Kapitel 8: Sol
Ich war stinksauer.
Wie konnte dieser gottverdammte Typ mir nur so einen Schrecken einjagen? Was glaubte er eigentlich, wer er war?
,,Du wirst dich morgen nicht mehr an mich erinnern können'', äffte ich ihn nach – pah, von wegen. Da hatte sein kleiner Zaubertrick wohl nicht funktioniert.
Dieser Idiot.
Wer war er, zu entscheiden, was das Beste für mich war, wenn er doch schon direkt vor mir stand?
Dieser aufgeblasene, arrogante Hohlkopf.
Wenn ich ihm das nächste Mal über den Weg laufe, kann er was erleben. Wehe, er lässt sich von nun an nicht mehr blicken, wütete ich in Gedanken, während ich das Geschirr energisch in das heiße Wasser krachte.
Ich schnappte mir einen Schwamm und machte mich daran, den Schmutz von den Tellern zu schrubben.
Was zum Teufel hatte er gedacht? Dass ich ihn vergessen könnte? Da hatte er sich aber gewaltig geschnitten. Das hat beim letzten Mal ja schon großartig funktioniert.
Beruhig dich. Der Teller hat dir nichts getan, mischte sich Amy ein, worauf ich ihn klirrend zurück in die Spüle fallen ließ. Mit der nassen Hand wischte ich mir über meine Stirn, ehe ich wütend mit den Füßen auf den Boden einstampfte.
,,Ahhhhh! Es kotzt mich an!'', schrie ich meinen Frust heraus und bemerkte erst zu spät den Schatten meiner Schwester neben der Tür im Flur.
Ertappt drehte ich mich um und sah Hailee dabei zu, wie sie sich mit hochgezogener Augenbraue gegen die Schläfe tippte.
,,Aber sonst geht's dir gut, oder?'', fragte sie mich mit einem belustigten Unterton in der Stimme, ehe sie sich vom Türrahmen abstieß und zu mir kam.
Frustriert schmiss ich den Lappen in das heiße Wasser und zog einen Schmollmund. Meine kleine Schwester, die seltsamerweise einen halben Kopf größer war als ich, trat neben mich und tätschelte meinen Kopf. Sie war eine grauenhafte Trösterin.
,,Wieso müssen Männer immer so kompliziert sein? Sie sagen immer, wir Frauen wären es, aber selbst sind sie solche inkompetenten Feiglinge'', rief ich und ließ all meinen Frust an meinem Fußboden aus.
Hailee zuckte mit den Schultern. Sie und Männer waren sowieso ein heikles Thema, da die meisten nach wenigen Wochen förmlich vor ihr weggerannt waren. Es war schon fast unheimlich, wie schnell sich die Männer von meiner Schwester wieder verabschiedeten. Auch, wenn sie so tat, als wäre es ihr egal, was diese Mistkerle ihr angetan hatten, wusste ich, wie sehr sie noch immer verletzt war. Vielleicht hatte sie sich deshalb in ihren Kokon zurückgezogen. Sie schützte sich selbst davor, erneut zurückgewiesen zu werden.
,,Weil Männer alle Flachzangen sind. Erst gaukeln sie dir die große Liebe vor. Du bist die Einzige für mich. Ich habe noch nie jemanden so geliebt. Ich bleibe ewig bei dir. Blah. Blah. Blah. Es ist immer die selbe Gülle. Deswegen ist es gänzlich sinnlos, sich über einen Mann aufzuregen. Vertrau mir, Schwesterherz. Männer machen nur Ärger!''
Ihre mintgrünen Augen funkelten mich verschmitzt an, ehe sie ihre unbeholfene Pranke von mir löste und sich daran machte, das Geschirr weiter zu spülen.
Doch für mich sprachen ihre Worte eine ganz andere Sprache als das, was sie beabsichtigt hatte. Auf Fremde wirkte Hailee wahrscheinlich unnahbar und kalt. Aber ich wusste, welches strahlende Licht in ihr steckte. Nur hatte niemand den Mut, dieses Licht aus hier herauszuholen, da sie es tief in sich vergraben hatte, sodass niemand in der Lage war, es zu löschen.
