anregungsloser Leere und Trauer. Sie waren zwar schwach und schienen der langen Betäubung noch zu Teils Untertan zu sein, aber sie existierten. Sie waren nicht verschwunden. Sie hatten Chancen zu überleben. Und genau dieses Wissen, dass es vielleicht doch noch einen Funken Hoffnung für mich gab, hielt mich auf dieser grausam-wundervollen Welt voller Verlust und Lügen sowie Vertrauen und Liebe.
Es war ein Teufelskreis; es war wie ein Spiel. - Einem Zusammenspiel aus Licht und Schatten, den zwei Seiten derselben Münze, die nicht ohneeinander zu existieren vermochten. Leid und Liebe - so gegensätzlich sie auch erschienen – sie gingen Hand in Hand miteinander.
Der brennende Schmerz etwas verloren zu haben; diese Leere, die nach der Seele lüsterte und die Persönlichkeit eines Menschen von innen heraus wie ein hungerleidender Wolf auffraß, sie beide waren der Hölle auf Erden gleich. Eine emotionalen Hölle, die dir das Leben in einen faden Grauverlauf tunkte und dich im Schutz deiner eigenen Mauern elendig verhungern ließ, bis selbst der letzte, noch so winzige Sonnentropfen vor deinen Augen erlosch.
Ich keuchte auf. Meine Atmung wurde schwerer und unregelmäßiger; mein Herz pochte in Höchstgeschwindigkeit. Der Stress nagte an meinen Nerven und ich wünschte mir, ich wäre augenblicklich in einen zeitbegrenzten Zustand der Bewusstlosigkeit gefallen. Ich schluckte und klopfte mir gegen die Brust. Ich bemühte mich, Ruhe zu finden und das hoch gekommene Leid ein weiteres Mal hinunterzuschlucken, doch es weigerte sich und die Erinnerungen preschten in voller Farbe auf mich ein.
Eifersucht, Realisation, Wut, Mitleid und Verzweiflung...jene fünf Dinge hatten mein bisheriges Leben aus der Bahn geworfen, hatten es neu gestaltet und es in ein tiefes, schwarzes Loch, ohne Fluchtmöglichkeiten befördert.
Die Eifersucht, als Francis mir das zarte und doch impulsive Mauerblümchen Jeanne vorstellte, sich mit ihr verlobte und schließlich heiratete.
Die Realisation, Gefühle für jemanden zu hegen, der unerreichbar war, der mich ohne Weiters hätte verstoßen können.
Die Wut, die in mir entbrannte, als ich aufgrund eines heftigen Streits mit Francis auseinanderging, den Kontakt abbrach und jegliche Gedanken an ihn unterdrückte.
Das Mitleid, das ich empfunden hatte, als mir Francis ein Jahr später von Nerven zerfressen und völlig fertig schrieb, dass Jeanne bei einem Feuer umgekommen war, mich um Vergebung bat, sich für alles entschuldigte und schließlich als verzweifeltes, gebrochenes Wrack, das er zurzeit gewesen war, meine Hilfe erhielt, indem ich nach Frankreich reiste.
Und die bittere Verzweiflung, als ich an eigenem Leib erfuhr, dass ich nie über ihn hinweg gekommen war und der stetigen Angst unterlag, für ihn vielleicht nichts weiter als ein schlechter Ersatz seiner Frau gewesen zu sein, während er mit meinen Gefühlen womöglich unbewusst spielte und mich dabei in meinen selbsterschaffenen Käfig aus Zweifel, Hemmungen und Ängsten sperrte.
Und nun befand ich mich hier. Zuhause in England, von meinem besten Freund geflüchtet, da ich dem Druck nicht länger stand halten konnte...da ich unsere letzte, hitzige Konversation nicht einfach zu verdauen vermochte.
Leise begann ich, zu zählen. „Eins, zwei, drei, vier...", zischte ich, den Blick in die Höhe werfend, als ich stückchenweise wieder die Ausgeglichenheit ansteuerte. „Fünf, sechs, sieben, acht", als ich mich endlich beruhigte und klaren Kopfes mein Badezimmer verließ.
Es war von nun an nur noch eine Frage der Zeit, bis ich mich aus diesem Gestrick aus eigener Zerstrittenheit befreien könnte und meine Sorgen in den tiefsten Tiefen des Meeres versänken.
