Kapitel 10 - Dean
Normalerweise verabscheute Dean den Winter. Aber dank Will war nichts mehr normal. Minnesota-Grau war plötzlich eine bunte Farbe. Alles fühlte sich so viel wärmer und besser an, nur weil er wusste, dass Will ihn liebte. Lemon verdrehte jedes Mal die Augen, wenn er Dean sah, weil Deans Dauergrinsen „zum Kotzen" war. Sogar Kyara reagierte mit tiefen Seufzern der Resignation, wann immer Dean Will erwähnte. Und er erwähnte Will ziemlich oft. Aber in ihren und Lemons Augen konnte er das erkennen, was wichtig war: Sie freuten sich aufrichtig für ihn.
Seit Alex ihn letzten Frühling nach dem Basketballspiel geküsst hatte, war er nicht mehr so glücklich gewesen. Doch diesmal lauerte nichts Verborgenes in dunklen Ecken, er brauchte keine Geheimnisse haben und keine Angst, dass Will ihn nur wegen seines Körpers wollte. Es war dieses Mal das genaue Gegenteil. Will war ein Wunder, das gar nicht hätte möglich sein dürfen.
„Und weißt du, normalerweise, wenn du jemanden fragst, wie sein Tag war, dann willst du es nicht wirklich wissen", erzählte Dean bei einem Mittagessen aus Hähnchen und Kartoffelbrei, „aber Will ist anders. Wenn er fragt, dann weiß ich einfach, es interessiert ihn wirklich. Er will alles hören, was ich zu sagen habe."
„Ja, Mann, wir haben's verstanden. Will ist viel zu gut um wahr zu sein, blablabla." Lemon stocherte missmutig in seinem Salat.
„Was ist denn heute los mit ihm?", fragte Kyara grinsend. „Er ist ja noch ein bisschen mieser drauf als sonst."
„Ich kann dich hören, ich sitze genau hier."
„Keine Ahnung", erwiderte Dean und ignorierte Lemon geflissentlich. „Vielleicht sollten wir ihn verkuppeln."
„Das wagst du nicht."
„Och, Lemon." Kyara legte einen Arm um ihn und strich ihm mit der freien Hand die dunklen Haare ein bisschen in die Stirn. „Wir finden schon ein Mädchen für dich. Aus dem Buchclub vielleicht, da gibt's ein paar Zynikerinnen."
Lemon stöhnte. „Hör mal, ich hab gar nicht die Energie für eine Beziehung, ich bin quasi sein Elternteil." Er deutete mit der Gabel auf Dean.
„Er hat recht", meinte Dean achselzuckend. „Er ist heimlich mein Dad, weil er irgendwie ein vierzigjähriger Mann im Körper eines Siebzehnjährigen ist."
„Das kommt erstaunlich gut hin", sagte Alessandro lachend.
„Also." Katherine stützte am anderen Ende des Tisches die Ellbogen auf die Tischplatte. „Wann kriegen wir dein Weltwunder von einem Freund eigentlich mal zu sehen?"
Dean grinste und ging in Deckung. Sie fragten ihn das öfters und es war nur verständlich. Er hatte immer noch kein anderes Foto von Will als das von dem Essaywettbewerb. Er hatte auch selber ein enormes Bedürfnis, von Will mit Selfies zugespammt zu werden und beschloss, das bald in Angriff zu nehmen. Warum er das nicht schon längst getan hatte, fragte ihn nicht nur Katherine. Er war sich nicht ganz sicher aber irgendwo lauerte das Gefühl, dass ihre Beziehung vielleicht darunter leiden würde, normaler werden würde durch alltägliche Dinge wie Handynummern austauschen.
Das ist Unsinn, sprach Will das Offensichtliche aus. Als würde ich dir Nachrichten schreiben, wenn ich hier deine Stimme hören kann.
Will hatte recht, natürlich.
Ist da noch ein anderer Grund?, fragte Will weiter.
Ich weiß nicht ... was, wenn du mich nicht attraktiv findest?