Ihre Worte, die nur so vor Selbstschutz strotzten und gleichzeitig den Sinn hatten, mich vor dem zu bewahren, was sie schon oft erlebt hatte, erinnerten mich an den Tag, als Hailee tränenüberströmt vor meiner Haustür aufgetaucht war.
Sie hatte am ganzen Körper gezittert und war völlig aufgelöst gewesen. Es war das erste Mal gewesen, dass ich sie seit unserer Kindheit hatte weinen gesehen. Denn normalerweise war sie eine Meisterin darin, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten. Während ich eher einem emotionalen hochexplosiven Vulkan glich, der ziemlich schnell ausbrach, war sie ein Stück Beton. Doch an diesem Abend, als sie wieder einmal von einen dieser Idioten verlassen wurde, hatte die Flut, die sich hinter ihrer Mauer angestaut hatte, ihren Weg durch die winzig kleinen Risse gefunden.
,,Wieso verlässt mich jeder Mann, wenn er mich nur ein kleines bisschen näher kennengelernt hat?'', schluchzte sie. Ihr T-Shirt war vollgetränkt mit Tränen. Ich wiegte sie in meinen Armen und bemühte mich, nicht an ihrem Schmerz zu zerbrechen.
,,Manchmal beenden Menschen Dinge, bevor sie überhaupt begonnen haben. Und das machen sie nur, weil sie Angst davor haben, sich zu öffnen und verletzt zu werden. Alles, was du tun kannst, ist ihnen alles Gute für ihr Leben zu wünschen und dich daran zu erinnern, dass ihre Ängste nichts mit dir oder deinem Wert zu tun haben.''
,,Und wenn nie jemand bei mir bleiben will?''
Es zerriss mir das Herz. Ich zog sie noch näher an mich und gab ihr einen Kuss auf ihre Schläfe.
,,Am Ende hast du immer noch mich. Ich werde an deiner Seite bleiben.''
Ich schluckte und ein Gefühl der Übelkeit stieg in mir auf. Denn in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich dieses Versprechen nicht halten können würde.
Meine Augen sammelten sich mit Tränen, die ich schnell wegblinzelte.
Jetzt war nicht die Zeit für derartige Empfindungen.
,,Hast du gehört, Sol? Kein Mann ist es wert, dass man sich über ihn aufregt.''
Ich dachte über ihre Worte nach, während sein Gesicht sich in mein Blickfeld schob.
Wie sollte ich ihr erklären, welche Gefühle dieser Mann, von dem ich sprach, in mir auslöste? Es waren gerade einmal zwei Tage vergangen, aber ich vermisste ihn, als hätte ich einen Teil von mir verloren. All diese Empfindungen waren so anders, als das, was ich bisher gespürt hatte, wenn ich einen Mann attraktiv gefunden hatte. Es war nicht vergleichbar.
Atlas. Dieser Name. Er ging mir so federleicht über die Lippen, dass ich glaubte, mein Mund hätte noch nie etwas Schöneres gesagt.
Boar, wird das jetzt unser ganzes restliches Leben so weitergehen? Ich kann dein Geschnulze echt nicht ertragen, motzte Amy und ließ die verpuffte Wut sofort wieder in mir aufkochen.
Mir passt dein Geschwafel auch nicht, also musst du wohl oder übel mit meinen Tagträumen zurechtkommen, schrie ich ihr in Gedanken entgegen.
,,Willst du da noch weiter Wurzeln schlagen oder möchtest du in deinem Schlafanzug los?'', rief Hailee, während sie mich und meinen Teddy-Schlafanzug von oben bis unten musterte.
Ich stöhnte entnervt auf und strich mir die kurzen Haarsträhnen hinters Ohr. Hailee hatte recht. Wenn ich in diesem Aufzug bei den Kindern auftauchte, würden sie mich für verrückt erklären. Oder die örtlichen Pfleger und Krankenschwestern würden mich für eine Ausgerissene aus der Psychiatrie halten. Wahrscheinlich gehörte ich da auch wirklich hin.
