Kapitel 3 - Will
Es war ein einmaliger Zwischenfall. Wills Kopf gehörte ihm und niemandem sonst und er hörte keine seltsamen Stimmen mehr. Ein paar Tage lang zumindest. Als Will am Donnerstag auf dem Weg nach Hause war, ertönte in seinem Kopf ein zaghaftes Hallo? und Will blieb beinahe das Herz stehen. Er begann zu hyperventilieren und musste sich setzen. Zum Glück war er gerade im Park und konnte sich einfach gegen einen Baum lehnen.
Er schloss die Augen, fest. Warum wurde er jetzt plötzlich verrückt? War die neue Schule so eine Belastung für seine Psyche? War er so einsam, dass sein Gehirn sich jemanden zum Reden für ihn ausgedacht hatte?
Ist da jemand?, fragte die Stimme.
Konnte man sich überhaupt Stimmen ausdenken, die man nie zuvor gehört hatte? Denn diese hier war ihm vollkommen unbekannt. Und wenn sein Gehirn das verzapfte, dann brauchte es doch nicht erst zu fragen, ob er zuhörte?
Wer bist du?, fragte Will zurück. Bist du real?
Das wollte ich dich auch fragen. Wie heißt du? Wenn es dich echt gibt.
Was in Herrgotts Namen ging hier eigentlich vor? Hörte er die Stimme eines Fremden in seinem Kopf, der sich genau dieselben Fragen stellte, wie er selbst? Das gab es doch nicht wirklich. Solche Sachen waren Science-Fiction, aber nicht Realität. Oder es war Voodoo oder so was.
Ich heiße Will, antwortete Will nach einer Weile.
Der Andere antwortete lange nichts. Will?
Ja.
Ich bin Dean. Was machst du in meinem Kopf?
Was machst du in meinem Kopf, Dean?
Dean schickte ein Lachen durch die wie auch immer geartete Leitung, die sie verband. Will ertappte sich dabei, wie er lächelte. Wenn er verrückt wurde, dann fühlte es sich immerhin gut an. So ging es vermutlich den meisten Leuten, bevor sie richtig ausflippten und man sie in Zwangsjacken steckte. Nein, Herr Doktor, da ist wirklich ein Junge in meinem Kopf.
Immerhin passen unsere Geschichten zusammen. Will konnte das Schmunzeln in Deans Stimme hören.
Das hast du gehört, eben?
Jep.
Will blickte durch die sich bereits verfärbenden Blätter des Baumes unter dem er saß, in den blauen Himmel.
Hast du denn keine Angst, dass du durchdrehst?, fragte Will beklommen in die Stille in seinem Kopf hinein.
Warum sollte ich? Wenn es so ist, kann ich sowieso nichts dagegen tun und lieber meinen Spaß haben.
Das war eine bewundernswerte Einstellung, fand Will. Er selber machte sich immer um alles zu viele Sorgen.
Okay. Er atmete tief durch. Ich hätte trotzdem gerne irgendeinen Beweis dafür, dass es dich wirklich gibt.
Hmm, antwortete Dean. Ich wohne in Minnesota, niemand würde sich das ausdenken.
Will lachte – laut und nicht nur in seinem Kopf. Erschrocken schlug er sich die Hände vor den Mund, aber das Lächeln blieb. Dean wurde freigiebig mit Informationen, während Will sein Handy in die Hand nahm und auf ein Stichwort wartete, das er googeln konnte.
Mein bester Freund heißt Lemon, ich hab im Sommer zu viel Eiscreme gefuttert und komme vielleicht nicht wieder in die Startaufstellung fürs Staffellaufen. Und vor ein paar Tagen hat mich mein Ex geküsst.
Wow. Selbst die Stimme in seinem Kopf hatte ein aufregenderes Leben als Will.
Du machst Staffellauf?
Ja ... du kannst mich googeln, aber die Bilder sind peinlich. Such nach Dean Sawyer.