Eine Sekunde herrschte Stille, dann schallte Wills Lachen durch die Verbindung. Er lachte laut und lange und Dean, der in seinem Zimmer auf dem Bett lag, wurde rot.
Oh mein Gott, Dean, und du wagst es mich einen Trottel zu nennen?
Entschuldige mal, du bist ein Trottel, gab Dean liebevoll zurück.
Dean, tu nicht so, als wüsstest du nicht, wie gut du aussiehst, sagte Will plötzlich ernst.
Nein, es ist mehr ... das ist subjektiv. Nur weil andere mich ... heißt das noch nicht, dass du auch -
Dean redete sich um Kopf und Kragen, bis Will ihn unterbrach.
Ich habe dich schon gesehen, erinnerte er Dean. In Fort Wayne, weißt du noch? Und auch schon bevor du dein Trikot ausgezogen hast, dachte ich, ich müsste im Boden versinken, wenn ich versuche in deiner Gegenwart ein Wort rauszubringen.
Dean war sprachlos, wie nur Will es bei ihm regelmäßig hinbekam. Der Gedanke daran, dass Will ihn ohne sein Trikot gesehen hatte, trieb Dean eine noch tiefere rote Färbung in die Wangen. Danach brauchte es keine Überzeugungsarbeit mehr, bis Dean Will seine Handynummer gab und sie sich gegenseitig zu ihren Kontakten hinzufügten.
Okay, sagte Will dann, ein bisschen komisch ist es doch.
Dean steuerte dagegen und schickte Will das Bild, das Kyara auf der Halloweenparty von ihm geschossen hatte. Er stand auf der Veranda, neben einer gruseligen Vogelscheuche, hatte ein Bein nach hinten geknickt, wie Mädchen in romantischen Filmen, wenn sie den Mann ihrer Träume küssten. Die Tinkerbell-Perücke saß ein wenig schief, aber sein Eyeliner war perfekt.
Holy cricket, sagte Will. Du hast das echt durchgezogen. Ein Teil von mir hat es bis jetzt bezweifelt.
Zweifle nie an einem Flowerboy, der die Gelegenheit bekommt, ein Kleid zu tragen.
Will lachte wieder. Die Flipflops waren ein guter Einfall übrigens. Ach, und woher kommt das mit dem Flowerboy?
Dean grinste. Normalerweise wäre er jetzt vorsichtig gewesen, weil Exfreunde ansprechen mit neuen Freunden immer ein heikles Thema war, aber Will wusste über Alex ja sowieso Bescheid. Er erzählte also, wie er nach den Basketballspielen immer mit Blumen für die Spieler bei den Cheerleadern gewartet hatte, um Eindruck bei Alex zu schinden. Dean hatte sich schlicht und einfach nicht getraut, nur Alex jedes Mal eine Blume zu überreichen. Das hatte zu Diskussionen in der Basketballmannschaft geführt, auf wen von ihnen Flowerboy es denn nun abgesehen hatte. Alex hatte dann einfach nach einem Spiel die Diskussion beendet und sein Revier markiert. Und damit hatte er auch bis zum Ende der Beziehung nicht aufgehört. Dean bedauerte das schon länger nicht mehr. Seit einiger Zeit war ihm klar, dass er sich auch in Will verliebt hätte, wäre er noch mit Alex zusammen gewesen.
Wie erwartet reagierte Will nicht mit Eifersucht oder Sticheleien auf Deans Geschichte. Gibt's davon auch ein Foto?, fragte er stattdessen.
Du zuerst.
Ich hab gar nicht viele gute Fotos von mir, gab Will zu bedenken, aber Dean ließ ihn damit nicht durchkommen.
Erstens glaube ich dir das nicht, zweitens kannst du jetzt sofort eins machen.
Will murmelte etwas Unverständliches. Ein paar Sekunden später erschien ein Bild auf Deans Display. Es zeigte Will mit vollkommen zerzausten hellblonden Haaren, wie er in der Tür eines Flugzeugs hockte, bereits angeschnallt an einen braun gebrannten Kerl.