Zweimal im Monat gingen wir auf die Kinderstation des St. Louis Hospitals und lasen den Kindern vor, spielten mit ihnen oder führten ein kleines Puppentheaterstück auf. Besonders an Weihnachten waren die Kinder immer voller Tatendrang, wenn wir für den Weihnachtsmann einen Wunschzettel schrieben, kleine Sterne falteten oder einen Weihnachtsfilm anschauten. Für uns war es wichtig, den Kindern auf ihrem schweren Weg etwas zu geben, an dass sie sich klammern konnten. Für ihr junges Alter mussten sie schon genug erleiden. Wir versuchten ihnen an den Samstagen, ein wenig Ablenkung von ihrer Realität zu schenken.
Ergeben ließ ich die Schultern sinken.
,,Die Kinder würden es lieben'', murrte ich und ging zu meinem kleinen Kleiderschrank, der neben meinem schmalen Bett in einer Ecke Platz gefunden hatte. Ich öffnete ihn und eine Ladung farbenfroher Kleidung flog mir entgegen. Ich sollte dringend mal wieder aufräumen. Überall in der Wohnung lagen die Klamotten wild verteilt. Hailee fragte mich jedes Mal, wie ich in diesem Chaos leben konnte, doch ich fühlte mich wohl. Sie konnte das absolut nicht verstehen, da sie der Typ Mensch war, der alles bis ins kleinste Detail akkurat einsortiert haben musste. Bei ihr lag nie etwas herum. Allein, wenn ein Fotorahmen nicht hundertprozentig gerade saß, bekam sie Zustände. In dieser Hinsicht waren wir wirklich wie Tag und Nacht. Chaos und Ordnung.
,,Das habe ich auch nie bezweifelt'', rief Hailee belustigt aus der Küche. Natürlich hatte sie das nicht. Diese kleine Schlange würde mich auch der breiten Öffentlichkeit ausliefern, wenn sie könnte. Hauptsache sie hatte Spaß.
Schnell zog ich eine Hose aus dem Kleiderhaufen und schlüpfte in meine Lieblingsjeans, die sich weich an meine Beine schmiegte. Darüber zog ich einen weißen Strickpullover, der mir locker um Brust und Bauch saß. Ich mochte keine Figurbetonten Oberteile. Zumindest nicht mehr.
Du solltest deine Kleiderwahl nicht von diesem Ekel abhängig machen, warf Amy ein und das erste Mal empfand ich so etwas wie Sympathie für dieses Ding. Sie hatte recht und doch hatte ich noch immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich an Jimmys anzügliche Blicke dachte. Atlas hatte mich nie auf diese Weise angesehen.
Atlas...
Mein Blick verschwamm, als ich mir meinen blauen Mantel umlegte und mich unbewusst in den weichen Stoff kuschelte. Ob wir uns jemals wiedersehen würden?
,,Bist du fertig? Wir müssen noch mal in den Supermarkt, ehe wir ins Krankenhaus fahren.''
Ertappt blinzelte ich die aufkommenden Tränen beiseite und zog den Mantel enger um meinen Körper. Als würde er annähernd die Wärme in sich bergen, die Atlas in sich trug.
Ich dachte, wir sind böse auf ihn?
Das sind wir und er kann was erleben, wenn wir uns das nächste Mal begegnen, aber..., ach es ist nicht so einfach, antwortete ich Amy.
,,Erde an Sol. Kommst du?'', rief Hailee und fuchtelte mir mit der Hand vor dem Gesicht.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie in mein Sichtfeld getreten war.
,,Wir können los'', antwortete ich ihr noch immer ein wenig aufgelöst. Hailee zog die Stirn in Falten und musterte mich mit einem prüfenden Blick.
,,Irgendwas stimmt mit dir in letzter Zeit nicht. Wo ist mein freudiger Fruchtzwerg hin, der bunte Farben pupst und die Welt mit seinem penetranten Lächeln beglückt?''