***
Eisiger Wind, der durch die engen Gassen der Stadt pfiff und meine Haare vorsichtig aufplusterte, peitschte mir mitsamt seinem Frost ins Gesicht und färbte Nasenspitze sowie Ohren in ein lebendiges Kirschrot. Die Kälte betäubte jene Körperteile und verursachte ein grausiges Stechen im Hals, sodass ich es mit der Zeit bereute, mir keine Haube mitgenommen zu haben. Atemwölkchen stiegen zum Himmel hinauf, der seine ehemals klare, azurblaue Farbe hinter einer dicken Wand grauer Wolken versteckte. Meine Schritte hinterließen ein rhythmisches Klacken und schienen neben dem Rauschen vorbeizischender Autos das einzige vernehmbare Geräusch um diese Morgenstunde zu sein.
Ich hatte mich dazu entschieden, eine kurze Runde durch die Altstadt zu drehen. Meine frierenden, rot gefleckten Hände steckten in den Jackentaschen, mein Blick galt eher dem Boden als der schönen Umgebung. Und was geschah mit meinen Gedanken? Sie hingen ein weiteres Mal an dem Franzosen, den ich trotz aller Pein und Zweifel nicht loslassen wollte. Ich konnte und wollte ihn nicht gehen lassen, über ihn hinwegkommen oder ihn schlicht und einfach vergessen. Er war mir zu wichtig geworden. Er hatte mich zu sehr geprägt. Er war immer für mich da gewesen, wenn ich ihn brauchte, im Gegensatz zu mir. Jedes Mal, wenn ich mich bemühte, ihm zu helfen, endete es in einem Chaos. Es wunderte mich, weshalb Francis unseren Kontakt nicht schon viel früher abgebrochen hatte. Und es wunderte mich noch mehr, dass er ausgerechnet meine Hilfe ansuchte, als er sein trauerndes Herz ausschütten musste.
Aber auch ich war von meiner eigenen Spontaneität überrascht. Ich hatte zugelassen, mit ihm zu schreiben, den Kontakt wiederaufzubauen und hatte jegliche Ärgernis gegenüber ihm verfliegen lassen. Ich war allen Ernstes nach Frankreich gereist, hatte ihn besucht und war zutiefst erschrocken über seinen seelischen Zustand, der sich zudem auch an seinem Äußeren widerspiegelte. Er war ein Wrack gewesen, völlig am Ende und in tiefster Trauer versunken. Francis musste Jeanne sehr geliebt und vermisst haben, und ich hatte mich entschieden, ihn zu unterstützen, um ihm die Trauer zu erleichtern. Ich ging mit ihm gemeinsam zum Friedhof, unternahm kleine, einfache Ausflüge, um ihn abzulenken und nach vielen Wochen und vielen gescheiterten Versuchen, hatte er sich mir wieder geöffnet und mein Herz machte Freudensprünge, als es den Funken Hoffnung in Francis' Augen aufblitzen sah.
Meine Mundwinkel zuckten kurz nach oben.
Von da an schien alles nur noch besser zu werden. Francis lachte mehr, wurde aus seinem Trauerschlaf gerissen und schlug sich wacker voran, bis er wieder beinahe ganz der Alte war. Natürlich hatte ich mich gefreut und mit jedem positiven Ereignis verminderte sich meine stetige Sorge um ihn...Jedoch ahnte ich damals nicht, welche Ängste mir dabei entgegenkämen. Wir hatten uns angenähert. Vielleicht sogar schon zu sehr, sodass es mir Bedenken bereitete. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich unsere Momente der Zweisamkeit nicht genossen hätte. Im Gegenteil, für mich waren sie etwas Besonderes gewesen, etwas, dass ich immer wieder erleben hätte wollen...Es hatte mein Herz zum Flattern gebracht, es mit Freude und Glück gefüllt, bis zu jenem Tag, an dem meine Zweifel die Überhand gewannen.
Denn was wäre, wenn Francis in mir nur einen Ersatz Jeannes sah?
Jene Frage hatte meine neu gefundene Welt aus Glück mit den Hoffnungen auf erwiderter Liebe in tausende Scherben zerschlagen. Ich fragte mich nur noch diese Frage, wo auch immer ich mich aufhielt...Egal, ob ich zuhause war oder mich bei meinem Freund aufhielt, es war ein endloser Teufelskreis, der mich in den blanken Wahnsinn trieb.
Denn ich war zu der Zeit in sein Leben getreten, als ihn seine Liebe verließ.
Denn ich hatte alles dafür gegeben, dass sich seine Welt wieder dem Positiven zuwendete.
Denn ich...ließ ihn von mir abhängig werden, seien es auch nur Monate gewesen.