Genau das tat Will, während Dean in seinem Kopf ungeduldig summte. Und er fand sogar tatsächlich Ergebnisse für einen Dean Sawyer, der letztes Jahr mit seinem Team erfolgreich an einer Meisterschaft teilgenommen hatte. Er betrachtete ein Gruppenbild mit vier Jungs.
Welcher bist du?
Sag ich nicht, ehe du mir nicht was über dich erzählst.
Will stöhnte, dann fiel ihm wieder ein, dass er allein in einem öffentlichen Park saß. Es war seine erste Woche hier und er drehte bereits durch.
Ich bin Will Fleming, William eigentlich. Bin gerade nach St. Louis gezogen. Mehr gibt es eigentlich nicht so wirklich zu erzählen.
Quatsch! Du hörst dich interessant an, also los, weiter!
Will grinste wieder unfreiwillig. Wie schaffte Dean das bloß?
Mein Dad ist Botschafter, den findest du online. James Fleming.
Eine Weile herrschte Schweigen. Will betrachtete das Gruppenfoto der vier Jungs mit einem goldenen Pokal. Einer von ihnen lachte besonders offen in die Kamera, mit funkelnden Augen. Er hoffte und fürchtete gleichzeitig, dass das Dean war, denn falls Will so etwas wie einen bevorzugten Typ hatte – das war er. Falls das Dean war, dann strotzte er nur so vor Selbstvertrauen, was zu der Art, wie er mit Will redete, zu passen schien.
Oh mein Gott!, Dean schickte aufgeregte Vibrationen durch die Verbindung. Du hast einen Essay-Preis gewonnen? Du siehst so niedlich aus, wie du die Medaille hältst!
Will wurde augenblicklich blass. Davon sind Bilder im Internet?!
Alles ist im Internet, gab Dean trocken zurück.
Jetzt weißt du, wie ich aussehe, erwiderst du den Gefallen?
... ich bin der zweite von links. Der sich ein Loch in den Bauch freut.
Oh nein. Es war genau wie befürchtet. Dean war ein gutaussehender, erfolgreicher Sportler, was machte so jemand in Wills Kopf? Leute wie Dean fanden Leute wie Will in der Regel langweilig.
Will biss sich auf die Zunge. Er musste sich wohl oder übel eingestehen, dass er nicht wahnsinnig wurde, sondern die Stimme eines tatsächlichen Jungen in seinem Kopf hörte und sich mit ihm unterhalten konnte. Er speicherte das Bild und schickte es kommentarlos an Tina.
Bist du noch da?
Ja, antwortete Will. Du siehst gut aus auf dem Bild.
Peinlich! Und Will konnte nicht mal weglaufen und der Konversation entfliehen, denn sie fand in seinem Kopf statt!
Dean lachte. Danke! Warte, bis du ein Selfie von mir siehst.
Japp, strotzend vor Selbstbewusstsein. Kein Wunder, dass seine Exfreunde ihn einfach so küssten und ihn zurückhaben wollten.
Oh, Gott sei Dank können wir nur Audio senden, da hab ich Glück gehabt, witzelte Will.
Dean machte eine Bemerkung über Schlagfertigkeit, ehe er sich verabschiedete, weil er sich aufs Training konzentrieren musste.
Will stand auf und machte sich wieder auf den Heimweg. Dort angekommen setzte er sich an den Computer und schrieb Tina an, die natürlich sein Bild gesehen hatte und tausend Fragen stellte.
>Es geht um den zweiten von links. Er heißt Dean.
<Ist er auf deiner Schule? Bist du in ihn verknallt? :p
>Weder noch. Hör zu, es ist viel, viel verrückter.
<Verrückt ist genau mein Ding. Deswegen mag ich dich so.
Er erzählte ihr die komplette Geschichte mit allen Details. Tina vertraute er genug dafür, sie würde ihn nicht im Stich lassen oder ihn verurteilen.
<Klingt für mich nach Telepathie.
>Ist das nicht ein Mythos?