,,Ich pupse doch keine Farben'', wich ich der Ernsthaftigkeit hinter ihre Frage aus und stieß sie an der Schulter an, ehe ich auf meine Haustür zusteuerte, um der Situation zu entfliehen. Ich konnte ihr nichts sagen. Noch nicht. Es war okay. Sie würde es verstehen.
,,Und ob. Die bunten sind die besonders gefährlichen'', schrie sie mir hinterher, während sie sich ihre Sneaker über die Füße strich. Ich musste lächeln, da unsere Gespräche in den meisten Fällen einen seltsamen Verlauf nahmen. Ich hatte in all den Jahren noch nicht herausgefunden, ob es an Hailee oder an mir lag. Wahrscheinlich waren wir beide nicht ganz dicht.
Eine halbe Stunde später steuerten wir unseren Einkaufswagen durch die großen Gänge des Supermarktes. Hailee schaute sich in dem großen Laden, in dem man locker mehrere Stunden verbringen konnte, hilflos um. Entnervt pustete sie sich eine dunkelbraune Haarsträhne, die sich aus ihrem hohen Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht und steckte sie hinter ihr Ohr. Ihrem frustrierten Blick nach zu urteilen, würde das eine explosive Angelegenheit werden. Hailee war nicht gerade für ihre Geduld bekannt.
,,Ich würde vorschlagen, wir trennen uns und treffen uns in zehn Minuten wieder hier. Sicherlich werde ich keine Stunden damit verbringen, hier herumzuirren. Wer zum Teufel braucht einen Supermarkt, der die Fläche von drei Fußballfeldern hat?'', brummte Hailee und machte eine ausschweifende Handbewegung, sodass sie meinen Kopf nur knapp verfehlte.
,,Gut. Versuch nicht, dich wieder zu verirren. Letztens habe ich dich über zwanzig Minuten gesucht.'' Hailee verdrehte nur die Augen und wandte sich wortlos um.
Auch ich machte mich in Richtung der Süßigkeitenregale auf. Vorbei an der Getränkeabteilung kam ich schließlich an meinem Ziel an. Insgesamt drei Gänge mit sechs langen Regalen waren gefüllt mit einer Vielzahl unterschiedlicher Süßspeisen aus aller Welt. Sofort bog ich in die Gummibärenabteilung und scannte mit meinen Augen die Auswahl ab.
Welche sollte ich nehmen?
Scotti liebte besonders die Haribo Goldbeeren und Lia war verrückt nach den sauren Schlangen. Oder doch lieber die bunte Partymischung?
Ich zog meine Stirn in Falten und hielt die drei Packungen in meinen Händen prüfend vor mein Gesicht. Ob ich einfach alle mitnehme?
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich den großen Schatten, der hinter mir wie aus dem Nichts aufgetaucht war, erst bemerkte, als es zu spät war.
,,Sind die alle für dich?''
Einen erstickten Schrei später und mit dem Ergebnis, das die Gummibärchenpackungen in hohem Bogen auf dem Boden gelandet waren, starrte ich Atlas entsetzt an. Dieser stand locker mit den Händen in den Jackentaschen inmitten des leeren Flures und musterte mich interessiert. Eine silberne Strähne hing ihm in der Stirn, doch ich widerstand dem Drang, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen.
Ich schluckte hart.
Eins.
Zwei.
Drei.
Kräftig atmete ich ein, während der vernünftige Teil, der tatsächlich noch in mir zu existieren schien, verrückt spielte.
Du spinnst, Sol. Du wirst dich nicht mit einem Mann unterhalten, der sich vor deinen Augen in Nebel aufgelöst hat. Untersteh dich.
Doch ich konnte meinen Gefühlsausbruch nicht mehr kontrollieren.
,,Du!'' Mein Finger bohrte sich in seine Brust. ,,Wie konntest du mich nur auf offener Straße zurücklassen?!'', schrie ich ihm entgegen und blähte meine Wangen auf. Die Wut kochte in meinem Bauch.