Und vielleicht waren die Gefühle, die er eventuell für mich hegte, lediglich aus der Not entstanden. Aus der Not, wieder zu lieben; wieder jemanden bei sich zu haben. Ich liebte ihn und ich wollte zurückgeliebt werden, aber...ich wollte nicht als Ersatz geliebt werden, sondern für mich selbst; für die Person, die ich war...
Lustlos achtete ich auf die Ampel, wartete bis sie grün wurde und überquerte diese schnellen Schrittes.
„Verdammt!", dachte ich und legte einen Zahn zu. Dieses letzte hitzige Gespräch zwischen uns, kurz bevor ich abreiste, hatte mich am meisten getroffen. Ich erinnerte mich nur noch vage daran. Meine damalige Wut hatte mir die Sicht vernebelt und meine Ohren betäubt. Das meiste war aus meinem Gedächtnis verbannt und egal wie sehr ich mich konzentrierte, es war nie genug, um alles klaren Kopfes zu sehen. Ich hatte ihn mit meinen überschüssigen Gefühlen konfrontiert, hatte ihm mein Herz und meine Sorge unter hervorgepressten Schreien und Schluchzern ausgeschüttet und jegliche gut gemeinten Worte abgelehnt. Ich wollte raus. Raus aus mir, raus aus dieser Welt, raus aus all der Konfrontation. Dabei hatte ich ganz vergessen, was...
Ich stockte und blieb augenblicklich wie vom Blitz getroffen auf der Stelle stehen.
Was...er mir damals sagte.
Vor Schreck hielt ich mir meine Hand vor den Mund, meine Atmung blieb aus und meine Gliedmaßen waren auf einmal wie paralysiert.
Ich erinnerte mich. Plötzlich wurde es mir klar. Alles schien Sinn zu ergeben, all die aufgestaute Negativität, die sich wie ein Mobile um mich drehte, schien stehen zu bleiben. Es war, als hätte man mir einen schweren Mantel von den Schultern genommen, den ich seit Stunden trug. Diese Erleichterung, diese Verwirrung, lieferte mich binnen weniger Sekunden der Außenwelt schutzlos aus und zwang mich dazu, einen selbst gewählten Ausweg zu finden. Seine letzten Worte, Francis Worte, ich konnte sie hören; ich konnte sie tatsächlich verstehen! Und jene Realisation, jene gesagte Phrase, zischte wie ein eisiger Windzug an mir vorbei, streifte meine Ohren und kitzelte im Rachen.
„Ich hätte gar nicht gewusst, wie ich hätte überleben sollen, wenn du nicht gewesen wärst. Ich wäre eingegangen, wäre verendet. Du hast mir geholfen, als ich dich brauchte. Das warst du, nicht Jeanne. Ich habe dich immer als dich gesehen und niemals anders, denn du bist du. Und dafür liebe ich dich, Arthur."
Und ich rannte los. Ich rannte ins Ungewisse, mit der Klarheit im Rücken. Ich bereute mein Verschwinden, aber akzeptierte und wollte Vergebung. Ich legte meine graue Welt ab, ließ die grellen, lebendigen Farben aus meinem ehemals steinernen Herz durchbrechen, bis sie meine Sicht auf die Welt wieder farbenfroh gestalteten.
Ich rannte weiter, passierte die schöne Themse, erreichte einen schmalen Gehweg und wurde langsamer. Mein neu gewonnener Blick richtete sich auf das herzerwärmende Morgenrot und ich genoss den Augenblick als ob es mein letzter wäre. Dieser plötzlicher Gemütswechsel pumpte wie verrückt Adrenalin durch meinen Körper, sodass ich kaum noch still sein konnte. Ich wollte schreien, wollte die ganze Welt umarmen, ich wollte...mich bei Francis ein für alle Mal entschuldigen und von vorne anfangen. Ein weiteres Mal...
Ich wandte mich mit leichtem Lächeln von dem Ausblick ab und tendierte bereits dazu, weiterzugehen. Doch dann...erstarrte ich. Denn ich sah einen Mann in der Ferne, dessen Statur Francis ebenbürtig war. Es war dasselbe spitze Kinn, dasselbe kinnlange blonde Haar und je näher er mir kam und je mehr ich mich im Blau seiner Augen verlor, wusste ich, dass es Francis selbst war.
Ich hielt die Luft an.
Und vielleicht...nur vielleicht sollte ich anfangen, dieses Gefühl in meiner Brust einfach zu umarmen.
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