Letzten Sommer, kurz vorm Fallschirmspringen, erklärte Will, als wäre es keine große Sache, dass er aus einem Flugzeug gesprungen war.
Dean summte nur und starrte das Bild an. Es war zweifellos derselbe Junge mit demselben schüchternen Lächeln, aber gleichzeitig sah er hier nach so viel mehr aus. Das Lächeln versuchte die Begeisterung zu verbergen, schaffte es aber nicht. Seine blauen Augen funkelten verschmitzt, seine Haut leuchtete, seine Wangen waren rot. Wäre ich nicht bereits bis über beide Ohren verliebt in Will, wäre es spätestens jetzt passiert, dachte Dean. Er stellte das Bild als seinen neuen Hintergrund ein, ehe er sich überlegte, wie er mit Worten irgendetwas dazu sagen sollte.
Ich weiß nicht wie ich das beschreiben soll, sagte er letzten Endes, atemberaubend, vielleicht.
Übertreib nicht so maßlos, kicherte Will.
Ich will mehr, verlangte Dean und wusste doch gleichzeitig nicht, wie er das überleben sollte. Will war nicht nur ein unglaublich toller Mensch, er sah auch noch aus wie ein Engel.
Aber du bist dran, protestierte Will.
Dean grummelte, durchsuchte aber seine Galerie. Es gab kein Bild von ihm, dass es auch nur ansatzweise mit dem von Will aufnehmen konnte, aber er schickte ihm eins, auf dem er mit einem riesigen Strauß Sonnenblumen auf dem leeren Basketballfeld stand.
Flowerboy, kommentierte Will weich. Ich finde deine braunen Augen so schön.
Niemand findet braune Augen schön.
Ich schon. Weil sie nie nur braun sind. Sie sind immer verschieden. Wenn die Sonne untergeht, sind sie selber auch ein kleiner Sonnenuntergang. Manchmal sind sie golden wie Honig, manchmal dunkel wie die Nacht. Braune Augen sind immer so viel mehr als blaue.
Dean erwischte sich bei diesem typischen Lächeln, das nur Will bei ihm auslösen konnte.
Ich bin froh, dass ausgerechnet ein Dichter auf mich steht, scherzte Dean.
Ja, das war kitschig, oder?
Dean musste lachen. Ein bisschen vielleicht.
Will lachte mit ihm.
So vergingen die nächsten Tage wie im Flug. Dean und Will lernten sich auf eine neue Art und Weise noch besser kennen und begannen über noch persönlichere Sachen zu reden. Dean gab in der Schule mit Wills Fotos an, aber ansonsten blieben ihre Handys still. Es stimmte, sie redeten einfach genauso weiter wie vorher.
Eines Abends beschloss Dean, ein paar ernstere Themen anzusprechen. Oder eher, Themen von denen er wusste, dass sie etwas schwierig für Will waren.
Will? Wann ist dir klargeworden, dass du Jungs magst?
Will antwortete nicht sofort. Ich weiß nicht, sagte er nach einer Weile unsicher. Es gab nie einen speziellen ... Moment, oder so. Ich wollte nur nie mit Mädchen ausgehen, selbst wenn sie mich mochten.
Oh und es gab bestimmt einige, die Will gemocht hatten. Blondes Haar und diese blauen Augen, das war eine tödliche Kombination.
Aber du wolltest mit Jungs ausgehen?, hakte Dean nach, als Will nicht weitersprach.
Ich schätze schon? Am Anfang dachte ich, ich mag einfach nur die Mädchen nicht, die mich mochten. Dass ich immer die Jungs beobachtet hab, weil ich dazugehören wollte und so sein wie sie.
Dean schmunzelte. Er saß auf seiner Fensterbank, eine Tasse Kaffee in den Händen, und schaute dem Mond bei seiner Wanderung über den dunklen Himmel zu.
Verstehe ich, sagte er dann. Manchmal, wenn ich jemanden angucke - angeguckt habe - dachte ich, wow, keine Ahnung, ob ich so sein will, oder ob ich ihn einfach so will.