Woher ich den Mut hatte, ihn so anzugehen? Ich hatte keine Ahnung. Atlas machte mich aus irgendeinem Grund wahnsinnig. Ich war nie ausfällig gewesen. Und nun schien ich förmlich zu explodieren. Warum reagierte ich so stark auf ihn?
Abwehrend hob er die Hände und trat einen großen Schritt zurück, um sich vor mir in Sicherheit zu bringen.
,,Das habe ich nicht. Wer glaubst du, hat dich nach Hause gebracht?''
Er setzte eine Unschuldsmine auf, doch die kaufte ich ihm nicht ab.
,,Du warst in meiner Wohnung?'', rief ich aufgebracht und riss die Augen auf, während ich mich daran erinnerte, in welchem Zustand ich sie an diesem Tag verlassen hatte. Mein Kopf fing Feuer.
Verlegen kratzte er sich am Hals und wich meinem Blick aus.
,,Es war nicht zu vermeiden.''
,,Ach, nein? Wie wäre es gewesen, wenn dein dämlicher Nebel mich nicht bewusstlos gemacht hätte?''
,,Du erinnerst dich also an alles?'' Der Unglaube in seiner Stimme war nicht zu überhören.
,,Deine Zaubertricks funktionieren bei mir nicht. Du kannst vielleicht andere Menschen in die Irre führen, aber mich nicht. Und überhaupt. Was fällt dir ein, meine Erinnerung löschen zu wollen?''
,,Zaubertricks? So nennst du das? Wie süß.'' Er schmunzelte und ich schmolz dahin.
Stopp! Erde an Sol. Lass dich nicht von diesem dämlich süßen Grinsen ablenken.
,,Ich bin nicht süß!'', schrie ich aufgebracht und bohrte ihn abermals meine Finger in die Brust.
,,Hat dir schon mal jemand gesagt, wie niedlich du bist, wenn du dich aufregst?'', zog er mich weiter auf. Oh...dieser eingebildete Fatzke.
,,Hör auf vom Thema abzulenken. Warum bist du hier? Ich dachte, ich soll dich vergessen? Wie soll das funktionieren, wenn du immer wieder wie ein Geist vor mir auftauchst? Warte. Du bist doch kein böser Geist, der mich heimsucht, oder?''
Ich lehnte mich zu ihm und nahm ihn genauer unter die Lupe. Seine Haut war blass, wirkte aber dennoch gesund und nicht ausgemergelt. Seine Augen wirkten aufgrund seiner ausgewöhnlichen Farbe zwar unnatürlich auf mich, doch sie sahen nicht tot aus. Sie hatten noch diesen gewissen Funken in sich. Ich hatte mir einen Toten immer mit leeren Augen vorgestellt. Hinzu kam, dass ich nicht durch ihn hindurchgreifen konnte. Zur Bestätigung stupste ich ihn an seine Wange. Seine Haut war eiskalt, aber es fühlte sich ganz deutlich nach menschlicher Haut an. Zwar zeichneten sich dunkle Schatten unter seinen Augen, die in einem bestimmten Licht in einem dunklen Blau schimmerten, doch es tat seiner Attraktivität absolut nichts ab.
Wir wollten herausfinden, ob er ein Geist ist, nicht ob er gutaussehend ist, stöhnte Amy entnervt.
Seine Augen leuchteten belustigt auf. Er schnaubte und schüttelte über meine Frage lächelnd den Kopf.
,,Fast. Ich schätze, das liegt für euch Menschen am nächsten. Aber du hast recht. Ich hatte zu dir gesagt, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir uns sehen. Das habe ich ernst gemeint. Ich wollte nur noch einmal etwas überprüfen. Warum auch immer, aber mein Nebel scheint bei dir tatsächlich nicht zu funktionieren.''
Seine Augen verhakten sich mit meinen und ließen mich ins Bodenlose fallen. Ich schluckte hart und war unfähig, mich zu bewegen.
,,Und das ist schlecht?'', fragte ich mit piepsiger Stimme.