<Es ist Parapsychologie...
>Also ein Mythos.
<Sag du es mir, Will. Du redest in deinem Kopf mit jemandem aus Minnesota und erzählst mir, Telepathie gibt es nicht?
Punkt für Tina. Er beendete die Diskussion, weil er eigentlich ganz anderes vorhatte. Es wurmte ihn trotzdem. Will mochte die Wissenschaft und war persönlich beleidigt, weil sie ihm bei diesem ersten richtig wichtigen Problem nicht weiterhelfen konnte.
Er schrieb Tina, er würde sich später bei ihr melden und gab Riley Henson in die Suchmaschine ein.
***
Hey, was machst du gerade?
Dean war offenbar fertig mit dem Training.
Verrat ich nicht, gab Will zurück, weil er die Stimmung nicht derartig killen wollte.
Jetzt erst recht, erwiderte Dean. Zwei Sekunden Stille, dann: Ist es was Unanständiges?
Oh mein Gott, Dean! Nein!
Ich frag ja nur ...
Will seufzte und minimierte das Fenster mit dem Artikel über Riley, den er gerade zu Ende gelesen hatte. Er schaute lieber sein Desktophintergrundbild an, als in das lachende Gesicht eines toten Mädchens zu blicken.
Willst du es wirklich wissen?, fragte er vorsichtig.
Ja, klar!
Er suchte nach Worten, dann erzählte er Dean von dem verfluchten Spind, dem Foto und von dem, was Tyler zu ihm gesagt hatte.
Das Mädchen hat sich umgebracht, weil sie wegen ihrer Sexualität gemobbt wurde und jetzt hast du ihren Spind? Das ist ganz schön heftig, Will.
Ich weiß, oder? Und ... ich meine ... sie war wirklich wunderschön. Sein Blick fiel auf das Herz, das jemand auf die Rückseite des Fotos aus dem Spind gemalt hatte. Und sie wurde von irgendjemandem geliebt. Die Welt macht mir echt Angst, fügte er nüchtern hinzu.
Kann ich verstehen, erwiderte Dean überraschend mitfühlend. Du bist neu, warst allein–
Warst? Vergangenheitsform?
Na ja, jetzt bin ich ja da.
Will musste wieder lächeln. Irgendwie fühlte es sich an, als würde er Dean schon lange kennen. Als könnte er mit ihm über alles reden. Vielleicht, weil er keine richtigen Worte brauchte.
Und du bist auch schwul und hast Angst, dass dir dasselbe passiert wie Riley.
Will verschluckte sich an seiner eigenen Spucke und antwortete nicht. Dann fragte er zaghaft: Woher weißt du das?
Dean lachte. Mein Gaydar ist Todessternlevel akkurat.
Will verdrehte die Augen. Du bist nicht Carrie Fisher.
Rest in Peace, Space Mom, fügte Dean hinzu. Nein, mein Gaydar funktioniert perfekt im Gegensatz zu ihrem. Ich hab doch recht?
... Ja. Aber außer meiner besten Freundin weiß das niemand.
Das ist schon okay.
Will hätte viel darum gegeben, einfach er selbst sein zu können, so wie Dean. Aber er hatte keine Ahnung, wie seine Eltern darauf reagieren würden. Oder seine Oma, oh Gott, sie war so streng und traditionell. Und dann auch noch die Sache mit Riley.
Vielleicht findest du ja einen Weg, die Spielregeln zu ändern, sagte Dean.
Die Spielregeln ändern? Wie sollte er das anstellen, er war doch ganz allein. Nun ja ... nicht ganz allein. Dean war bei ihm. Zwar nur in seinem Kopf, aber vielleicht reichte das schon, um Will den Mut zu geben, etwas zu bewirken.
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Danke an alle Leser und alle die gevotet haben :)
Updates kommen alle 2 Wochen, so ungefähr zumindest, in der Zwischenzeit sind Kommentare natürlich gerne gesehen :p
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