Will lachte leise. Ja, irgendwie so was.
Aber dann ist dir aufgefallen, dass du die Jungs nicht angesehen hast, weil du mit ihnen befreundet sein wolltest?
Will schwieg länger, diesmal. ... es ist peinlich, sagte er schließlich. Wodurch ich es am Ende endlich verstanden hab, war, dass ich ... wenn ich mir vorgestellt habe, ich meine ... du weißt schon. Und wenn ich online war, wegen ...
Pornos?, bot Dean an und stellte vorsichtshalber seine Tasse ab.
Du bist manchmal viel zu direkt, weißt du das?
Dean lachte. Schon okay, Will. Ist nichts falsch an ein bisschen Inspiration.
Findest du?, fragte Will zweifelnd.
Klar. Jeder macht das. Und wenn es das war, was es letzten Endes für dich besiegelt hat, dann bin ich froh, dass es so ist.
Bist du wirklich?
Wills Unsicherheit weckte immer noch manchmal seinen Beschützerinstinkt. Ja, natürlich, bekräftigte er. Ich hätte dich auch gemocht, wenn du hetero wärst. Aber ich liebe den queeren Jungen in meinem Kopf, der so mitgenommen von einem schwarzen, lesbischen Mädchen war, das Selbstmord begangen hat, dass er da rausgegangen ist und eine GSA gegründet hat.
Es dauerte einen Moment, bis Will das alles verarbeitet hatte, damit hatte Dean gerechnet.
Du bist viel zu großzügig, wiegelte Will dann ab. Es war keine große -
Doch, war es, unterbrach Dean ihn sofort. Du hattest Angst. Du wusstest, was sie mit Riley gemacht haben, hätten sie auch mit dir machen können. Du hast es trotzdem durchgezogen, weil du die Welt besser machen willst, als sie jetzt ist. Du machst so was einfach so und hast keine Ahnung, wie großartig du bist.
Dean, oh mein Gott, hör auf!
Wills Verlegenheit war deutlich spürbar. Dean konnte ihn vor sich sehen, mit einem unfreiwilligen Lächeln auf den Lippen und roten Wangen.
Werde ich nicht. Kann ich nicht. Ich bin viel zu gut darin, dir Komplimente zu machen und ich liebe es viel zu sehr.
Das sehe ich, lachte Will.
Und das liebe ich auch, fügte Dean hinzu und lauschte Wills Lachen.
Später am selben Abend, gegen Mitternacht, als die Effekte von Deans Kaffee langsam verloren gingen und Schlaf in greifbare Nähe rückte, meldete Will sich noch mal bei ihm.
Dean? Ist dir an unserer Verbindung irgendetwas aufgefallen?
Dean überlegte, was damit gemeint sein konnte und hörte in die Stille in seinem Kopf hinein. Normalerweise war in seinem Kopf dort so etwas wie ein leerer Raum, wenn Will nicht gerade mit ihm sprach. Heute fühlte der Raum sich aber nicht mehr leer an, sondern irgendwie ... wärmer. Bewohnt. Und etwas anderes fiel ihm ebenfalls auf. Um seine Theorie zu testen, suchte er all seine Bewunderung für Wills Arbeit mit der GSA und seinen Mut aus seinem Inneren zusammen und versuchte dieses wortlose Gefühl in den Raum zu schicken.
Er hörte Will am anderen Ende nach Luft schnappen.
Du hast das gefühlt?, fragte er aufgeregt wie ein kleines Kind.
Als Antwort schickte Will einen Schwall von Verlegenheit inklusive Herzklopfen zurück. Es kam ungefiltert bei Dean an und breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
Von wegen, nur Audio, sagte er, zutiefst fasziniert.
Unsere Verbindung ist tiefer geworden, stellte Will fest. Sie hat sich verändert.
Weil wir uns verändert haben?
Hmm, summte Will zustimmend. Ich glaube, sie wächst mit uns.
Die Möglichkeiten, die sich ihnen boten, waren endlos. Und sie hatten gerade erst angefangen, sie zu erkunden.
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