Er trat einen Schritt auf mich zu, sodass wir nur noch wenige Zentimeter voneinander getrennt waren. Ich spürte seinen feuchten Atem auf meinen Lippen. Ich sehnte mich danach, die Distanz zwischen uns zu überwinden. Augenblicklich fühlte ich mich zurückversetzt an den Abend auf dem Fußgängerüberweg.
,,Das ist sehr schlecht, Sol'', betonte er jedes Wort mit einem scharfen Unterton, nur mein Name schien ihm federleicht über die Lippen zu kommen. Wieder bekam ich eine Gänsehaut von seiner rauen Stimme, von der ich nicht genug bekommen konnte.
Würg, wo ist mein Eimer, schrie Amy panisch, während sie wild durch meinen Kopf geisterte.
Als er sich noch weiter zu mir beugte und seine fast grauen Haare meine Wange kitzelten, stellten sich meine Nackenhaare kerzengerade auf.
Es war offiziell. Ich war eindeutig wahnsinnig. Jetzt redete ich schon mit jemanden, aus dessen Hände Nebel kam und der eindeutig nicht ganz dicht war. Davon mal abgesehen, dass er die Zeit anhalten und sich teleportieren konnte. Genau. DAS ist die absolute Spitze.
Vielleicht bildete ich mir ihn ja doch nur ein?
Er war mir noch immer so nah. ,,Ich werde herausfinden, warum du mich sehen und berühren kannst. Danach können wir beide wieder getrennte Wege gehen, so wie es sein sollte'', raunte er in mein Ohr, sodass ich eine Gänsehaut bekam.
Sofort riss ich die Augen auf. ,,Du gehst?'' Ich konnte das schwache Wimmern in meiner Stimme nicht unterdrücken. Es versetzte mir einen Stich, dass er anscheinend nicht in meiner Nähe sein wollte.
,,Es ist zu deinem Besten.''
Er löste sich von mir und brachte wieder einen gebührenden Abstand zwischen uns. Seine Lippen, die gerade noch gelächelt hatten, waren nun zu einer harten Linie verzogen. Da war er wieder – der eiskalte Kotzbrocken. Wieso bildete er sich die ganze Zeit ein, dass er wüsste, was das Beste für mich war?
,,Bitte. Geh nicht'', flehte ich ihn an und streckte meine Hand nach ihm aus. Wie lächerlich und mitleidserregend ich war. Doch ich konnte mich nicht gegen diesen Sog wehren, der mich in diesem Moment ergriff.
Plötzlich vernahm ich am Ende des Ganges Hailees Stimme. ,,Mit wem redest du da?'' Erschrocken drehte ich mich um und starrte in ihr vor Fragezeichen blinkendes Gesicht. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt.
,,Na mit...''
Ich zeigte auf Atlas, der sich noch vor wenigen Sekunden neben mir befunden hatte, aber nun spurlos verschwunden war. Wie als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.
Sprachlos riss ich den Mund auf. Dieser Mistkerl. Er hatte es schon wieder getan. Er hatte sich in seinem verdammten Nebel aufgelöst.
,,Geht es dir wirklich gut, Sol?'' Mit vorsichtigen Schritten kam Hailee auf mich zu und legte ihre Hand an meine Stirn, als hätte ich Fieber.
Sanft strich ich ihre Hand von mir und stöhnte.
,,Hast du ihn denn nicht gesehen?''
Sie schüttelte mit dem Kopf. ,,Da war niemand. Ich stand schon über eine Minute am Ende des Gangs und habe dich gerufen.''
Was?
Dann musste sie Atlas doch gesehen haben. Er war hier. Ganz sicher. Er war...
,,Es sah so aus, als würdest du mit dir selbst diskutieren. War ziemlich schräg. Du verrücktes Huhn warst eben schon immer anders.'' Sie kam auf mich zu und strupelte mir durch die offenen Haare. Doch ich konnte ihr Lächeln nicht erwidern.
Mir wurde speiübel.
Eine neue Welle der Angst ergriff mich, als ich auf den leeren Fleck starrte, wo er noch vor wenigen Minuten direkt neben mir gestanden hatte.
Hatte ich mir all das doch eingebildet?
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